Sören Kierkegaard
Biographie
Geshrieben vom Kierkegaard-Kenner und großen Erzähler Joakim Garff. Er zeigt darin, dass all das, was der Philosoph über die Ethik, die Ästhetik und die Existenz schrieb, immer Reaktion war auf eigene Erfahrungen und Krisen. Ein Leseabenteuer für viele Stunden.
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Produktinformationen zu „Sören Kierkegaard “
Geshrieben vom Kierkegaard-Kenner und großen Erzähler Joakim Garff. Er zeigt darin, dass all das, was der Philosoph über die Ethik, die Ästhetik und die Existenz schrieb, immer Reaktion war auf eigene Erfahrungen und Krisen. Ein Leseabenteuer für viele Stunden.
Klappentext zu „Sören Kierkegaard “
Joakim Garff, einer der besten Kenner von Kierkegaards Leben und Werk, hat die maßgebliche Biografie voregelegt. Anschaulich und detailliert zugleich, erörtert er dessen Philosphie und stellt auf der Grundlage genauer Archivkenntnisse Zeitbezüge her, die ihr Verständinis erleichtern. Ein großer europäischer Lebensroman, bestiommt nicht nur für Philosophen.
Lese-Probe zu „Sören Kierkegaard “
Aus dem Dänischen von Hermann Schmid und Herbert ZeichnerMit 32 Seiten BildteilSeine faustische Periode hat Kierkegaard einiges gekostet, existentiell wie finanziell. Aus dem in Wolle gezwängten Jüngling, den die Schulkameraden Socken-Sören nannten, entwickelte sich damals ein eitler Dandy, der wie maßgeschneidert zur Spätromantik paßte. Mit Hilfe von Darlehen und Krediten und ganz im Gegensatz zur herrnhutischen Genügsamkeit im Elternhaus hat er sich ungeheure extravagante Marotten angewöhnt. Da gab es einen immensen Konsum an Theatervorstellungen, an philosophischer und ästhetischer Literatur, Cafébesuchen, extravaganten Mänteln (der rotkohlfarbene wird durch einen zitronengelben ersetzt), Hüten, Fiakern, Speisen, Weinen, kistenweise Zigarren der Marken Las tres Coronas und La Paloma mit zugehörigen Futteralen sowie monatlich 500 Gramm Pfeifentabak der venezulanischen Variante Varinas, eine echte, reine und erstklassige Ware, die in Packungen à 6 Rollen in Binsenkörben gestapelt waren. Darüber hinaus figurieren Spazierstöcke, Seidenschals, Handschuhe und anderer Lebensbedarf, darunter etliche Flaschen Eau de Cologne, auf den Rechnungen. Ende Oktober hatte ein gewisser Herr Sager dem verschwenderischen Studenten ein Wochendarlehen von 60 Reichstalern vorstrecken müssen, und der Vorstand der Studentenvereinigung kann Ende des Jahres mitteilen, daß Kierkegaard jetzt mit dem Kontingent vier Monate im Verzug sei und daß ihm folglich der Zugang zu den Räumen der Vereinigung verwehrt werde, wenn er den schuldigen Betrag nicht baldigst entrichte. Die Kreditwürdigkeit des allzu spendablen Dandys wird allmählich überschaubar und somit das Aufnehmen neuer Darlehen peinlich. »Meine Situation, als ich von Rask Geld lieh und Monrad hinzukam«, berichtet das Tagebuch denn auch voller Scham im Juni 1836, als Kierkegaard das Pech hatte, sich gleichzeitig in der Gesellschaft zweier seiner Gläubiger zu befinden. Am 5. September 1837 mußte der Theologiestudent
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zu Kreuze kriechen und den Vater um Hilfe bitten. Allein im Laufe des Jahres 1836 hat er Schulden von 1262 Reichstalern angehäuft, von denen 381 an Buchhändler Reitzel in der Köbmagergade, 280 an Schneider Künitzer in Vimmelskaftet, 235 an verschiedene Konditoreien und 44 an den Tabakhändler M.C. Freys in der Östergade gehen sollen. Und was sonst noch so anfällt. Schuld an der zittrigen Hand, mit der der Vater »Sören« auf das kleine Schreibheft schreibt, das im darauffolgenden Jahr als Rechnungsbuch über bezahlte Schulden dient, ist nicht nur, daß er in die Jahre gekommen war. Er war ganz einfach erschüttert, was gut zu verstehen ist: die 1262 Reichstaler, die der Sohn verpulvert hatte, waren mehr, als ein Professor im Jahr verdiente.
