Skalpell No 5
Roman
Manny, junge, ehrgeizige Anwältin und Modepüppchen, ist nicht gut auf den Rechtsmediziner Rosen zu sprechen. Er hat ihr ihren ersten Fall "vermasselt". Doch das Verbrechen zwingt sie, mit dem graumelierten Pathologen zusammenzuarbeiten. Denn seltsame...
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Produktinformationen zu „Skalpell No 5 “
Manny, junge, ehrgeizige Anwältin und Modepüppchen, ist nicht gut auf den Rechtsmediziner Rosen zu sprechen. Er hat ihr ihren ersten Fall "vermasselt". Doch das Verbrechen zwingt sie, mit dem graumelierten Pathologen zusammenzuarbeiten. Denn seltsame Funde von Menschenknochen in einer Baugrube fordern neue Tote.
Zunächst verbinden "Manny" Manfreda, junge Anwältin und Prada-Maniac, und Dr. Jake Rosen, graumelierter morbider Rechtsmediziner, nur Workaholismus und Hassliebe auf den ersten Blick. Auf der Spur eines haarsträubenden Verbrechens finden sich die beiden plötzlich als Ermittlerduo wieder. Mit diesem Debütthriller sorgte das profilierte Experten- und Ehepaar Baden und Kenney für Furore in den USA - ein Serienauftakt, der jenen von Kathy Reichs oder Patricia Cornwell in nichts nachsteht.
Lese-Probe zu „Skalpell No 5 “
Es gab viele Dinge, die ihr auf die Nerven gingen: Menschengedränge, Schlange stehen, billige Schuhe, Anwälte ohne Moral - aber verspätet bei Gericht zu erscheinen stand ganz oben auf der Liste. Manny hasste es, sie hasste es aus tiefstem Herzen.Wenn sie manchmal ins Gerichtsgebäude kam und aussah, als wäre sie gerade einem Irrenhaus entsprungen, nahm sie sich immer noch Zeit, sich wieder in Fasson zu bringen. Niemals würde sie vor einem Richter erscheinen, wenn sie nicht aussah wie die Coolness in Person. Nach einer Stippvisite auf der Damentoilette war ihr Make-up dann wieder makellos und jede einzelne Strähne ihres flammend roten Haars da, wo sie hingehörte; die Naht ihrer hauchdünnen Strümpfe führte kerzengerade hinunter zu den neusten Vecchio-Stilettos; ihre Unterlagen waren geordnet, ihre Argumente geschliffen und bereit zum Angriff. Und sie trug stets in beiden Ohren einen Ohrring. Sie glaubte fest daran, dass eine gepflegte Erscheinung von einem gut sortierten Geist zeugte.
Aber heute waren Pünktlichkeit und makellose Erscheinung vielleicht ein Ding der Unmöglichkeit. Nein, an diesem unerwartet schwülen ersten Donnerstag im September war Manny spät dran, und sie war völlig derangiert.
Es war wirklich nicht ihre Schuld. Ihr Sportwagen hätte anspringen sollen, auch wenn sie die Schminkspiegelbeleuchtung die ganze Nacht hatte brennen lassen; ein freies Taxi hätte vor ihrem Büro verfügbar sein sollen, auch wenn Rushhour war. Die anderen Passagiere im überfüllten Pendlerzug hätten ihr mehr Platz lassen sollen, auch wenn kein Quadratzentimeter mehr frei war und der Mann hinter ihr anscheinend Gefallen daran fand, sich gegen ihren Allerwertesten zu drücken. Als der Zug aus unerfindlichen Gründen kurz vor ihrer Haltestelle stoppte und zehn Minuten im Tunnel stehen blieb, als sie merkte, dass sie irgendwo einen Ohrring verloren hatte, als der Zug endlich mit einem Ruck wieder anfuhr und der Mann ihr auf den Schuh trat - kein Wunder, dass sie da verschwitzt,
... mehr
aufgebracht und stinksauer war, als sie in Newark ankam. Nicht gerade die beste Gemütsverfassung, um einen hochkarätigen Bürgerrechtsfall vor einem Geschworenengericht und einem Bundesrichter zu verhandeln, einen Fall, der ihr am Herzen lag und den sie unbedingt gewinnen wollte.
Manny hatte etwas dagegen, wenn Menschen ungerecht behandelt wurden, so einfach war das. Diese Überzeugung hatte sich bei ihr schon früh herausgebildet. Als Teenager hatten sich Manny und ihre beste Freundin Leigh einmal für einen Ferienjob in einem neuen Donut-Laden auf der Main Street beworben. Manny wurde angenommen. Nicht jedoch Leigh, die schwarz war. Ungerechtigkeit!, schrie Mannys Seele. Sie schwor, sie würde kämpfen, und wie sie kämpfte. Sie organisierte einen Boykott des Restaurants, eine Demo mit Plakaten, auf denen den Betreibern rassistische Einstellungspraktiken vorgeworfen wurden, und sie schaffte es, dass das Lokalfernsehen einen Beitrag in den Abendnachrichten brachte. Und sie bekam einen besseren Job. Der Leiter des örtlichen Gemeindezentrums, der von Mannys resoluten Aktionen beeindruckt war, gab den beiden einen Job in der Beratungsstelle.
