Stadt, Land - Schluss
Weit weg von zu Hause, drei kleine Kinder. Und der Ehemann nie da. Deutsche Erstausgabe
Alistair liebt das Landleben über alles und kauft ein Haus dort. Seine Frau Judith, Mutter von zwei Kindern und erfolgreiche Journalistin, muss mitziehen. Doch kaum angekommen, muss Alistair geschäftlich zurück nach London. Und Judith bleibt...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Stadt, Land - Schluss “
Alistair liebt das Landleben über alles und kauft ein Haus dort. Seine Frau Judith, Mutter von zwei Kindern und erfolgreiche Journalistin, muss mitziehen. Doch kaum angekommen, muss Alistair geschäftlich zurück nach London. Und Judith bleibt allein zurück im Wahnsinn des Landlebens. Sehr vergnüglich!
Klappentext zu „Stadt, Land - Schluss “
Judith O'Reilly liebt ihr Leben in London über alles. Nur eines liegt ihr noch mehr am Herzen: das Glück ihrer Familie. Deshalb folgt sie dem Traum ihres Mannes und zieht, hochschwanger mit dem dritten Kind, in ein Cottage in Northumberland - und lernt High Heels und Karriere durch Schafescheren und Gummistiefel zu ersetzen.
»Mein Mann war derjenige, der unbedingt auf dem Land leben wollte. Als ich meinen jüngsten Sohn fragte, was er davon hält, sagte er mit großen ängstlichen Augen: Ein Bär könnte mich fressen! Da gibt es keine Bären , beruhigte ich ihn, schaute aus dem Fenster in die Dunkelheit und hörte das Brummen «
Lese-Probe zu „Stadt, Land - Schluss “
Stadt, Land – Schluss von Judith O’ReillyDienstag, 23. August 2005
Autobahnkoller
Als wir gestern Abend das grandiose Gewucher der Großstadt hinter uns ließen, überlegte ich, ob ich wohl meinen Mann erschlagen und auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren könnte. Mir war schon klar, dass das nicht ganz fair wäre – ich hatte dem Umzug zugestimmt, wenn ich es auch nicht so gemeint hatte. »Die Hormone haben mein Gehirn zerfressen, Euer Ehren.« Könnte klappen. Oder vielleicht: »Er hat mich jahrelang geschlagen, Euer Ehren, es war mir nur total entfallen. Im Auto habe ich mich plötzlich wieder erinnert, und da ist mir die Sicherung durchgebrannt.« Tatsächlich habe ich in der ganzen Zeit nur zwei Formen der Misshandlung erlitten: durch seine CD-Sammlung und durch die Tatsache, dass er nur zwei Sachen kochen kann – Nudeln mit Fisch und Nudeln mit Speck und Lauch. Ich bin mir nicht sicher, ob das als hinreichende Rechtfertigung für einen Mord gelten würde. Vor allem, wenn die Geschworenen auf einer Kostprobe bestünden, die fiele nämlich ziemlich positiv aus.