An Verlockungen fehlte es bestimmt nicht. Ströget hieß damals »die Route«, wo man sich traf, um zu sehen und gesehen zu werden, wo man exaltiert Freunde begrüßte und demonstrativ Feinden die kalte Schulter zeigte. Die alten Gasthöfe und Speisegaststätten waren nach ausländischem Vorbild modernisiert worden, sie hießen jetzt »Conditoreien« und trugen exotische Namen wie Apitz, Capritz, Capozzi, Ferrini, Lardelli, Monigatti, Pedrin und Sechi. Einer der erfolgreichsten Einwanderer war Josty, der 1817 im Hause Östergade 53 seine Konditorei auf Schweizer Art eröffnet hatte und der 1824 eine Filiale im Frederiksberg Have dazu bekam. Am Anfang der Östergade fand man Gianellis Konditorei mit ihren hohen Fenstern, Pleisch lag am Amager Torv mit Aussicht auf Höjbro, während Mini, das heutige à Porta, an der Ecke Kongens Nytorv/Lille Kongensgade residierte. Mini war das beste in der Stadt, »ein Kaffeehaus für galante Herrschaften, auf französische und italienische Art eingerichtet, wo eine jede anständige und gut gekleidete Person zu jeder Tageszeit Tee, Kaffee, Schokolade und besonders feine Liköre erhalten kann«. Hatte man spät abends Lust auf Kegelspiel, Billard und Tabak, nahm man Kurs auf Knirsch’ Hotel, das heutige Hotel d’Angleterre.
Obwohl die vielen Geldforderungen ihre eigene klatschsüchtige Sprache über das Treiben von Kierkegaard jun. sprechen, gibt es natürlich nicht für alle Ausgaben Belege. An den verrufenen Ecken bekommt man keine Quittung, und die immer entgegenkommenden Mädchen im Peder Madsens Gang, der damals in der »Route« endete, beschäftigten sich jedenfalls nicht mit Schreibkram, ihre Leistungen waren handfest, ebenso wie die Rechnungen dafür. Damit war das Kapitel erledigt. Man konnte auch andere Örtlichkeiten goutieren, wenn man in unanständiger Stimmung war. Die Store- und Lille Bröndstræde oder die Ulkegade, wo die Freudenmädchen am Ende der Straße, die in die Lille Kongensgade mündete, herumlungerten. Seeleute, ausgelassene Studenten und ehemüde Bürgersleute wuselten in diesen Finsternissen, aber auch König Frederik VI. verstand sich in dieser Kunst und ließ sich Sonntag nachmittags in seinem offenen Wagen in die Stadt fahren, um ein paar intensive Stunden bei der Gräfin Dänischmann zu verbringen, worüber die ihm angetraute Königin wie auch die Kopenhagener Bevölkerung großzügig hinwegsahen.