Inzwischen, fünf Jahre nach Abschluss ihres Jurastudiums, hatte Manny sich ihren Ruf als hartnäckige Kämpferin für die Underdogs verdient. Sie hatte gesellschaftlich Benachteiligte und Entrechtete erfolgreich vor Gericht vertreten, Mandanten also, die bei piekfeinen Kanzleien keine Chance hätten. Anwälte, die Anzüge von Brooks Brothers und Klubkrawatten trugen, fanden keinen Zugang zu Mandanten in ausgebeulten Jeans und mit Tattoos und Piercings, Manny dagegen hatte ein Händchen für solche Leute, auch wenn sie selbst Dolce & Gabbana und Versace trug. Außerdem konnten Mannys Mandanten es sich nicht leisten, 600 Dollar die Stunde zu zahlen. Oft zahlten sie nur wenig oder gar nichts. Falls sie gewann, kassierte sie einen prozentualen Anteil an der erstrittenen Entschädigungssumme.
Auch heute war Manny wieder bereit, auf den Putz zu hauen, diesmal für die Eltern von Esmeralda Carramia, die bei einem Polizeieinsatz ums Leben gekommen war. Während sie darauf wartete, durch die Metalldetektoren gelassen zu werden, gewann sie ihre Fassung wieder. Sie hatte bis zum Beginn der Verhandlung noch genug Zeit, sich frisch zu machen - zwar keine zehn Minuten, aber das reichte. Sie war bereit. Sie kannte den Fall in- und auswendig, hatte sich die Fakten so gründlich eingeprägt, als wäre sie selbst am Tatort gewesen. Die Ereignisse, um die es beim Fall Esmeralda Carramia ging, hatten sich innerhalb weniger Minuten abgespielt, aber das bisschen Zeit hatte genügt, um einer ganzen Familie das Herz zu brechen, eine Stadt zu spalten und der zuständigen Polizei den Vorwurf des Rassismus und der Brutalität einzuhandeln.
Newark, New Jersey, 25. November 2003. Esmeralda Carramia betritt Steinless, das letzte Kaufhaus in der Innenstadt. Sie braucht ein Geburtstagsgeschenk für ihre Großmutter. Esmeralda, Essie, wie ihre Großmutter sie liebevoll nannte, ist die Tochter von Emigranten aus der Dominikanischen Republik, die erst kürzlich von Miami nach Newark gezogen sind. Der Verkäufer, ein Weißer, übersieht sie geflissentlich. Dann beschuldigt er Essie, einen 49 Dollar teuren Seidenschal gestohlen zu haben. Essie streitet das ab. Die beiden werden laut. Der Sicherheitsdienst wird gerufen. Wenige Minuten später kommt die Polizei. Essies Einkaufstasche wird durchsucht; man findet einen Schal, an dem noch das Preisschild hängt. Sie sagt, der Verkäufer habe ihr den untergeschoben, schwört es bei der Heiligen Jungfrau von Guadeloupe. Keiner glaubt ihr. Die Polizei führt sie nach draußen, um sie mit auf die Wache zu nehmen. Essie leistet Widerstand. Sie schlägt um sich. Ihre Eltern sagen später aus, dass das völlig untypisch für sie ist. In dem Durcheinander bekommt ein Officer ein Knie in den Schritt gerammt; ein anderer holt sich eine blutige Nase. Verstärkung trifft ein. Mittlerweile sind sechs Polizisten vor Ort, von denen keiner unter 70 Kilo auf die Waage bringt. Essie ist 1,57 Meter groß und wiegt keine 48 Kilo.
Später kann keiner mehr sagen, wer dafür verantwortlich war, dass sie mit dem Kopf aufs Pflaster schlug. Als die Polizisten sie in den Streifenwagen verfrachten, merken sie, dass das Mädchen bewusstlos ist. Im Krankenhaus wird Esmeralda Carramia für hirntot erklärt. Sie ist neunzehn Jahre alt.
Ungerechtigkeit!
Manny hatte den Fall zwei Monate später angenommen, als Esmeraldas Eltern, bewaffnet mit Kinderfotos und gerechtem Zorn, bei ihr in der Kanzlei erschienen waren. Sie waren nach Amerika gekommen, um ein besseres Leben zu haben, sagten sie, und die Menschen, die Essie eigentlich hätten beschützen sollen, hatten sie stattdessen ermordet. Das da war ein Bild von Essie ganz in Weiß am Tag ihrer Erstkommunion, und da, in einem weißen Rüschenkleid für ihre Quinceañera. Und, falls Manny noch immer nicht überzeugt war, hier hatten sie die kleine Amaryllis auf dem Schoß - ihre einjährige Enkelin, Essies Tochter -, die nun ohne Mutter aufwachsen würde.
Obwohl kein Geld der Welt ihnen ihre Tochter zurückgeben konnte, sollten wenigstens die Leute, die sie auf dem Gewissen hatten, bezahlen.
Manny hatte sich mit ihrem üblichen Eifer ans Werk gemacht. Sie hatte die Cops, die Zeugen und die Mitarbeiter des Kaufhauses befragt. Die Fakten standen außer Frage: Esmeralda hatte sich gewehrt, war gestürzt und gestorben. Ihr forensischer Pathologe war mit dem staatlichen Gerichtsmediziner einer Meinung, was die Todesursache betraf: ein Schlag auf den Kopf, der eine subdurale Blutung ausgelöst hatte.
