Soundtrack meiner Kindheit
Anhand der Musik, mit der er in der DDR aufgewachsen ist, blickt Schauspieler Jan Josef Liefers zurück auf Kindheit und Jugend: ehrlich, unterhaltsam und ohne Spur von Ostalgie.
Die Hits der Rockbands wie Karat, Puhdys und v.a. Silly setzt er...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Soundtrack meiner Kindheit “
Anhand der Musik, mit der er in der DDR aufgewachsen ist, blickt Schauspieler Jan Josef Liefers zurück auf Kindheit und Jugend: ehrlich, unterhaltsam und ohne Spur von Ostalgie.
Die Hits der Rockbands wie Karat, Puhdys und v.a. Silly setzt er in Bezug zu ganz persönlichen Erlebnissen.
Klappentext zu „Soundtrack meiner Kindheit “
Ein ganz persönliches Buch über eine Kindheit in der DDR."Ich wurde im November 1963 eines Nachts unter nicht sonderlich spektakulären Umständen in Dresden gezeugt ... Die Schwangerschaft kam alles andere als gelegen. Meine Eltern waren mitten im Studium, hatten keine eigene Wohnung, hätten sich auch keine leisten können, und ihre Zukunft war ziemlich ungewiss, um nur zwei vernünftige Argumente gegen so frühen Nachwuchs aufzuzählen. Aber nach einigen halbherzigen Versuchen aus dem reichen Schatz häuslicher Selbsthilfemittel wie sehr heiße Bäder, Rotwein mit Nelke und anschließenden Sprüngen vom Kleiderschrank war klar, die Frucht saß fest, das Zellklümpchen zeigte sich unbeeindruckt und teilte sich normgerecht weiter. Die junge Frau war kerngesund, und - Schauspielerin hin oder her - biologisch sprach nichts gegen die erfolgreiche Erfüllung der von der Natur für sie vorgesehenen Aufgaben.
"Anhand der Musik, die ihn beeindruckt, begleitet und geprägt hat, blickt der bekannte Schauspieler Jan Josef Liefers auf seine Kindheit und Jugend zurück. Er stellt nicht nur große Rockbands der DDR und ihre Lieder vor, sondern setzt sie zugleich unmittelbar in Beziehung zu wichtigen Ereignissen in seinem Leben und seiner Karriere. So entsteht der sehr persönliche Einblick in den ganz normalen Alltag eines jungen Menschen im Osten, der sich seine eigenen Gedanken machte und versuchte, seinen Weg zu gehen, ohne sich allzu sehr zu verbiegen.Ein authentisches "DDR-Kind", das später in ganz Deutschland bekannt wurde, erzählt sein Stück deutsche Geschichte - ehrlich, charmant, unterhaltsam und frei von jeglicher "Ostalgie".
"Gegen Abend - die Sonne beging mal wieder Republikflucht und haute in den Westen ab - läuteten die Glocken irgendeiner benachbarten Kirche zeitgleich mit meinem ersten Schrei ... Samstag, der 8. August 1964 um 18.00 Uhr wurde als amtliche Geburtsstunde in den Klinikpapieren vermerkt."
Anhand der Musik, die ihn beeindruckt, begleitet und geprägt hat, blickt Jan Josef Liefers auf seine Kindheit und Jugend zurück. Er stellt nicht nur große Rockbands der DDR und ihre Lieder vor, sondern setzt sie zugleich unmittelbar in Beziehung zu wichtigen Ereignissen in seinem Leben und seiner Karriere. So entsteht der sehr persönliche Einblick in den ganz normalen Alltag eines jungen Menschen im Osten, der sich seine eigenen Gedanken machte und versuchte, seinen Weg zu gehen, ohne sich allzu sehr zu verbiegen. Ein authentisches "DDR-Kind", das später in ganz Deutschland bekannt wurde, erzählt sein Stück deutsche Geschichte - ehrlich, charmant, unterhaltsam und frei von jeglicher "Ostalgie".