Deftiger ging es in dem Gefängnis Blauer Turm an der Langebro zu, wo Männer und Frauen zusammen gefangengehalten wurden. Die Bewachung war schlecht, und der äußerst begabte Mörder Ole Kolleröd vermittelt ein atemberaubendes Bild von den Verhältnissen in dem phallischen Gefängnisturm: »Ja, die Mannsleut gingen auf den Gang und hängten die Zellentüre der Frauenzimmer aus und lagen dann drauf und hurten mit denen, bis sie sich selbst und die Mädchen fertig zu Tod gehurt hatten. Ja, das Mädchen, das sich nicht brauchen lassen wollte, das nahm’ sie mit Macht ohne weitres Gered. Ja, da saß ein [eine] Mallermesterfrau, die so gebraucht wurde, daß ich in meinem Bett ligge und sie höre konnte, wie sie sich dem hingebe, der sie brauchte. Ja, ihr eigener Wille war es woll, da es der dicke Pferdedieb Brunn war, der sie brauchte. Aber damit genug.«
Ja, genug davon. Inwieweit und gegebenenfalls wie oft und mit welchem Erfolg Kierkegaard bei den Mädchen im Peder Madsens Gang oder anderswo vorbeigeschaut hat, bleibt in historischem Dunkel. Die eigentliche Grundlage für die Rekonstruktion der Ereignisse ist beschämend bescheiden und beläuft sich im wesentlichen auf ein paar zerfetzte Aufzeichnungen, von denen die erste, vermutlich vom Juni 1836, in voller Länge lautet: »Wunderliche Ängstlichkeit, jedesmal, da ich am Morgen erwachte, nachdem ich zuviel getrunken hatte, ging endlich in Erfüllung.« Man bemerke die seltsame Formulierung, daß eine Ängstlichkeit in Erfüllung geht, und fragt sich, ob sie wohl die furchtdurchsetzte Wonne bezeichnet, die damit verbunden ist, die Tugend schließlich verloren zu haben? Keiner weiß es. Vom 8. November desselben Jahres liegt eine fragmentarische Aufzeichnung vor: »Mein Gott, mein Gott […]«, gefolgt von dem genauso unvollständigen: »Das tierische Kichern […]«. Die eckigen Klammern benutzte H.P. Barfod, der Herausgeber von Kierkegaards Tagebüchern, der in seinem Verzeichnis die Einleitung zu den Aufzeichnungen als eine Art Stichwort angeführt hat; die Originalmanuskripte sind jedoch unglücklicherweise seither verschwunden.
Wenn Barfod Kierkegaard, weil dessen Aufzeichnungen zu entlarvend gewesen waren, einen anständigen Nachruhm sichern wollte, indem er sie verschwinden ließ, dann hat er genau das Gegenteil erreicht. Das Fragment lädt ja geradezu dazu ein, das Verschwundene in seiner vermutlichen Gestalt rekonstruieren zu versuchen; fast ein kleines Heer phantasievoller Forscher hat denn auch im Laufe der Zeit die pikantesten Theorien präsentiert, die diese Forscher auf abenteuerlichste Mutmaßungen aufbauten. Das tierische Kichern gehört zu einem Bordell, in dem ein sturzbetrunkener Kierkegaard nicht – wie es ehrbar heißt– praestere praestanda konnte und deshalb in großer Scham den Schwanz hatte einziehen müssen. Andere dagegen meinen wohl, daß Kierkegaard Erfolg hatte, daß er sich aber bei dem Akt eine Syphilis oder etwas anderes Unerfreuliches zugezogen hat, so auch eine unerwünschte Vaterschaft, während wieder andere das Problem resolut an jener Wurzel packen, um Volumen und Form des Zeugungsorgans zu ergründen, so z.B. ob Kierkegaard vielleicht mit einem gekrümmten Penis ausgestattet gewesen sein sollte, dessen vaginale Manövrierfähigkeit vermutlich etwas reduziert gewesen ist.