Wir sind jetzt so lange verheiratet, und nach all den Jahren stellt sich plötzlich heraus, dass er etwas ganz anderes will als ich. Er will auf dem Land leben. Du gute Güte. Welcher Teufel hat mich nur geritten, mich auf eine so absurde Idee einzulassen? Wenn mein Cousin, der Priester, gefragt hätte: »Willst du ihn zu deinem Mann nehmen, in Gesundheit wie in Krankheit, in Reichtum wie in Armut, im Norden wie im Süden?«, hätte ich gesagt: »Moment mal, ein verarmter Invalide ist eine Sache …« Ich hätte nie auch nur eine Sekunde gedacht, dass er uns alle einpacken und verschleppen könnte. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass er mir zumuten könnte, aus London wegzugehen, schon gar nicht
... mehr
in die Ödnis des Nordens. Wer will schon im Norden leben? Leute von dort. Aber ich doch nicht – ich bin schon ewig keine Nordengländerin mehr. Ich liebe London – es ist genau der Ort, wo ich sein will. Er hat London erduldet. Er glaubt, wenn wir nach Northumberland gehen, wird das Leben perfekt. Das Leben ist nie perfekt. Draußen war nichts als rasende Autos und an der Schnellstraße aufgereihte Natriumdampflampen, in meinem Kopf nur ein diffuser Strom von Groll und Heckleuchten. Ich legte die Hände auf meinen schwangeren Bauch und senkte den Blick. Ich starrte auf den falschen Diamanten meines Verlobungsrings, gleich neben dem Ehering mit dem fehlenden Brillantsplitter. Ich dachte: Wenn ich ihn umbringe, wie soll ich es den Kindern erklären? »Jungs, die gute Nachricht ist, wir fahren nach London zurück, die schlechte ist, dass euer Vater hierbleibt. Auf diesem Rastplatz, unter dem Busch da. Passt mal auf, wir binden ein Blumensträußchen an den Zaun. So, macht noch mal schön Winkewinke.«
Die verflixte A 1 hob meine Laune auch nicht gerade. Da stehen überall Schilder. Schilder wie: »168 Unfalltote in 3 Jahren« oder: »Auf den nächsten 7 Meilen 42 Unfalltote in 3 Jahren«. Vermutlich sollen sie bewirken, dass man, wenn man ankommt, denkt: Es könnte schlimmer sein, ich habe noch Glück, dass ich nicht tot bin. Ich konnte Roadmovies noch nie leiden – die endlose Fahrerei, die tiefsinnigen, geistreichen Gespräche auf dem Weg irgendwohin, wo der Held aus irgendeinem Grund hinwill, das skurrile Ziel selbst –, und es war ein ziemlicher Schock, mich plötzlich in einem wiederzufinden. Ich wollte mein Popcorn liegenlassen und mir was anderes angucken gehen – vielleicht irgendwas mit drastischen Sexszenen und Hardcore-Gewalt, mit Sicherheit keine Liebeskomödie, wo zwei trottelige Niemande am Ende heiraten. Vielleicht sollte ich es mal mit Star Wars probieren, jetzt, wo der Zweijährige und der Vierjährige schlafen, dachte ich. Andererseits wollte ich nichts sehen, wo ein Held seine Bestimmung erfüllt. Ich fühlte mich in meinem Leben eher als Statistin – das konnte nicht gut sein. Bestimmt war die Gage miserabel.
Schwerfällig langte ich durch die Lücke zwischen unseren Sitzen, um die intergalaktischen Schlachtenlärm speienden DVD-Spieler meiner Söhne auszuschalten, und als sich die Stille mit dem Dunkel vereinte, guckte mein Mann zu mir herüber und schenkte mir ein unwiderstehliches, fröhliches Lächeln. Es erinnerte mich dran, dass ich ihn liebte und er dafür nicht mal etwas zu sagen brauchte. Ich dachte: Ich hasse es, wenn du das tust. Mein Leben war in einem Möbelwagen, mit einem Mann mit Latzhosen und einem Faible für erotische Kunst. Ich war eine dicke Frau in einem Auto auf dem Weg zu einem Ziel, wo ich nicht hinwollte, mit einem Ehemann, zwei kleinen Söhnen, einem Fötus und einer Katze. »Sprich mir nach: Ich bin nicht dick, ich bin schwanger.« Wenn ich nicht schwanger wäre, hätte ich mich nie auf dieses lächerliche Landleben-Experiment eingelassen. Ich hoffe nur, dass ich dieses Baby nicht hassen werde – es könnte meine Energie davon abziehen, meinen Mann zu hassen.