Essies Eltern und ihre Großmutter hatten klare und wortgewandte Aussagen abgegeben. Ihre Essie sei ein gutes Mädchen gewesen, fromm, habe nie etwas Böses getan, schon gar nicht gestohlen. Als Manny den Beweisvortrag abgeschlossen hatte, wusste sie, dass die Sympathien der Geschworenen ihren Mandanten gehörten. Sollte der gegnerische Anwalt ruhig versuchen, die Handlungsweise der Cops zu rechtfertigen. Sie würde alles, was die gegnerische Seite sagte, in ihrem Schlussplädoyer verwenden, um sie restlos auseinanderzunehmen.
Als Manny durch den Metalldetektor ging, gellte ein Alarmton. Der Polizeibeamte führte eine Handsonde an ihrem Körper nach unten und stoppte bei ihren Schuhen: italienisches Design, tiefschwarze Pumps von d'Orsay. "Sie sollen so was doch nicht mehr tragen, Ms. M", sagte er. "Ich hab Ihnen schon hundertmal gesagt, dass die Metall im Absatz haben."
"Das hält Sie auf Trab", sagte Manny kokett. "Außerdem passen sie zu meinem Outfit." Sie ging quer über den grün-weißen Marmorboden der imposanten Rotunde des Gerichtsgebäudes und strebte nach oben zur Damentoilette.
Manny brachte ihr Make-up in Ordnung, steckte das Haar hoch und glättete den Blazer und Rock ihres glänzend blauen Kostüms mit dem Leopardenfellfutter. Das Kostüm betonte die Farbe ihrer stahlblauen Augen, und der V-Ausschnitt der passenden Seidenbluse war tief genug, um den männlichen Geschworenen ein kleines Glücksgefühl zu bescheren. Gar nicht schlecht, dachte sie, während sie sich prüfend im Spiegel betrachtete. Und der Ein-Ohrring-Look kann noch als modisch ausgefallen durchgehen.
Mit ihren neunundzwanzig Jahren wusste sie, dass manche Kollegen meinten, sie trüge Stilettos und knallige Farben, um aufzufallen - aber das stimmte nicht ganz. Ihre Garderobe war eine Art Rüstung, ein Talisman. Sie verkündete der Welt, dass Manny eine Frau war, die kühne Entscheidungen traf, selbstbewusst war und sich in ihrer Haut wohl fühlte. Kleidung zeigt nicht nur, wer du bist, sie zeigt auch, wer du sein möchtest. Als sie Prozessanwältin wurde, tat ihr diese Überzeugung gute Dienste. Sie wusste instinktiv, dass Geschworene eher einer Anwältin Glauben schenkten, die gut gekleidet und mit schicken Accessoires auftrat, als einer Frau, die versuchte, möglichst männlich zu wirken, mit Krawatte, langweiligen Halbschuhen und formlosem Kostüm. Ihre Eltern hatten ihr beigebracht, immer die besten Klamotten zu kaufen, die sie sich leisten konnte, selbst wenn dann zum Abendessen nur noch Bohnensuppe drin war. Auch heute noch gab es abends häufig Suppe, aber sie aß sie, wenn sie allein war, in einem Bademantel von Ralph Lauren. Ihre Familie war stolz auf sie. Und shoppen machte ihr Spaß, vor allem die Jagd auf Schnäppchen. Das war ihr größtes Hobby.
Sie musterte sich ein letztes Mal im Spiegel, registrierte ihre Schwachpunkte - dank ihres gesunden Appetits und ihrer Vorliebe für Wein sowie ihrer Körpergröße von eins zweiundsiebzig trug sie Kleidergröße 40 statt der 38, von der sie träumte; außerdem hatte sie auf dem Nasenrücken eine kleine Unebenheit, ein Erbe ihres Vaters, für deren operative Entfernung ihr bis jetzt der Mut gefehlt hatte -, war aber doch einigermaßen zufrieden. Ihre Wangenknochen waren schön - die hatte sie von ihrer Mutter. Das Feuer in ihren Augen, die Kampfeslust, stammte nur von ihr.
Wer sie nicht kannte und im Gerichtssaal sah, konnte sie leicht für eine Mandantin halten - noch so eine Schickimickitussi -, eine Lady, die täglich eine Verabredung zum Lunch hatte. Ein gegnerischer Anwalt behandelte sie vielleicht wie eine Sexpuppe, die mit einem ihrer Seniorpartner ins Bett ging - aber nur, bis sie ihr Beweismaterial vortrug.
Manny hatte innen in ihrem Blazer ein kleines rotes Stück Stoff als Glücksbringer festgesteckt, wie sie es von ihrer Großmutter gelernt hatte, nur für alle Fälle. Sie wollte kein Risiko eingehen; niemand würde ihr den bösen Blick zuwerfen, nicht heute. Sie musste gewinnen.
Sie betrat den Gerichtssaal - einen beeindruckenden Raum mit roten Velourssesseln für die Geschworenen und blauem Teppichboden - und nahm ihren Platz an dem wuchtigen Eichentisch der klägerischen Partei ein. Zwei Minuten später war die Sitzung eröffnet.
"Die Verteidigung ruft Dr. Jacob Rosen in den Zeugenstand."
Jake Rosen. Vielleicht war sie ja seinetwegen so nervös. Sie hatte ihn im letzten März kennengelernt, als sie für den Fall Jose Terrell eine zweite Obduktion gebraucht hatte und ihn per Hubschrauber zu einem Landeplatz in New Jersey ganz in der Nähe der Leichenhalle hatte fliegen lassen - aus eigener Tasche bezahlt! -, damit er bestätigen konnte, dass die Polizeikugeln, die Terrell getötet hatten, in dem Moment abgefeuert worden waren, als er schon die Hände erhoben hatte, um sich zu ergeben.