Hält man sich an das Quellenmaterial, dann gibt die Bordellgeschichte nicht viel her. Erstens ist es bei Barfod nicht besonders selten, daß sich eine Aufzeichnung in Luft auflösen kann, das geschieht wie gesagt recht oft, weshalb sich das Verschwinden der Aufzeichnungen vermutlich eher aus normaler Unachtachtsamkeit als aus Rücksicht auf Kierkegaards Nachruhm erklärt. Zweitens hat Barfod die Aufzeichnung über das tierische Kichern mit den beiden folgenden Aufzeichnungen – beide behandeln Szenen aus der dänischen Bearbeitung des Don Juan – in seinem Verzeichnis mit einer deutlichen Klammer verbunden. Außerhalb seiner Klammer hat er durch die Notiz »Don Juan« markiert, daß die drei Aufzeichnungen zusammengehören. Und drittens schließlich berichtet Barfod in der Einleitung zu seinem Verzeichnis, daß er alles, »was in fernster Weise angesehen werden könnte, als könne es das persönlichere Leben oder die Lebensführung des Verstorbenen vielleicht sogar nur im engsten Sinne berühren oder vielleicht sogar nur andeuten«, doppelt unterstrichen hat; in den hier genannten Aufzeichnungen fehlt nämlich ein solches doppeltes Unterstreichen. Der schriftliche Beleg für Hypothesen über praestanda und Krummsäbel und anderweitige Ausrüstung scheint fortgefallen zu sein.
Es würde Kierkegaard auch kaum ähneln, sich in seinen Tagebüchern über eine Nacht im Bordell zu äußern, denn zu seinen sexuellen Neigungen hatte er nicht nur in seiner Jugend, sondern das ganze Leben lang ein zugeknöpftes Verhältnis. Nie hätte es ihm, wie etwa Hans Christian Andersen, einfallen können, die Nachwelt mit Aufzeichnungen über seine schmerzenden Testikel zu belästigen, im Kalender ein Kreuz für jeden Onanietag zu setzen oder gar wie Strindberg sorgfältig sein erigiertes Glied mit einem Lineal zu messen und beim Arzt anzufragen, ob 16 Zentimeter über oder unter dem Durchschnitt lägen. Diesem heiklen Thema kommt Kierkegaard in einer Aufzeichnung aus dem Jahre 1843 am nächsten, in der er bekennt, daß der einzige, mit dem er »jemals liederlich geredet hat«, ein 74jähriger »China-Captain« sei, der als Stammgast im Café Mini gesessen und mit all den Mädchen geprahlt habe, die er im Laufe der Zeit zwischen Manila und London flachgelegt hätte. Er habe ihnen gerne ein »Glas Grog« ausgegeben, denn das hätten sie gemocht. Kierkegaard glaubt ihm nicht ganz, »denn es ist eine Reinheit in ihm, die für ihn spricht«, sein »Ausdruck ist deshalb eher humoristisch als liederlich«. Ungewiß ist auch, ob liederliche Reden gehalten worden sind, als Kierkegaard Mitte April 1836 mit dem Polizeikommissar Jörgen Jörgensen zusammen war, dessen Trunksucht deutlich an den »Rändern der Lippen« zu erkennen war und der hinter einer Batterie von Flaschen bitter-sentimental verkündet hatte, daß das halbe Leben »dazu da sei, um zu leben, und das zweite halbe, um zu bereuen«. Man hat den Eindruck, daß der junge Theologiestudent eher Betrachter als Teilnehmer ist und selbst nicht soviel zu bereuen hat; man kann sich nicht ganz des Eindrucks erwehren, daß, während es den Vater ob seiner Jugendsünden, die er bitter bereut hat, gereute, der Sohn bereute, daß er niemals irgend etwas begangen habe, das zu bereuen sich lohnte. In der klassischen dänischen Literatur, in der man sonst so ungemein viel tratscht, gibt es niemanden, der irgend etwas erwähnt, was auch nur Schemen eines ausschweifenden Kierkegaard andeutet.