Anhand der Musik, die ihn beeindruckt, begleitet und geprägt hat, blickt Jan Josef Liefers auf seine Kindheit und Jugend zurück. Er stellt nicht nur große Rockbands der DDR und ihre Lieder vor, sondern setzt sie zugleich unmittelbar in Beziehung zu wichtigen Ereignissen in seinem Leben und seiner Karriere. So entsteht der sehr persönliche Einblick in den ganz normalen Alltag eines jungen Menschen im Osten, der sich seine eigenen Gedanken machte und versuchte, seinen Weg zu gehen, ohne sich allzu sehr zu verbiegen. Ein authentisches "DDR-Kind", das später in ganz Deutschland bekannt wurde, erzählt sein Stück deutsche Geschichte - ehrlich, charmant, unterhaltsam und frei von jeglicher "Ostalgie".
Lese-Probe zu „Soundtrack meiner Kindheit “
Soundtrack meiner Kindheit von Jan Josef LiefersVorspann
Nach dem Fall der Mauer verbrachte ich viel Zeit in Westberlin.
Ich besuchte eine junge Frau, in die ich mich verliebt hatte. Sie stammte aus Ostberlin, war aber schon vor einem Jahr in den Westen gegangen. Jetzt bewohnte sie ein Zimmer in einer WG in Kreuzberg 36. Frida war, wie ich fand, eine begabte Fotografin.
Aber oft bummelte ich auch nur ziellos durch die Straßen und gewöhnte mich an die neue Normalität. Die Währungsunion hatte noch nicht stattgefunden, und die Mark der DDR war genau das, wofür wir sie auch im Osten schon gehalten hatten: Spielgeld – eine reine Binnenwährung, mit der man sonst nirgends etwas anfangen konnte. Die tumultartigen Szenen der ersten Tage vor den Auszahlungsstellen des sogenannten Begrüßungsgeldes fand ich zwar verständlich, waren mir aber irgendwie auch peinlich, und so hatte ich mich noch nirgendwo angestellt, um mir die hundert Westmark abzuholen. Ich war auf Einladungen angewiesen oder auf illegalen Umtausch mit phantastischen Wechselkursen von bis zu zwanzig Ostmark für eine Westmark.
Irgendwann im November geriet ich auf einem meiner Streifzüge in eine große Buchhandlung. Schon immer konnte ich viel Zeit in diesen Läden vertrödeln. Auch diesmal fand ich einiges, das mich interessierte, aber nichts, was ich mir hätte leisten können. Ich hatte nur noch Klimpergeld in der Hosentasche, zusammengenommen rund drei D-Mark. Ungewohnte Münzen, noch schwer zu unterscheiden.
Eigentlich wollte ich die in eine Schale Café au lait investieren. Den tranken damals alle, die ich in Westberlin kannte. Probiert hatte ich ihn, als Frida mich mal wieder mit ihrem alten Civic um die Häuser fuhr, um irgendwo ein spätes Frühstück einzunehmen. Mir schmeckte er gut. Schon weil ich Frühstückengehen aus dem Osten nicht
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kannte, schon gar nicht spätnachmittags. Inzwischen wurde dieses très français im bol servierte Getränk vomitalienischen Caffè Latte im Glas verdrängt – Mitteding, wie ihn neulich ein Kioskbetreiber aus Alt-Moabit in Anspielung auf den hippen Berliner Stadtteil Mitte nannte – und ist wie so vieles, das ich sah, von der Bildfläche verschwunden.
In der Buchhandlung gab es hinter einer Säule eine antiquarische Abteilung mit gebrauchten oder beschädigten Büchern zu reduzierten Preisen. Hier stieß ich ziemlich schnell auf einen abgegriffenen, schmalen Band mit dem Titel In the Country of Last Things. Wie passend, dachte ich, genau da komm ich gerade her. Ohne zu wissen, worum es in diesem Buch ging, hielt ich es für ein Zeichen. Das Land der letzten Dinge sollte fünf Mark kosten.
Ich gebe zu, ich habe es geklaut. Ich bin nicht stolz darauf und entschuldige mich bei dem unbekannten Buchhändler. Abgesehen davon, dass man sowieso niemanden beklauen soll, trifft das insbesondere auf Leute zu, die mit Büchern handeln. Ich lief ziemlich lange um viele Straßenecken, bis ich sicher war, dass niemand mich mehr verfolgen konnte. Ich hatte kein gutes Gefühl dabei, aber jetzt war es überstanden, verjährt sozusagen, in ein paar Minuten. Mein Ziel war das Schwarze Café in der Kantstraße.