Rosen war aus dem Hubschrauber gehüpft wie ein modisch zurückgebliebener Frankenstein, die Haare zerzaust wie in dem Klischee vom wahnsinnigen Wissenschaftler. Sein Haar war lang und voll, braun mit ein paar grauen Strähnen durchsetzt, und sie hatte den lächerlichen Impuls gehabt, es ihm zu kämmen, nur um es unter den Fingern zu spüren. Er trug einen zusammengelegten Regenmantel über einer abgegriffenen schwarzen Aktentasche, die so vollgestopft mit Unterlagen war, dass er den Verschluss nicht mehr zubekam, aber er war ungeheuer professionell. Seine Untersuchungsergebnisse waren derart überzeugend, dass sich der Detective, der die Schüsse abgegeben hatte, auf einen Vergleich einließ, die Stadt der Mutter des Jungen Schmerzensgeld zahlte und der Fall nie vor Gericht kam.
Und jetzt, sechs Monate später, war Rosen hier und sagte für die Verteidigung aus. Manny wusste, dass unabhängige Sachverständige für jeden arbeiten konnten, aber sie fühlte sich trotzdem hintergangen. Er war so geduldig mit ihr gewesen, so kooperativ. Sie hatte das Gefühl gehabt, dass er über den ersten, offensichtlich manipulierten gerichtsmedizinischen Bericht im Terrell-Fall ebenso empört war wie sie. Damals schien ihm die Wahrheit am Herzen zu liegen; jetzt wusste sie, dass seine Aussage an den Höchstbietenden verkauft werden konnte.
Manny blickte kaum auf, als er hereinkam. Sie wusste, was er sagen würde, aber ihr eigener forensischer Experte hatte ihr versichert, dass sein Gutachten Blödsinn war. Zugegeben, sie hatte ihn kurzfristig - einen Moment lang - attraktiv gefunden. Na und? Jetzt wusste sie, dass er der leibhaftige Judas war.
Als er nun zum Zeugenstand ging, sah er bloß noch aus wie ein überbezahlter Schlaukopf aus einem schlechten Film, den die Cops aus dem Ärmel gezaubert hatten, damit er ihr Fehlverhalten schönredete. Manny wusste, dass er erst vierundvierzig war, aber im Licht des Gerichtssaals wirkte er älter. Und er hätte einen Pilates-Kurs für Körperhaltung gebrauchen können, um was gegen seine Hängeschultern zu tun. Er trug einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und eine dünne schwarze Krawatte. Ohne die Frisur des wahnsinnigen Wissenschaftlers und mit Gel in den Haaren hätte er ausgesehen wie ein in die Jahre gekommener britischer Punkrocker. Seit ihrer letzten Begegnung hatte er sich einen Schnurrbart wachsen lassen. Gesichtsbehaarung aus den Siebzigern, Kleidung aus den Achtzigern. Was hatte der Mann für ein Problem? Hatte ihm noch keiner verraten, dass er im einundzwanzigsten Jahrhundert lebte?
Im Zeugenstand untermauerte Rosen seine Ansicht, dass die Polizei durchaus schuldlos sein könnte, indem er auf ein Berry-Aneurysma im Gehirn verwies. Schuldlos! "Fassen wir also zusammen", sagte der Anwalt, "Ihrer sachverständigen Meinung nach wurde Miss Carramias Tod nicht durch irgendwelche Handlungen seitens der Polizeibeamten herbeigeführt."
"Das ist richtig", sagte Rosen und wandte sich den Geschworenen zu. "Meiner Meinung nach ist mit ziemlich großer medizinischer Gewissheit von einer natürlichen Todesursache auszugehen."
Ja klar. Der Bürgersteig ist plötzlich hochgeklappt und hat Esmeralda den Schädel eingeschlagen.
"Danke für Ihre Offenheit, Dr. Rosen." Der Verteidiger bedachte die Geschworenen mit seinem widerwärtig süßlichen Lächeln. "Keine weiteren Fragen."
Manny erhob sich von ihrem Stuhl und ging auf den Zeugen zu. Sie würde ihm den Kopf abreißen und den Hunden zum Fraß vorwerfen.
"Dr. Rosen, wie viel bezahlt man Ihnen für Ihre heutige Aussage?"
"Mein Honorar beträgt fünftausend Dollar - für meinen Zeitaufwand, nicht für meine Aussage."
Manny hob verächtlich eine Augenbraue. "Pro Tag?"
"Ja."
Ihr hatte er im März für die zweite Obduktion nicht so viel abgeknöpft. Vielleicht hätte sie ihn für Essies Eltern anheuern können, wenn sie mehr geboten hätte als die Verteidigung.
"Verstehe", sagte sie. "Sie arbeiten für die Stadt New York, richtig?"
"Ich bin stellvertretender Leiter der Gerichtsmedizin. Aber in diesem Fall sage ich in meiner Eigenschaft als Arzt und forensischer Pathologe aus."
Blut verdunkelte das Wasser, und sie war der Hai. "Ist es bei Ihrer Tätigkeit für die Stadt nicht wichtig, ein gutes Verhältnis zur Polizei zu haben?"