Er sah wieder auf die Straße, guckte dann in die Spiegel, blinkte und zog auf die Überholspur hinüber. Ich spürte die Beschleunigung, als wir an einem riesigen Speditionslaster vorbeifuhren und die gleißenden Scheinwerfer hinter uns ließen. »Wie geht’s dir?«, fragte er. Mein Magen krampfte, meine Füße waren eingeschlafen, und ich kam nicht dran, um sie zu massieren. Seit unserer Abfahrt war ich immer wieder in Tränen ausgebrochen. Ich faltete meine alte, schwarze Seidenjacke sorgsam auf Kissengröße zusammen, lehnte den Kopf dagegen und schloss die Augen.
Vor über zwanzig Jahren waren mein Mann und ich im selben Seminar über amerikanische Politik. Ich erinnere mich an ihn, weil er immer mit dem Stuhl kippelte und nie eine Antwort wusste. Er hat nicht die leiseste Erinnerung an mich, die ich immer ordentlich dasaß und eifrig bestrebt war. Nach dem Studium trafen wir uns in Newcastle wieder, wo ich ein Volontariat bei einer Lokalzeitung machte. Ich entsinne mich nicht, auch nur einen einzigen Ausflug nach Northumberland genossen zu haben – ganz im Gegensatz zu ihm, der den Nordosten vom ersten Tag an liebte. Sobald ich konnte, ging ich nach London zurück, und er, in den Klauen der Liebe, folgte mir.
Ich mache mir nicht viel aus Urlaub, dieser ganzen Planerei und Reiserei, aber ihm ist das wichtig. Jedes Jahr nahmen wir uns für eine Woche ein Cottage in Northumberland. Bei einem dieser Urlaubsaufenthalte, vor fast fünf Jahren, entdeckte er eine Zeitungsannonce: »Cottage zu verkaufen«. Ein Grundbesitzer, dem auch das lokale Schloss gehörte, hatte eine Farm gekauft. Der Schlossherr wollte die zur Farm gehörenden Felder und die große Scheune. Er behielt das Cottage Nr. 1, in dem der ehemalige Farmverwalter und dessen Frau jetzt zur Miete wohnten, verkaufte aber das leerstehende Nachbarcottage. Es war ein total verregneter Dezembertag, der endlose Himmel von grauen Wolken verhangen. Insgesamt acht Cottages aus Basalt und Sandstein mit Schieferdächern standen in einer Reihe auf einer kleinen Anhöhe mit Blick auf heckenumfriedete Weiden. Links schützte sie ein dunkler Wall von Bäumen vor dem Nordwind, und vorn trennte sie die Zufahrtsstraße von Kohleschuppen und dahinterliegenden Gärten.
Der ehemalige Farmverwalter gab uns den Schlüssel, damit wir uns das Cottage anschauen konnten. Vom Wohnzimmerfenster aus sah man nichts als die Kohleschuppen, aber der Blick aus den Fenstern im Obergeschoss war glorios: eine endlose Weite aus Land, Meer und Himmel. Wir standen im leeren Eheschlafzimmer und guckten durchs Dämmerlicht bis zum blaugrau gemaserten Horizont. Mein Mann sagte: »Wir sollten es nehmen. Nach allem, was wir hinter uns haben, sollten wir’s einfach tun. Wir haben uns doch gelobt, unser Leben anders zu leben.«
Als wir wieder zu dem Verwalterehepaar gingen, um den Schlüssel zurückzubringen, war das letzte Tageslicht schon weg. Das Wohnzimmer war dunkel und gemütlich, bewacht von Porzellanvögeln und Enkelfotos an den Wänden. Die kleine alte Dame machte uns Tee, und wir aßen an ihrem Kohlefeuer Früchtebrot. Mein Mann lehnte in ihrem Sofa, die langen Beine gespreizt, die Knie an die Couchtischkante gepresst, und lachte über eine Geschichte, die ihm der Exverwalter erzählte. Die beiden wirkten, als würden sie sich seit Jahren kennen. »Wäre es Ihnen recht, wenn wir versuchen
würden, das Haus nebenan zu kaufen, um in den Ferien herzukommen?