An Verlockungen fehlte es bestimmt nicht. Ströget hieß damals »die Route«, wo man sich traf, um zu sehen und gesehen zu werden, wo man exaltiert Freunde begrüßte und demonstrativ Feinden die kalte Schulter zeigte. Die alten Gasthöfe und Speisegaststätten waren nach ausländischem Vorbild modernisiert worden, sie hießen jetzt »Conditoreien« und trugen exotische Namen wie Apitz, Capritz, Capozzi, Ferrini, Lardelli, Monigatti, Pedrin und Sechi. Einer der erfolgreichsten Einwanderer war Josty, der 1817 im Hause Östergade 53 seine Konditorei auf Schweizer Art eröffnet hatte und der 1824 eine Filiale im Frederiksberg Have dazu bekam. Am Anfang der Östergade fand man Gianellis Konditorei mit ihren hohen Fenstern, Pleisch lag am Amager Torv mit Aussicht auf Höjbro, während Mini, das heutige à Porta, an der Ecke Kongens Nytorv/Lille Kongensgade residierte. Mini war das beste in der Stadt, »ein Kaffeehaus für galante Herrschaften, auf französische und italienische Art eingerichtet, wo eine jede anständige und gut gekleidete Person zu jeder Tageszeit Tee, Kaffee, Schokolade und besonders feine Liköre erhalten kann«. Hatte man spät abends Lust auf Kegelspiel, Billard und Tabak, nahm man Kurs auf Knirsch’ Hotel, das heutige Hotel d’Angleterre.
Obwohl die vielen Geldforderungen ihre eigene klatschsüchtige Sprache über das Treiben von Kierkegaard jun. sprechen, gibt es natürlich nicht für alle Ausgaben Belege. An den verrufenen Ecken bekommt man keine Quittung, und die immer entgegenkommenden Mädchen im Peder Madsens Gang, der damals in der »Route« endete, beschäftigten sich jedenfalls nicht mit Schreibkram, ihre Leistungen waren handfest, ebenso wie die Rechnungen dafür. Damit war das Kapitel erledigt. Man konnte auch andere Örtlichkeiten goutieren, wenn man in unanständiger Stimmung war. Die Store- und Lille Bröndstræde oder die Ulkegade, wo die Freudenmädchen am Ende der Straße, die in die Lille Kongensgade mündete, herumlungerten. Seeleute, ausgelassene Studenten und ehemüde Bürgersleute wuselten in diesen Finsternissen, aber auch König Frederik VI. verstand sich in dieser Kunst und ließ sich Sonntag nachmittags in seinem offenen Wagen in die Stadt fahren, um ein paar intensive Stunden bei der Gräfin Dänischmann zu verbringen, worüber die ihm angetraute Königin wie auch die Kopenhagener Bevölkerung großzügig hinwegsahen.
Deftiger ging es in dem Gefängnis Blauer Turm an der Langebro zu, wo Männer und Frauen zusammen gefangengehalten wurden. Die Bewachung war schlecht, und der äußerst begabte Mörder Ole Kolleröd vermittelt ein atemberaubendes Bild von den Verhältnissen in dem phallischen Gefängnisturm: »Ja, die Mannsleut gingen auf den Gang und hängten die Zellentüre der Frauenzimmer aus und lagen dann drauf und hurten mit denen, bis sie sich selbst und die Mädchen fertig zu Tod gehurt hatten. Ja, das Mädchen, das sich nicht brauchen lassen wollte, das nahm’ sie mit Macht ohne weitres Gered. Ja, da saß ein [eine] Mallermesterfrau, die so gebraucht wurde, daß ich in meinem Bett ligge und sie höre konnte, wie sie sich dem hingebe, der sie brauchte. Ja, ihr eigener Wille war es woll, da es der dicke Pferdedieb Brunn war, der sie brauchte. Aber damit genug.«
Ja, genug davon. Inwieweit und gegebenenfalls wie oft und mit welchem Erfolg Kierkegaard bei den Mädchen im Peder Madsens Gang oder anderswo vorbeigeschaut hat, bleibt in historischem Dunkel. Die eigentliche Grundlage für die Rekonstruktion der Ereignisse ist beschämend bescheiden und beläuft sich im wesentlichen auf ein paar zerfetzte Aufzeichnungen, von denen die erste, vermutlich vom Juni 1836, in voller Länge lautet: »Wunderliche Ängstlichkeit, jedesmal, da ich am Morgen erwachte, nachdem ich zuviel getrunken hatte, ging endlich in Erfüllung.« Man bemerke die seltsame Formulierung, daß eine Ängstlichkeit in Erfüllung geht, und fragt sich, ob sie wohl die furchtdurchsetzte Wonne bezeichnet, die damit verbunden ist, die Tugend schließlich verloren zu haben? Keiner weiß es. Vom 8. November desselben Jahres liegt eine fragmentarische Aufzeichnung vor: »Mein Gott, mein Gott […]«, gefolgt von dem genauso unvollständigen: »Das tierische Kichern […]«. Die eckigen Klammern benutzte H.P. Barfod, der Herausgeber von Kierkegaards Tagebüchern, der in seinem Verzeichnis die Einleitung zu den Aufzeichnungen als eine Art Stichwort angeführt hat; die Originalmanuskripte sind jedoch unglücklicherweise seither verschwunden.