Er schlug die Beine übereinander, schien ungerührt. Manny bemerkte, dass sein Jackett geflickt war. Fünftausend am Tag und nicht mal Geld für einen neuen Anzug? Versager.
"Natürlich", sagte er, "aber das beeinflusst nicht meine Meinung als Sachverständiger."
"Kennen Sie Dr. Justin West, den Gerichtsmediziner für den Staat New Jersey, und Dr. Sanjay Sumet, den forensischen Pathologen, der in diesem Fall für den Kläger ausgesagt hat?"
"Selbstverständlich. Beides ehrbare Männer und geschätzte Kollegen."
"Dr. West und Dr. Sumet sind übereinstimmend zu der Erkenntnis gelangt, dass Miss Carramia an den Folgen eines Schlages auf den Kopf gestorben ist. Sie hingegen behaupten, sie sei eines natürlichen Todes gestorben - an einem Hirnaneurysma. Ist das richtig?"
"Ja. Wie ich soeben gesagt habe, ein geplatztes Berry-Aneurysma." Rosen lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, der unter seinem Gewicht knarrte. Der Zeugenstand war nicht dafür geschaffen, so langen Beinen Platz zu bieten. Manny hoffte, dass er sich mit seinen Lügen genauso unwohl fühlte wie mit seinem Körper. Aber seiner Stimme war keine Anspannung anzumerken. "Meine Meinung basiert auf dem von mir gesichteten Material: dem Obduktionsbericht, den Zeugenaussagen und meiner Sektion des Gehirns, das von der Gerichtsmedizin aufbewahrt worden war."
"Aber in Miss Carramias ärztlichen Unterlagen deutet nichts darauf hin, dass sie an dieser Krankheit litt."
Rosen wandte sich an den Richter: "Ist das eine Frage?"Selbstgefälliger Schnösel.
Manny hatte etwas dagegen, wenn Menschen ungerecht behandelt wurden, so einfach war das. Diese Überzeugung hatte sich bei ihr schon früh herausgebildet. Als Teenager hatten sich Manny und ihre beste Freundin Leigh einmal für einen Ferienjob in einem neuen Donut-Laden auf der Main Street beworben. Manny wurde angenommen. Nicht jedoch Leigh, die schwarz war. Ungerechtigkeit!, schrie Mannys Seele. Sie schwor, sie würde kämpfen, und wie sie kämpfte. Sie organisierte einen Boykott des Restaurants, eine Demo mit Plakaten, auf denen den Betreibern rassistische Einstellungspraktiken vorgeworfen wurden, und sie schaffte es, dass das Lokalfernsehen einen Beitrag in den Abendnachrichten brachte. Und sie bekam einen besseren Job. Der Leiter des örtlichen Gemeindezentrums, der von Mannys resoluten Aktionen beeindruckt war, gab den beiden einen Job in der Beratungsstelle.
Inzwischen, fünf Jahre nach Abschluss ihres Jurastudiums, hatte Manny sich ihren Ruf als hartnäckige Kämpferin für die Underdogs verdient. Sie hatte gesellschaftlich Benachteiligte und Entrechtete erfolgreich vor Gericht vertreten, Mandanten also, die bei piekfeinen Kanzleien keine Chance hätten. Anwälte, die Anzüge von Brooks Brothers und Klubkrawatten trugen, fanden keinen Zugang zu Mandanten in ausgebeulten Jeans und mit Tattoos und Piercings, Manny dagegen hatte ein Händchen für solche Leute, auch wenn sie selbst Dolce & Gabbana und Versace trug. Außerdem konnten Mannys Mandanten es sich nicht leisten, 600 Dollar die Stunde zu zahlen. Oft zahlten sie nur wenig oder gar nichts. Falls sie gewann, kassierte sie einen prozentualen Anteil an der erstrittenen Entschädigungssumme.
Auch heute war Manny wieder bereit, auf den Putz zu hauen, diesmal für die Eltern von Esmeralda Carramia, die bei einem Polizeieinsatz ums Leben gekommen war. Während sie darauf wartete, durch die Metalldetektoren gelassen zu werden, gewann sie ihre Fassung wieder. Sie hatte bis zum Beginn der Verhandlung noch genug Zeit, sich frisch zu machen - zwar keine zehn Minuten, aber das reichte. Sie war bereit. Sie kannte den Fall in- und auswendig, hatte sich die Fakten so gründlich eingeprägt, als wäre sie selbst am Tatort gewesen. Die Ereignisse, um die es beim Fall Esmeralda Carramia ging, hatten sich innerhalb weniger Minuten abgespielt, aber das bisschen Zeit hatte genügt, um einer ganzen Familie das Herz zu brechen, eine Stadt zu spalten und der zuständigen Polizei den Vorwurf des Rassismus und der Brutalität einzuhandeln.