Zu Fuß dauerte es etwa eine halbe Stunde, aber was anderes kam aus bekannten Gründen nicht in Frage. Dort bestellte ich die geplante Schale Milchkaffee und nahm meine Beute in Augenschein. Wie sein Titel war auch das ganze Buch in Englisch verfasst. Das passte nicht so recht zum Namen des Autors, der für mich sehr deutsch klang. Paul Auster. Der Name sagte mir sonst nichts. Ich begann zu lesen, kam aber nur langsam vorwärts. Immer wieder fehlten mir einzelne Vokabeln oder die Bedeutung ganzer Redewendungen, sodass es zunehmend schwierig wurde, Zusammenhänge und deren Sinn zu verstehen. Das ärgerte mich. Vor allem deshalb, weil ich kurz zuvor gemeinsam mit einer promovierten Anglistin und Dramaturgin ein englischsprachiges Theaterstück für den Henschel Verlag ins Deutsche übersetzt hatte und überzeugt war, von ihr eine Menge dazugelernt zu haben. Aber es reichte nicht. Ich beschloss, alles, was ich nicht verstand, später nachzuschlagen, und legte das Buch zur Seite.
Inzwischen kenne ich Paul Auster und auch sein Werk.
Wir haben auf einigen Lesereisen gemeinsam aus seinen Romanen gelesen, er auf Englisch, ich auf Deutsch. Bei unserer letzten Begegnung im September 2008 in Berlin erzählte ich ihm von meinem Vorhaben, selbst ein Buch zu schreiben.
Hast du schon was ?, fragte er.
Nichts. Nur den Titel.
Er sagte, er habe noch nie auch nur eine Zeile schreiben können, ohne sich vorher über den Titel klar zu sein.
Also, wie soll es heißen?
Soundtrack meiner Kindheit.
Schreib es!
Dann erzählte ich ihm die Geschichte von dem geklauten Buch und fragte, ob er was dagegen habe, wenn ich seine ersten Zeilen als Epigraph verwende. Er sagte, im Gegenteil, sehr gerne, er fühle sich geehrt und wünsche mir viel Glück.
Ein Geschenk von ihm also. Ein Talisman vielleicht.
Danke dafür, Paul, und die Ehre ist ganz meinerseits.
Fangen wir an.
Aufblende
Als ich vierzig wurde, schenkte mir mein Vater eine Filmrolle.
Sie sah aus, als stammte sie aus einem anderen Jahrhundert, und das stimmte auch. Die Rolle enthielt Fragmente eines Schmalfilms, den er während meiner Kindheit gedreht hatte. Alles Material, was noch verwendbar war, hatte er einigermaßen chronologisch aneinandergereiht. An diesem Tag musste ich zum ersten Mal in meinem Leben schlucken, angesichts der Zeit, die schon vergangen war. Mir wurde klar, dass auch ich aus einem anderen Jahrhundert stammte. Die letzte Generation, die das von sich sagen konnte, badete im Sommer noch in hochgeschlossenen, gestreiften Strampelanzügen und hatte außerdem zwei Weltkriege vor sich.
Ein acht Millimeter breiter und dreiundvierzig Minuten langer Film, gewickelt auf eine Plastikspule. Mein Vater kannte damals bereits die Diagnose, die seine Ärzte ihm gestellt hatten, und er begann behutsam und unauffällig damit, die Landkarte mit dem Gelände zu vergleichen, klar Schiff zu machen, aufzuräumen, herauszukramen, zusammenzusetzen, weiterzugeben. Er hatte diesen Film selbst gedreht mit seiner russischen Zenit Quarz 8, einem für ihn typischen, wahrscheinlich über seine Verhältnisse gehenden Kompensationskauf kurz nach der Scheidung von meiner Mutter im Jahr 1968. Ich kann mich gut an diese Kamera erinnern, ein beeindruckendes und einschüchterndes Ungetüm, das ich kaum halten konnte, so schwer war es. Man musste diese Kamera mit der Hand aufziehen, was gleichermaßen Kraft und Vorsicht verlangte. Es war genau wie bei den Spieluhren meiner Oma zu Weihnachten. Man musste exakt den Punkt spüren, jenseits dessen die Feder überdreht, die Mechanik zerstört, das ganze Ding ruiniert wäre. War die Kamera bis zum Anschlag aufgezogen, ratterte und filmte sie ein Weilchen, wurde bald langsamer, blieb schließlich stehen, und man musste wieder aufziehen.