Wenn Barfod Kierkegaard, weil dessen Aufzeichnungen zu entlarvend gewesen waren, einen anständigen Nachruhm sichern wollte, indem er sie verschwinden ließ, dann hat er genau das Gegenteil erreicht. Das Fragment lädt ja geradezu dazu ein, das Verschwundene in seiner vermutlichen Gestalt rekonstruieren zu versuchen; fast ein kleines Heer phantasievoller Forscher hat denn auch im Laufe der Zeit die pikantesten Theorien präsentiert, die diese Forscher auf abenteuerlichste Mutmaßungen aufbauten. Das tierische Kichern gehört zu einem Bordell, in dem ein sturzbetrunkener Kierkegaard nicht – wie es ehrbar heißt– praestere praestanda konnte und deshalb in großer Scham den Schwanz hatte einziehen müssen. Andere dagegen meinen wohl, daß Kierkegaard Erfolg hatte, daß er sich aber bei dem Akt eine Syphilis oder etwas anderes Unerfreuliches zugezogen hat, so auch eine unerwünschte Vaterschaft, während wieder andere das Problem resolut an jener Wurzel packen, um Volumen und Form des Zeugungsorgans zu ergründen, so z.B. ob Kierkegaard vielleicht mit einem gekrümmten Penis ausgestattet gewesen sein sollte, dessen vaginale Manövrierfähigkeit vermutlich etwas reduziert gewesen ist.
Hält man sich an das Quellenmaterial, dann gibt die Bordellgeschichte nicht viel her. Erstens ist es bei Barfod nicht besonders selten, daß sich eine Aufzeichnung in Luft auflösen kann, das geschieht wie gesagt recht oft, weshalb sich das Verschwinden der Aufzeichnungen vermutlich eher aus normaler Unachtachtsamkeit als aus Rücksicht auf Kierkegaards Nachruhm erklärt. Zweitens hat Barfod die Aufzeichnung über das tierische Kichern mit den beiden folgenden Aufzeichnungen – beide behandeln Szenen aus der dänischen Bearbeitung des Don Juan – in seinem Verzeichnis mit einer deutlichen Klammer verbunden. Außerhalb seiner Klammer hat er durch die Notiz »Don Juan« markiert, daß die drei Aufzeichnungen zusammengehören. Und drittens schließlich berichtet Barfod in der Einleitung zu seinem Verzeichnis, daß er alles, »was in fernster Weise angesehen werden könnte, als könne es das persönlichere Leben oder die Lebensführung des Verstorbenen vielleicht sogar nur im engsten Sinne berühren oder vielleicht sogar nur andeuten«, doppelt unterstrichen hat; in den hier genannten Aufzeichnungen fehlt nämlich ein solches doppeltes Unterstreichen. Der schriftliche Beleg für Hypothesen über praestanda und Krummsäbel und anderweitige Ausrüstung scheint fortgefallen zu sein.