Newark, New Jersey, 25. November 2003. Esmeralda Carramia betritt Steinless, das letzte Kaufhaus in der Innenstadt. Sie braucht ein Geburtstagsgeschenk für ihre Großmutter. Esmeralda, Essie, wie ihre Großmutter sie liebevoll nannte, ist die Tochter von Emigranten aus der Dominikanischen Republik, die erst kürzlich von Miami nach Newark gezogen sind. Der Verkäufer, ein Weißer, übersieht sie geflissentlich. Dann beschuldigt er Essie, einen 49 Dollar teuren Seidenschal gestohlen zu haben. Essie streitet das ab. Die beiden werden laut. Der Sicherheitsdienst wird gerufen. Wenige Minuten später kommt die Polizei. Essies Einkaufstasche wird durchsucht; man findet einen Schal, an dem noch das Preisschild hängt. Sie sagt, der Verkäufer habe ihr den untergeschoben, schwört es bei der Heiligen Jungfrau von Guadeloupe. Keiner glaubt ihr. Die Polizei führt sie nach draußen, um sie mit auf die Wache zu nehmen. Essie leistet Widerstand. Sie schlägt um sich. Ihre Eltern sagen später aus, dass das völlig untypisch für sie ist. In dem Durcheinander bekommt ein Officer ein Knie in den Schritt gerammt; ein anderer holt sich eine blutige Nase. Verstärkung trifft ein. Mittlerweile sind sechs Polizisten vor Ort, von denen keiner unter 70 Kilo auf die Waage bringt. Essie ist 1,57 Meter groß und wiegt keine 48 Kilo.
Später kann keiner mehr sagen, wer dafür verantwortlich war, dass sie mit dem Kopf aufs Pflaster schlug. Als die Polizisten sie in den Streifenwagen verfrachten, merken sie, dass das Mädchen bewusstlos ist. Im Krankenhaus wird Esmeralda Carramia für hirntot erklärt. Sie ist neunzehn Jahre alt.
Ungerechtigkeit!
Manny hatte den Fall zwei Monate später angenommen, als Esmeraldas Eltern, bewaffnet mit Kinderfotos und gerechtem Zorn, bei ihr in der Kanzlei erschienen waren. Sie waren nach Amerika gekommen, um ein besseres Leben zu haben, sagten sie, und die Menschen, die Essie eigentlich hätten beschützen sollen, hatten sie stattdessen ermordet. Das da war ein Bild von Essie ganz in Weiß am Tag ihrer Erstkommunion, und da, in einem weißen Rüschenkleid für ihre Quinceañera. Und, falls Manny noch immer nicht überzeugt war, hier hatten sie die kleine Amaryllis auf dem Schoß - ihre einjährige Enkelin, Essies Tochter -, die nun ohne Mutter aufwachsen würde.
Obwohl kein Geld der Welt ihnen ihre Tochter zurückgeben konnte, sollten wenigstens die Leute, die sie auf dem Gewissen hatten, bezahlen.
Manny hatte sich mit ihrem üblichen Eifer ans Werk gemacht. Sie hatte die Cops, die Zeugen und die Mitarbeiter des Kaufhauses befragt. Die Fakten standen außer Frage: Esmeralda hatte sich gewehrt, war gestürzt und gestorben. Ihr forensischer Pathologe war mit dem staatlichen Gerichtsmediziner einer Meinung, was die Todesursache betraf: ein Schlag auf den Kopf, der eine subdurale Blutung ausgelöst hatte.
Essies Eltern und ihre Großmutter hatten klare und wortgewandte Aussagen abgegeben. Ihre Essie sei ein gutes Mädchen gewesen, fromm, habe nie etwas Böses getan, schon gar nicht gestohlen. Als Manny den Beweisvortrag abgeschlossen hatte, wusste sie, dass die Sympathien der Geschworenen ihren Mandanten gehörten. Sollte der gegnerische Anwalt ruhig versuchen, die Handlungsweise der Cops zu rechtfertigen. Sie würde alles, was die gegnerische Seite sagte, in ihrem Schlussplädoyer verwenden, um sie restlos auseinanderzunehmen.
Als Manny durch den Metalldetektor ging, gellte ein Alarmton. Der Polizeibeamte führte eine Handsonde an ihrem Körper nach unten und stoppte bei ihren Schuhen: italienisches Design, tiefschwarze Pumps von d'Orsay. "Sie sollen so was doch nicht mehr tragen, Ms. M", sagte er. "Ich hab Ihnen schon hundertmal gesagt, dass die Metall im Absatz haben."
"Das hält Sie auf Trab", sagte Manny kokett. "Außerdem passen sie zu meinem Outfit." Sie ging quer über den grün-weißen Marmorboden der imposanten Rotunde des Gerichtsgebäudes und strebte nach oben zur Damentoilette.
Manny brachte ihr Make-up in Ordnung, steckte das Haar hoch und glättete den Blazer und Rock ihres glänzend blauen Kostüms mit dem Leopardenfellfutter. Das Kostüm betonte die Farbe ihrer stahlblauen Augen, und der V-Ausschnitt der passenden Seidenbluse war tief genug, um den männlichen Geschworenen ein kleines Glücksgefühl zu bescheren. Gar nicht schlecht, dachte sie, während sie sich prüfend im Spiegel betrachtete. Und der Ein-Ohrring-Look kann noch als modisch ausgefallen durchgehen.