«, fragte ich. »Wir wären nicht immer hier.« Er lächelte uns an. »So ist das heutzutage«, sagte er. Wie sich herausstellte, wohnten nur die beiden Alten und noch eine andere Frau ständig in der Häuserreihe, alle übrigen Cottages waren Ferienhäuser. Das Cottage zu kaufen brachte uns an die Grenze unserer finanziellen Möglichkeiten. Es bedeutete, dass wir uns in London kein größeres Haus leisten konnten. Ich ließ mich trotzdem darauf ein, weil es ihn glücklich machte. Damals war ich auch gerade schwanger. Offenbar schrumpft mein Gehirn auf Walnussgröße, wenn ich schwanger bin. Ich weiß noch genau, was mein Mann sagte, wortwörtlich. Er nahm mich in die Arme und sagte: »Keine Angst. Es ist nicht die Spitze des Eisbergs. Ich werde dich nicht beknien, ganz hinzuziehen.« Ha! Manchmal, wenn man etwas getrunken hat, hechelt man das Leben von Freunden durch. Man würde nie wollen, dass sie es hören, weil sie dann nämlich nicht mehr mit einem befreundet sein wollten. Man gibt Prognosen ab, wer sich scheiden lassen und wer zusammenbleiben wird. Vom hohen Ross herab. Man selbst zählt sich zu denen, die für immer in Treue zueinanderstehen, und kann sich ganz schön blöd vorkommen, wenn das Spiel seinen Lauf nimmt und man am Ende in einer ganz anderen Kategorie landet. Es gibt Varianten: »Wessen Kinder werden sich als Monster entpuppen?«, »Wer wird am meisten verdienen?«, »Wer von uns wird als Erster sterben?« Diese letzte Variante spielt man erst, wenn man alt genug ist, um die Frage ernst zu nehmen. Aber das uninteressanteste all dieser Spiele war in meinen Augen immer: »Wer wird aufs Land ziehen?« Und was das Schlimmste ist: Diese Runde haben wir verloren.
Eine Zeitlang fuhren wir zu einem Londoner Therapeuten. Ich ging rein, während mein Mann im Auto sitzen blieb und schlief. Dann kam ich wieder raus. Manchmal in Tränen aufgelöst. Wir fuhren zu einem Café im East End, wo es Kaffee in großen gelben Tassen, warmes Ciabatta und hausgemachte Beerenmarmeladen gab. Da ging es mir dann wieder besser. Mein Mann sagte Sachen wie: »Ich werde nie verstehen, warum du jemanden dafür bezahlst, dich zum Weinen zu bringen.« Oder: »Wenn du nicht in diese Therapie gehen würdest, bräuchtest du dich hinterher nicht wieder aufzupäppeln.« Ich lachte. Mir ging es wieder besser, weil er mich zum Lachen brachte, nicht weil ich so auf hausgemachte Marmeladen stand. Obwohl die wirklich lecker waren. Einmal, an einem Februartag, kam ich aus der Therapie und sah ihn im Auto sitzen und zeichnen. Große Bleistiftskizzen. Sein Traumhaus: unser Feriencottage in Northumberland, per Durchbruch zum Nachbarcottage in ein richtiges Familienwohnhaus verwandelt. Er war im Geist im Paradies. Ich dachte: Schwachsinn.