Mein Vater, die Zenit im Anschlag, ein immer ersehnter, aber seltener Gast meiner Kindheit. Jetzt, an meinem vierzigsten Geburtstag und anderthalb Jahre vor seinem Tod, gab er mir diesen Film. Seinen . . . unseren Film. Auch geschnitten hat mein Vater den Film selbst. Er beginnt schwarz-weiß und wird irgendwann farbig. ORWO Color. Der revolutionäre Farbfilm aus Wolfen. Weltniveau natürlich, wie alle Errungenschaften der Deutschen Demokratischen Republik.
Meine Kindheit ist ein Stummfilm. Die Bilder flimmern zappelnd und stolpernd, wie in einem dieser uralten Streifen von 1910. Sähe man nicht die Mode und die Architektur der sechziger und siebziger Jahre, man könnte meinen, jeden Moment käme Henny Porten mit Bela Lugosi um die Ecke. Obwohl die Gründe dafür auf der Hand liegen, irritiert es mich, dass man nichts hört. Als hätte jemand die Tonspur gelöscht, um mich zu prüfen. Allein und ohne Geduld schaue ich mir den Film einmal komplett an. Geräuschlos zeitspringt er durch meine Kindheit und Jugend. Dabei merke ich, dass ich mich an fast alles sehr gut erinnern kann. Ein Familienfilm eben, der kleine Junge wird langsam älter, Oma, Opa, Mama und Papa ebenfalls. Ich kenne die Hauptdarsteller, aber vieles sehe ich zum ersten Mal.
Zum Beispiel, was zum Zeitpunkt der Aufnahmen hinter mir passierte. Was hängt da für eine Fahne ? Wer geht da durchs Bild, und was hat er in der Hand? Was ist das für ein Gebäude, da rechts? Und was steht dort auf diesem Schild? Dahinten, in der Unschärfe, kotzt da einer? Ach nein, der spielt Saxophon.
Der Filmemacher und Kolumnist Jörg Kalt, der drei Jahre nach mir geboren wurde und 2007 sein Leben selbst beendete, schrieb mal, es sei mit Filmen wie mit Kaffee. Was wir trinken, ist nur braunes Wasser, den Kaffee schmeißen wir in den Mülleimer. Dieser holprige Film enthält fast ausschließlich Kaffeesatz. Er folgt keiner Dramaturgie, außer einer zeitlichen. Und langsam höre ich etwas. Meinen Vater, der mir während des Filmens zuruft, was ich machen soll. Die Karussellmusik im Berliner Plänterwald. Die Gloriosa im Glockenturm des Erfurter Doms. Das Rauschen der Springbrunnen auf der Prager Straße in Dresden. Unser motivationsarmes Gemurmel während der Jugendweihe :
Ja, das geloben wir . . .
Langsam beginnt er zu klingen, der Soundtrack zum Film meines Vaters, der Soundtrack meiner Kindheit.
Copyright © 2009 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek
In der Buchhandlung gab es hinter einer Säule eine antiquarische Abteilung mit gebrauchten oder beschädigten Büchern zu reduzierten Preisen. Hier stieß ich ziemlich schnell auf einen abgegriffenen, schmalen Band mit dem Titel In the Country of Last Things. Wie passend, dachte ich, genau da komm ich gerade her. Ohne zu wissen, worum es in diesem Buch ging, hielt ich es für ein Zeichen. Das Land der letzten Dinge sollte fünf Mark kosten.
Ich gebe zu, ich habe es geklaut. Ich bin nicht stolz darauf und entschuldige mich bei dem unbekannten Buchhändler. Abgesehen davon, dass man sowieso niemanden beklauen soll, trifft das insbesondere auf Leute zu, die mit Büchern handeln. Ich lief ziemlich lange um viele Straßenecken, bis ich sicher war, dass niemand mich mehr verfolgen konnte. Ich hatte kein gutes Gefühl dabei, aber jetzt war es überstanden, verjährt sozusagen, in ein paar Minuten. Mein Ziel war das Schwarze Café in der Kantstraße.