Mit ihren neunundzwanzig Jahren wusste sie, dass manche Kollegen meinten, sie trüge Stilettos und knallige Farben, um aufzufallen - aber das stimmte nicht ganz. Ihre Garderobe war eine Art Rüstung, ein Talisman. Sie verkündete der Welt, dass Manny eine Frau war, die kühne Entscheidungen traf, selbstbewusst war und sich in ihrer Haut wohl fühlte. Kleidung zeigt nicht nur, wer du bist, sie zeigt auch, wer du sein möchtest. Als sie Prozessanwältin wurde, tat ihr diese Überzeugung gute Dienste. Sie wusste instinktiv, dass Geschworene eher einer Anwältin Glauben schenkten, die gut gekleidet und mit schicken Accessoires auftrat, als einer Frau, die versuchte, möglichst männlich zu wirken, mit Krawatte, langweiligen Halbschuhen und formlosem Kostüm. Ihre Eltern hatten ihr beigebracht, immer die besten Klamotten zu kaufen, die sie sich leisten konnte, selbst wenn dann zum Abendessen nur noch Bohnensuppe drin war. Auch heute noch gab es abends häufig Suppe, aber sie aß sie, wenn sie allein war, in einem Bademantel von Ralph Lauren. Ihre Familie war stolz auf sie. Und shoppen machte ihr Spaß, vor allem die Jagd auf Schnäppchen. Das war ihr größtes Hobby.
Sie musterte sich ein letztes Mal im Spiegel, registrierte ihre Schwachpunkte - dank ihres gesunden Appetits und ihrer Vorliebe für Wein sowie ihrer Körpergröße von eins zweiundsiebzig trug sie Kleidergröße 40 statt der 38, von der sie träumte; außerdem hatte sie auf dem Nasenrücken eine kleine Unebenheit, ein Erbe ihres Vaters, für deren operative Entfernung ihr bis jetzt der Mut gefehlt hatte -, war aber doch einigermaßen zufrieden. Ihre Wangenknochen waren schön - die hatte sie von ihrer Mutter. Das Feuer in ihren Augen, die Kampfeslust, stammte nur von ihr.
Wer sie nicht kannte und im Gerichtssaal sah, konnte sie leicht für eine Mandantin halten - noch so eine Schickimickitussi -, eine Lady, die täglich eine Verabredung zum Lunch hatte. Ein gegnerischer Anwalt behandelte sie vielleicht wie eine Sexpuppe, die mit einem ihrer Seniorpartner ins Bett ging - aber nur, bis sie ihr Beweismaterial vortrug.
Manny hatte innen in ihrem Blazer ein kleines rotes Stück Stoff als Glücksbringer festgesteckt, wie sie es von ihrer Großmutter gelernt hatte, nur für alle Fälle. Sie wollte kein Risiko eingehen; niemand würde ihr den bösen Blick zuwerfen, nicht heute. Sie musste gewinnen.
Sie betrat den Gerichtssaal - einen beeindruckenden Raum mit roten Velourssesseln für die Geschworenen und blauem Teppichboden - und nahm ihren Platz an dem wuchtigen Eichentisch der klägerischen Partei ein. Zwei Minuten später war die Sitzung eröffnet.
"Die Verteidigung ruft Dr. Jacob Rosen in den Zeugenstand."
Jake Rosen. Vielleicht war sie ja seinetwegen so nervös. Sie hatte ihn im letzten März kennengelernt, als sie für den Fall Jose Terrell eine zweite Obduktion gebraucht hatte und ihn per Hubschrauber zu einem Landeplatz in New Jersey ganz in der Nähe der Leichenhalle hatte fliegen lassen - aus eigener Tasche bezahlt! -, damit er bestätigen konnte, dass die Polizeikugeln, die Terrell getötet hatten, in dem Moment abgefeuert worden waren, als er schon die Hände erhoben hatte, um sich zu ergeben.
Rosen war aus dem Hubschrauber gehüpft wie ein modisch zurückgebliebener Frankenstein, die Haare zerzaust wie in dem Klischee vom wahnsinnigen Wissenschaftler. Sein Haar war lang und voll, braun mit ein paar grauen Strähnen durchsetzt, und sie hatte den lächerlichen Impuls gehabt, es ihm zu kämmen, nur um es unter den Fingern zu spüren. Er trug einen zusammengelegten Regenmantel über einer abgegriffenen schwarzen Aktentasche, die so vollgestopft mit Unterlagen war, dass er den Verschluss nicht mehr zubekam, aber er war ungeheuer professionell. Seine Untersuchungsergebnisse waren derart überzeugend, dass sich der Detective, der die Schüsse abgegeben hatte, auf einen Vergleich einließ, die Stadt der Mutter des Jungen Schmerzensgeld zahlte und der Fall nie vor Gericht kam.
Und jetzt, sechs Monate später, war Rosen hier und sagte für die Verteidigung aus. Manny wusste, dass unabhängige Sachverständige für jeden arbeiten konnten, aber sie fühlte sich trotzdem hintergangen. Er war so geduldig mit ihr gewesen, so kooperativ. Sie hatte das Gefühl gehabt, dass er über den ersten, offensichtlich manipulierten gerichtsmedizinischen Bericht im Terrell-Fall ebenso empört war wie sie. Damals schien ihm die Wahrheit am Herzen zu liegen; jetzt wusste sie, dass seine Aussage an den Höchstbietenden verkauft werden konnte.
Manny blickte kaum auf, als er hereinkam. Sie wusste, was er sagen würde, aber ihr eigener forensischer Experte hatte ihr versichert, dass sein Gutachten Blödsinn war. Zugegeben, sie hatte ihn kurzfristig - einen Moment lang - attraktiv gefunden. Na und? Jetzt wusste sie, dass er der leibhaftige Judas war.