Ich stand auf einer dreckigen Nordlondoner Straße mit großen edwardianischen Reihenhäusern auf beiden Seiten und überlegte, was ich tun, was ich sagen sollte. Ich guckte durchs offene Seitenfenster auf den am Lenkrad lehnenden Block, und mein Mann war so darauf konzentriert, ein Bad einzuzeichnen, dass er mich gar nicht hatte kommen hören. Ich wusste, was er da skizzierte – seinen Traum und meine Zukunft. Wir fuhren zum Café, setzten uns an einen Tisch ganz hinten und wärmten uns am Kaffee. Eine gelbe Rosenknospe auf dem Alu-Tisch war mit dem Zucker irgendeines Vorgängers bestreut. Trendige, hohlwangige Mütter ließen Kleinkinder umhertapsen, während sie inmitten anderer trendiger, hohlwangiger Mütter ihren Tag blitzstarteten. Ein paar Wochen zuvor hatte mir mein Mann erklärt: »Das Tolle an unserer Beziehung ist, dass wir den anderen immer voranstellen.« Ich hatte im Stillen gedacht: Du tust das. Ich nicht. Und hatte dann das Schuldgefühl mit einem Achselzucken abgeschüttelt. Jetzt nahm ich einen Schluck von meinem Cappuccino. »Also, dann red mir zu wegen dieser Hausgeschichte.« Als wir nach zehn Jahren Beziehung heirateten, dachte ich, das würde nichts ändern. Weit gefehlt. Die Ehe, das tägliche Tausenderlei des Familienlebens, schmolz uns zusammen – niemand hatte mich gewarnt, dass es so läuft. Mein Mann hörte so jäh auf, in seinem Kaffee zu rühren, dass die schwarze Brühe gegen den Löffel brandete, und sah mich an. »Ich finde, wir sollten es tun«, sagte ich. Ich dachte: Ich bin es leid, deine Träume zu blockieren. Ich dachte: Erwarte nicht, dass ich dich mag, während ich das tue. Er sagte gar nichts. Er legte den Löffel mit einem kleinen Kaffeepfützchen drin vorsichtig auf die Untertasse, griff dann nach meiner Hand und hielt sie.
Mittwoch, 24. August 2005
Ferienhaus
Wir kamen am Dienstag in den frühen Morgenstunden an, luden die Jungen in ihrem kleinen Zimmer ab, ließen die Katze in der Küche aus der Transportkiste, schlossen sorgsam die Tür hinter uns und schleppten uns in unser Zimmer hinauf. Ich rechnete gar nicht erst damit, schlafen zu können. Ich schlafe nie, wenn ich schwanger bin. Zu hormongebeutelt, zu gestresst, alles viel zu unbequem. Ich surfe nur auf der Schlafoberfläche. Koste ein Häppchen Schlaf, spucke es wieder aus. Es wurde auch dadurch nicht leichter, dass die Vorhänge lichtdicht gefüttert sein müssten, es aber nicht sind. Zwischen unserem Cottage und dem Meer liegen zwei Meilen flacher Wiesen, und alle zwanzig Sekunden knallt der Lichtstrahl eines Leuchtturms draußen auf den Farne-Inseln an die Fensterscheibe, um dann meerwärts, wieder zurück und wieder hinauszuschwenken.
Das Cottage liegt fast dreihundertfünfzig Meilen von London entfernt. So weit, dass der Möbelwagen zwei Tage brauchte. Er kam gestern an, als wir gerade den Frühstückstisch abdeckten. Der Möbelpacker, der das Kommando hatte, stieg aus dem Führerhaus und kam durch den strömenden Regen herein. Er trat sich die Füße auf der Fußmatte ab und streckte den Kopf in das kleine Wohnzimmer. »Ach, Sie haben hier schon Möbel?«, sagte er. Wir guckten alle in das kleine Zimmer mit der dreiteiligen Polstergarnitur, dem Eichenholztisch mit zwei Stühlen, der Kiefernholzkommode und dem Fernseher. »Das hier war unser Ferienhaus.