Zu Fuß dauerte es etwa eine halbe Stunde, aber was anderes kam aus bekannten Gründen nicht in Frage. Dort bestellte ich die geplante Schale Milchkaffee und nahm meine Beute in Augenschein. Wie sein Titel war auch das ganze Buch in Englisch verfasst. Das passte nicht so recht zum Namen des Autors, der für mich sehr deutsch klang. Paul Auster. Der Name sagte mir sonst nichts. Ich begann zu lesen, kam aber nur langsam vorwärts. Immer wieder fehlten mir einzelne Vokabeln oder die Bedeutung ganzer Redewendungen, sodass es zunehmend schwierig wurde, Zusammenhänge und deren Sinn zu verstehen. Das ärgerte mich. Vor allem deshalb, weil ich kurz zuvor gemeinsam mit einer promovierten Anglistin und Dramaturgin ein englischsprachiges Theaterstück für den Henschel Verlag ins Deutsche übersetzt hatte und überzeugt war, von ihr eine Menge dazugelernt zu haben. Aber es reichte nicht. Ich beschloss, alles, was ich nicht verstand, später nachzuschlagen, und legte das Buch zur Seite.
Inzwischen kenne ich Paul Auster und auch sein Werk.
Wir haben auf einigen Lesereisen gemeinsam aus seinen Romanen gelesen, er auf Englisch, ich auf Deutsch. Bei unserer letzten Begegnung im September 2008 in Berlin erzählte ich ihm von meinem Vorhaben, selbst ein Buch zu schreiben.
Hast du schon was ?, fragte er.
Nichts. Nur den Titel.
Er sagte, er habe noch nie auch nur eine Zeile schreiben können, ohne sich vorher über den Titel klar zu sein.
Also, wie soll es heißen?
Soundtrack meiner Kindheit.
Schreib es!
Dann erzählte ich ihm die Geschichte von dem geklauten Buch und fragte, ob er was dagegen habe, wenn ich seine ersten Zeilen als Epigraph verwende. Er sagte, im Gegenteil, sehr gerne, er fühle sich geehrt und wünsche mir viel Glück.
Ein Geschenk von ihm also. Ein Talisman vielleicht.
Danke dafür, Paul, und die Ehre ist ganz meinerseits.
Fangen wir an.
Aufblende
Als ich vierzig wurde, schenkte mir mein Vater eine Filmrolle.
Sie sah aus, als stammte sie aus einem anderen Jahrhundert, und das stimmte auch. Die Rolle enthielt Fragmente eines Schmalfilms, den er während meiner Kindheit gedreht hatte. Alles Material, was noch verwendbar war, hatte er einigermaßen chronologisch aneinandergereiht. An diesem Tag musste ich zum ersten Mal in meinem Leben schlucken, angesichts der Zeit, die schon vergangen war. Mir wurde klar, dass auch ich aus einem anderen Jahrhundert stammte. Die letzte Generation, die das von sich sagen konnte, badete im Sommer noch in hochgeschlossenen, gestreiften Strampelanzügen und hatte außerdem zwei Weltkriege vor sich.
Ein acht Millimeter breiter und dreiundvierzig Minuten langer Film, gewickelt auf eine Plastikspule. Mein Vater kannte damals bereits die Diagnose, die seine Ärzte ihm gestellt hatten, und er begann behutsam und unauffällig damit, die Landkarte mit dem Gelände zu vergleichen, klar Schiff zu machen, aufzuräumen, herauszukramen, zusammenzusetzen, weiterzugeben. Er hatte diesen Film selbst gedreht mit seiner russischen Zenit Quarz 8, einem für ihn typischen, wahrscheinlich über seine Verhältnisse gehenden Kompensationskauf kurz nach der Scheidung von meiner Mutter im Jahr 1968. Ich kann mich gut an diese Kamera erinnern, ein beeindruckendes und einschüchterndes Ungetüm, das ich kaum halten konnte, so schwer war es. Man musste diese Kamera mit der Hand aufziehen, was gleichermaßen Kraft und Vorsicht verlangte. Es war genau wie bei den Spieluhren meiner Oma zu Weihnachten. Man musste exakt den Punkt spüren, jenseits dessen die Feder überdreht, die Mechanik zerstört, das ganze Ding ruiniert wäre. War die Kamera bis zum Anschlag aufgezogen, ratterte und filmte sie ein Weilchen, wurde bald langsamer, blieb schließlich stehen, und man musste wieder aufziehen.