Als er nun zum Zeugenstand ging, sah er bloß noch aus wie ein überbezahlter Schlaukopf aus einem schlechten Film, den die Cops aus dem Ärmel gezaubert hatten, damit er ihr Fehlverhalten schönredete. Manny wusste, dass er erst vierundvierzig war, aber im Licht des Gerichtssaals wirkte er älter. Und er hätte einen Pilates-Kurs für Körperhaltung gebrauchen können, um was gegen seine Hängeschultern zu tun. Er trug einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und eine dünne schwarze Krawatte. Ohne die Frisur des wahnsinnigen Wissenschaftlers und mit Gel in den Haaren hätte er ausgesehen wie ein in die Jahre gekommener britischer Punkrocker. Seit ihrer letzten Begegnung hatte er sich einen Schnurrbart wachsen lassen. Gesichtsbehaarung aus den Siebzigern, Kleidung aus den Achtzigern. Was hatte der Mann für ein Problem? Hatte ihm noch keiner verraten, dass er im einundzwanzigsten Jahrhundert lebte?
Im Zeugenstand untermauerte Rosen seine Ansicht, dass die Polizei durchaus schuldlos sein könnte, indem er auf ein Berry-Aneurysma im Gehirn verwies. Schuldlos! "Fassen wir also zusammen", sagte der Anwalt, "Ihrer sachverständigen Meinung nach wurde Miss Carramias Tod nicht durch irgendwelche Handlungen seitens der Polizeibeamten herbeigeführt."
"Das ist richtig", sagte Rosen und wandte sich den Geschworenen zu. "Meiner Meinung nach ist mit ziemlich großer medizinischer Gewissheit von einer natürlichen Todesursache auszugehen."
Ja klar. Der Bürgersteig ist plötzlich hochgeklappt und hat Esmeralda den Schädel eingeschlagen.
"Danke für Ihre Offenheit, Dr. Rosen." Der Verteidiger bedachte die Geschworenen mit seinem widerwärtig süßlichen Lächeln. "Keine weiteren Fragen."
Manny erhob sich von ihrem Stuhl und ging auf den Zeugen zu. Sie würde ihm den Kopf abreißen und den Hunden zum Fraß vorwerfen.
"Dr. Rosen, wie viel bezahlt man Ihnen für Ihre heutige Aussage?"
"Mein Honorar beträgt fünftausend Dollar - für meinen Zeitaufwand, nicht für meine Aussage."
Manny hob verächtlich eine Augenbraue. "Pro Tag?"
"Ja."
Ihr hatte er im März für die zweite Obduktion nicht so viel abgeknöpft. Vielleicht hätte sie ihn für Essies Eltern anheuern können, wenn sie mehr geboten hätte als die Verteidigung.
"Verstehe", sagte sie. "Sie arbeiten für die Stadt New York, richtig?"
"Ich bin stellvertretender Leiter der Gerichtsmedizin. Aber in diesem Fall sage ich in meiner Eigenschaft als Arzt und forensischer Pathologe aus."
Blut verdunkelte das Wasser, und sie war der Hai. "Ist es bei Ihrer Tätigkeit für die Stadt nicht wichtig, ein gutes Verhältnis zur Polizei zu haben?"
Er schlug die Beine übereinander, schien ungerührt. Manny bemerkte, dass sein Jackett geflickt war. Fünftausend am Tag und nicht mal Geld für einen neuen Anzug? Versager.
"Natürlich", sagte er, "aber das beeinflusst nicht meine Meinung als Sachverständiger."
"Kennen Sie Dr. Justin West, den Gerichtsmediziner für den Staat New Jersey, und Dr. Sanjay Sumet, den forensischen Pathologen, der in diesem Fall für den Kläger ausgesagt hat?"
"Selbstverständlich. Beides ehrbare Männer und geschätzte Kollegen."
"Dr. West und Dr. Sumet sind übereinstimmend zu der Erkenntnis gelangt, dass Miss Carramia an den Folgen eines Schlages auf den Kopf gestorben ist. Sie hingegen behaupten, sie sei eines natürlichen Todes gestorben - an einem Hirnaneurysma. Ist das richtig?"
"Ja. Wie ich soeben gesagt habe, ein geplatztes Berry-Aneurysma." Rosen lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, der unter seinem Gewicht knarrte. Der Zeugenstand war nicht dafür geschaffen, so langen Beinen Platz zu bieten. Manny hoffte, dass er sich mit seinen Lügen genauso unwohl fühlte wie mit seinem Körper. Aber seiner Stimme war keine Anspannung anzumerken. "Meine Meinung basiert auf dem von mir gesichteten Material: dem Obduktionsbericht, den Zeugenaussagen und meiner Sektion des Gehirns, das von der Gerichtsmedizin aufbewahrt worden war."
"Aber in Miss Carramias ärztlichen Unterlagen deutet nichts darauf hin, dass sie an dieser Krankheit litt."
Rosen wandte sich an den Richter: "Ist das eine Frage?"Selbstgefälliger Schnösel.
... weniger
Autoren-Porträt von Baden Kenney
Ulrike Wasel, geboren 1955, arbeitet als Übersetzerin angloamerikanischer Literatur.Klaus Timmermann, geboren 1955, arbeitet als Übersetzer angloamerikanischer Literatur in Düsseldorf.
Bibliographische Angaben
- Autor: Baden Kenney
- 2007, 1, 319 Seiten, Maße: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Wasel, Ulrike; Timmermann, Klaus
- Verlag: Blessing
- ISBN-10: 3896672851
- ISBN-13: 9783896672858
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