Es würde Kierkegaard auch kaum ähneln, sich in seinen Tagebüchern über eine Nacht im Bordell zu äußern, denn zu seinen sexuellen Neigungen hatte er nicht nur in seiner Jugend, sondern das ganze Leben lang ein zugeknöpftes Verhältnis. Nie hätte es ihm, wie etwa Hans Christian Andersen, einfallen können, die Nachwelt mit Aufzeichnungen über seine schmerzenden Testikel zu belästigen, im Kalender ein Kreuz für jeden Onanietag zu setzen oder gar wie Strindberg sorgfältig sein erigiertes Glied mit einem Lineal zu messen und beim Arzt anzufragen, ob 16 Zentimeter über oder unter dem Durchschnitt lägen. Diesem heiklen Thema kommt Kierkegaard in einer Aufzeichnung aus dem Jahre 1843 am nächsten, in der er bekennt, daß der einzige, mit dem er »jemals liederlich geredet hat«, ein 74jähriger »China-Captain« sei, der als Stammgast im Café Mini gesessen und mit all den Mädchen geprahlt habe, die er im Laufe der Zeit zwischen Manila und London flachgelegt hätte. Er habe ihnen gerne ein »Glas Grog« ausgegeben, denn das hätten sie gemocht. Kierkegaard glaubt ihm nicht ganz, »denn es ist eine Reinheit in ihm, die für ihn spricht«, sein »Ausdruck ist deshalb eher humoristisch als liederlich«. Ungewiß ist auch, ob liederliche Reden gehalten worden sind, als Kierkegaard Mitte April 1836 mit dem Polizeikommissar Jörgen Jörgensen zusammen war, dessen Trunksucht deutlich an den »Rändern der Lippen« zu erkennen war und der hinter einer Batterie von Flaschen bitter-sentimental verkündet hatte, daß das halbe Leben »dazu da sei, um zu leben, und das zweite halbe, um zu bereuen«. Man hat den Eindruck, daß der junge Theologiestudent eher Betrachter als Teilnehmer ist und selbst nicht soviel zu bereuen hat; man kann sich nicht ganz des Eindrucks erwehren, daß, während es den Vater ob seiner Jugendsünden, die er bitter bereut hat, gereute, der Sohn bereute, daß er niemals irgend etwas begangen habe, das zu bereuen sich lohnte. In der klassischen dänischen Literatur, in der man sonst so ungemein viel tratscht, gibt es niemanden, der irgend etwas erwähnt, was auch nur Schemen eines ausschweifenden Kierkegaard andeutet.
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Autoren-Porträt von Joakim Garff
Joakim Garff, geboren 1960, promovierte 1990 an der Universität Kopenhagen, lehrt seit 1994 am Søren Kierkegaard Research Center in Kopenhagen, ist Mitherausgeber von Søren Kierkegaards Skrifter und war 1989 -1999 auch Mitherausgeber der Kierkegaardiana.
Bibliographische Angaben
- Autor: Joakim Garff
- 2004, 960 Seiten, 32 Abbildungen, Maße: 15,4 x 22,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Herbert Zeichner, Hermann Schmid
- Verlag: HANSER
- ISBN-10: 3446204792
- ISBN-13: 9783446204799
- Erscheinungsdatum: 15.03.2004
Rezension zu „Sören Kierkegaard “
"Das beste und umfassendste Buch über Kierkegaards Leben" (F.A.Z.)"Die erste umfassende Biografie des großen Außenseiters, geschrieben von seinem besten Kenner, ist eine fesselnde Expedition in die Bizarrerien des Denkens." (Welt am Sonntag, Susanne Kunckel)
"Es ist dem Biographen Garff gelungen, detektivisch all die Indizien zur Sprache zu bringen, die das ganze Werk des dänischen Philosophen als einen 'weitverzweigten Entwicklungsroman' lesen lassen." (Süddeutsche Zeitung, Manfred Geier)
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