Mein Vater, die Zenit im Anschlag, ein immer ersehnter, aber seltener Gast meiner Kindheit. Jetzt, an meinem vierzigsten Geburtstag und anderthalb Jahre vor seinem Tod, gab er mir diesen Film. Seinen . . . unseren Film. Auch geschnitten hat mein Vater den Film selbst. Er beginnt schwarz-weiß und wird irgendwann farbig. ORWO Color. Der revolutionäre Farbfilm aus Wolfen. Weltniveau natürlich, wie alle Errungenschaften der Deutschen Demokratischen Republik.
Meine Kindheit ist ein Stummfilm. Die Bilder flimmern zappelnd und stolpernd, wie in einem dieser uralten Streifen von 1910. Sähe man nicht die Mode und die Architektur der sechziger und siebziger Jahre, man könnte meinen, jeden Moment käme Henny Porten mit Bela Lugosi um die Ecke. Obwohl die Gründe dafür auf der Hand liegen, irritiert es mich, dass man nichts hört. Als hätte jemand die Tonspur gelöscht, um mich zu prüfen. Allein und ohne Geduld schaue ich mir den Film einmal komplett an. Geräuschlos zeitspringt er durch meine Kindheit und Jugend. Dabei merke ich, dass ich mich an fast alles sehr gut erinnern kann. Ein Familienfilm eben, der kleine Junge wird langsam älter, Oma, Opa, Mama und Papa ebenfalls. Ich kenne die Hauptdarsteller, aber vieles sehe ich zum ersten Mal.
Zum Beispiel, was zum Zeitpunkt der Aufnahmen hinter mir passierte. Was hängt da für eine Fahne ? Wer geht da durchs Bild, und was hat er in der Hand? Was ist das für ein Gebäude, da rechts? Und was steht dort auf diesem Schild? Dahinten, in der Unschärfe, kotzt da einer? Ach nein, der spielt Saxophon.
Der Filmemacher und Kolumnist Jörg Kalt, der drei Jahre nach mir geboren wurde und 2007 sein Leben selbst beendete, schrieb mal, es sei mit Filmen wie mit Kaffee. Was wir trinken, ist nur braunes Wasser, den Kaffee schmeißen wir in den Mülleimer. Dieser holprige Film enthält fast ausschließlich Kaffeesatz. Er folgt keiner Dramaturgie, außer einer zeitlichen. Und langsam höre ich etwas. Meinen Vater, der mir während des Filmens zuruft, was ich machen soll. Die Karussellmusik im Berliner Plänterwald. Die Gloriosa im Glockenturm des Erfurter Doms. Das Rauschen der Springbrunnen auf der Prager Straße in Dresden. Unser motivationsarmes Gemurmel während der Jugendweihe :
Ja, das geloben wir . . .
Langsam beginnt er zu klingen, der Soundtrack zum Film meines Vaters, der Soundtrack meiner Kindheit.
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Autoren-Porträt von Jan J. Liefers
Jan Josef Liefers, 1964 in Dresden geboren, ging nach einer Tischlerlehre an der Semperoper 1983 an die Ernst-Busch-Schauspielschule nach Berlin. Danach spielte er drei jahre am Deutschen Theater. Nach der Wende wechselte er ans Thalie Theater Hamburg. Seinen Durchbruch beim Film schaffte er 1996 mit seiner Rolle in "Rossini". Viele weitere Kinofilme wie "Knockin' on Heaven's Door", "Jack's Baby" oder "Der Baader Meinhof Komplex" folgten. Seit 2002 begeistert er reglmäßig ein Millionenpublikum als Rechtsmediziner Prof. Karl-Friedrich Boerne im "Tatort".
Bibliographische Angaben
- Autor: Jan J. Liefers
- 2009, 2. Neuausg., 336 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 13,4 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Rowohlt
- ISBN-10: 3498039334
- ISBN-13: 9783498039332
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