« Ich hörte seinen Kollegen draußen die Metalltüren öffnen und die steile Rampe zwischen Lastwagenheck und Türschwelle in Stellung bringen. Der Boss rieb sich die schwieligen Pranken. Ich nehme an, er suchte einen Platz für die Möbel. Es gab aber keinen. Als Möbelpacker hat man wohl zwei Berufsrisiken: sich einen Bruch zu heben und zu viel Einblick in die Conditio humana zu erlangen. Leute klettern die Wohneigentumsleiter hinauf oder rutschen sie runter. Voll frischvermählter Hoffnung oder frischgeschiedener Verzweiflung, bestrebt, einander und die Nachbarn zu beeindrucken, am Beginn eines neuen Lebens. Reden sich ein, dass die Sonne jetzt heller scheinen, ihre Frau sie mehr lieben wird, dass sie in diesem Haus glücklicher sein werden als je zuvor. Ich fragte mich, wie die Packer uns wohl sahen. Dachte dann: Ich will es gar nicht wissen. »Anziehen, Kinder«, sagte ich. »Wir gehen raus.«
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2009
Die verflixte A 1 hob meine Laune auch nicht gerade. Da stehen überall Schilder. Schilder wie: »168 Unfalltote in 3 Jahren« oder: »Auf den nächsten 7 Meilen 42 Unfalltote in 3 Jahren«. Vermutlich sollen sie bewirken, dass man, wenn man ankommt, denkt: Es könnte schlimmer sein, ich habe noch Glück, dass ich nicht tot bin. Ich konnte Roadmovies noch nie leiden – die endlose Fahrerei, die tiefsinnigen, geistreichen Gespräche auf dem Weg irgendwohin, wo der Held aus irgendeinem Grund hinwill, das skurrile Ziel selbst –, und es war ein ziemlicher Schock, mich plötzlich in einem wiederzufinden. Ich wollte mein Popcorn liegenlassen und mir was anderes angucken gehen – vielleicht irgendwas mit drastischen Sexszenen und Hardcore-Gewalt, mit Sicherheit keine Liebeskomödie, wo zwei trottelige Niemande am Ende heiraten. Vielleicht sollte ich es mal mit Star Wars probieren, jetzt, wo der Zweijährige und der Vierjährige schlafen, dachte ich. Andererseits wollte ich nichts sehen, wo ein Held seine Bestimmung erfüllt. Ich fühlte mich in meinem Leben eher als Statistin – das konnte nicht gut sein. Bestimmt war die Gage miserabel.
Schwerfällig langte ich durch die Lücke zwischen unseren Sitzen, um die intergalaktischen Schlachtenlärm speienden DVD-Spieler meiner Söhne auszuschalten, und als sich die Stille mit dem Dunkel vereinte, guckte mein Mann zu mir herüber und schenkte mir ein unwiderstehliches, fröhliches Lächeln. Es erinnerte mich dran, dass ich ihn liebte und er dafür nicht mal etwas zu sagen brauchte. Ich dachte: Ich hasse es, wenn du das tust. Mein Leben war in einem Möbelwagen, mit einem Mann mit Latzhosen und einem Faible für erotische Kunst. Ich war eine dicke Frau in einem Auto auf dem Weg zu einem Ziel, wo ich nicht hinwollte, mit einem Ehemann, zwei kleinen Söhnen, einem Fötus und einer Katze. »Sprich mir nach: Ich bin nicht dick, ich bin schwanger.« Wenn ich nicht schwanger wäre, hätte ich mich nie auf dieses lächerliche Landleben-Experiment eingelassen. Ich hoffe nur, dass ich dieses Baby nicht hassen werde – es könnte meine Energie davon abziehen, meinen Mann zu hassen.
Er sah wieder auf die Straße, guckte dann in die Spiegel, blinkte und zog auf die Überholspur hinüber. Ich spürte die Beschleunigung, als wir an einem riesigen Speditionslaster vorbeifuhren und die gleißenden Scheinwerfer hinter uns ließen. »Wie geht’s dir?«, fragte er. Mein Magen krampfte, meine Füße waren eingeschlafen, und ich kam nicht dran, um sie zu massieren. Seit unserer Abfahrt war ich immer wieder in Tränen ausgebrochen. Ich faltete meine alte, schwarze Seidenjacke sorgsam auf Kissengröße zusammen, lehnte den Kopf dagegen und schloss die Augen.
Vor über zwanzig Jahren waren mein Mann und ich im selben Seminar über amerikanische Politik. Ich erinnere mich an ihn, weil er immer mit dem Stuhl kippelte und nie eine Antwort wusste. Er hat nicht die leiseste Erinnerung an mich, die ich immer ordentlich dasaß und eifrig bestrebt war. Nach dem Studium trafen wir uns in Newcastle wieder, wo ich ein Volontariat bei einer Lokalzeitung machte. Ich entsinne mich nicht, auch nur einen einzigen Ausflug nach Northumberland genossen zu haben – ganz im Gegensatz zu ihm, der den Nordosten vom ersten Tag an liebte. Sobald ich konnte, ging ich nach London zurück, und er, in den Klauen der Liebe, folgte mir.
Ich mache mir nicht viel aus Urlaub, dieser ganzen Planerei und Reiserei, aber ihm ist das wichtig. Jedes Jahr nahmen wir uns für eine Woche ein Cottage in Northumberland. Bei einem dieser Urlaubsaufenthalte, vor fast fünf Jahren, entdeckte er eine Zeitungsannonce: »Cottage zu verkaufen«. Ein Grundbesitzer, dem auch das lokale Schloss gehörte, hatte eine Farm gekauft. Der Schlossherr wollte die zur Farm gehörenden Felder und die große Scheune. Er behielt das Cottage Nr. 1, in dem der ehemalige Farmverwalter und dessen Frau jetzt zur Miete wohnten, verkaufte aber das leerstehende Nachbarcottage. Es war ein total verregneter Dezembertag, der endlose Himmel von grauen Wolken verhangen. Insgesamt acht Cottages aus Basalt und Sandstein mit Schieferdächern standen in einer Reihe auf einer kleinen Anhöhe mit Blick auf heckenumfriedete Weiden. Links schützte sie ein dunkler Wall von Bäumen vor dem Nordwind, und vorn trennte sie die Zufahrtsstraße von Kohleschuppen und dahinterliegenden Gärten.
Der ehemalige Farmverwalter gab uns den Schlüssel, damit wir uns das Cottage anschauen konnten. Vom Wohnzimmerfenster aus sah man nichts als die Kohleschuppen, aber der Blick aus den Fenstern im Obergeschoss war glorios: eine endlose Weite aus Land, Meer und Himmel. Wir standen im leeren Eheschlafzimmer und guckten durchs Dämmerlicht bis zum blaugrau gemaserten Horizont. Mein Mann sagte: »Wir sollten es nehmen. Nach allem, was wir hinter uns haben, sollten wir’s einfach tun. Wir haben uns doch gelobt, unser Leben anders zu leben.«
Als wir wieder zu dem Verwalterehepaar gingen, um den Schlüssel zurückzubringen, war das letzte Tageslicht schon weg. Das Wohnzimmer war dunkel und gemütlich, bewacht von Porzellanvögeln und Enkelfotos an den Wänden. Die kleine alte Dame machte uns Tee, und wir aßen an ihrem Kohlefeuer Früchtebrot. Mein Mann lehnte in ihrem Sofa, die langen Beine gespreizt, die Knie an die Couchtischkante gepresst, und lachte über eine Geschichte, die ihm der Exverwalter erzählte. Die beiden wirkten, als würden sie sich seit Jahren kennen. »Wäre es Ihnen recht, wenn wir versuchen
würden, das Haus nebenan zu kaufen, um in den Ferien herzukommen?
«, fragte ich. »Wir wären nicht immer hier.« Er lächelte uns an. »So ist das heutzutage«, sagte er. Wie sich herausstellte, wohnten nur die beiden Alten und noch eine andere Frau ständig in der Häuserreihe, alle übrigen Cottages waren Ferienhäuser. Das Cottage zu kaufen brachte uns an die Grenze unserer finanziellen Möglichkeiten. Es bedeutete, dass wir uns in London kein größeres Haus leisten konnten. Ich ließ mich trotzdem darauf ein, weil es ihn glücklich machte. Damals war ich auch gerade schwanger. Offenbar schrumpft mein Gehirn auf Walnussgröße, wenn ich schwanger bin. Ich weiß noch genau, was mein Mann sagte, wortwörtlich. Er nahm mich in die Arme und sagte: »Keine Angst. Es ist nicht die Spitze des Eisbergs. Ich werde dich nicht beknien, ganz hinzuziehen.« Ha! Manchmal, wenn man etwas getrunken hat, hechelt man das Leben von Freunden durch. Man würde nie wollen, dass sie es hören, weil sie dann nämlich nicht mehr mit einem befreundet sein wollten. Man gibt Prognosen ab, wer sich scheiden lassen und wer zusammenbleiben wird. Vom hohen Ross herab. Man selbst zählt sich zu denen, die für immer in Treue zueinanderstehen, und kann sich ganz schön blöd vorkommen, wenn das Spiel seinen Lauf nimmt und man am Ende in einer ganz anderen Kategorie landet. Es gibt Varianten: »Wessen Kinder werden sich als Monster entpuppen?«, »Wer wird am meisten verdienen?«, »Wer von uns wird als Erster sterben?« Diese letzte Variante spielt man erst, wenn man alt genug ist, um die Frage ernst zu nehmen. Aber das uninteressanteste all dieser Spiele war in meinen Augen immer: »Wer wird aufs Land ziehen?« Und was das Schlimmste ist: Diese Runde haben wir verloren.
Eine Zeitlang fuhren wir zu einem Londoner Therapeuten. Ich ging rein, während mein Mann im Auto sitzen blieb und schlief. Dann kam ich wieder raus. Manchmal in Tränen aufgelöst. Wir fuhren zu einem Café im East End, wo es Kaffee in großen gelben Tassen, warmes Ciabatta und hausgemachte Beerenmarmeladen gab. Da ging es mir dann wieder besser. Mein Mann sagte Sachen wie: »Ich werde nie verstehen, warum du jemanden dafür bezahlst, dich zum Weinen zu bringen.« Oder: »Wenn du nicht in diese Therapie gehen würdest, bräuchtest du dich hinterher nicht wieder aufzupäppeln.« Ich lachte. Mir ging es wieder besser, weil er mich zum Lachen brachte, nicht weil ich so auf hausgemachte Marmeladen stand. Obwohl die wirklich lecker waren. Einmal, an einem Februartag, kam ich aus der Therapie und sah ihn im Auto sitzen und zeichnen. Große Bleistiftskizzen. Sein Traumhaus: unser Feriencottage in Northumberland, per Durchbruch zum Nachbarcottage in ein richtiges Familienwohnhaus verwandelt. Er war im Geist im Paradies. Ich dachte: Schwachsinn.
Ich stand auf einer dreckigen Nordlondoner Straße mit großen edwardianischen Reihenhäusern auf beiden Seiten und überlegte, was ich tun, was ich sagen sollte. Ich guckte durchs offene Seitenfenster auf den am Lenkrad lehnenden Block, und mein Mann war so darauf konzentriert, ein Bad einzuzeichnen, dass er mich gar nicht hatte kommen hören. Ich wusste, was er da skizzierte – seinen Traum und meine Zukunft. Wir fuhren zum Café, setzten uns an einen Tisch ganz hinten und wärmten uns am Kaffee. Eine gelbe Rosenknospe auf dem Alu-Tisch war mit dem Zucker irgendeines Vorgängers bestreut. Trendige, hohlwangige Mütter ließen Kleinkinder umhertapsen, während sie inmitten anderer trendiger, hohlwangiger Mütter ihren Tag blitzstarteten. Ein paar Wochen zuvor hatte mir mein Mann erklärt: »Das Tolle an unserer Beziehung ist, dass wir den anderen immer voranstellen.« Ich hatte im Stillen gedacht: Du tust das. Ich nicht. Und hatte dann das Schuldgefühl mit einem Achselzucken abgeschüttelt. Jetzt nahm ich einen Schluck von meinem Cappuccino. »Also, dann red mir zu wegen dieser Hausgeschichte.« Als wir nach zehn Jahren Beziehung heirateten, dachte ich, das würde nichts ändern. Weit gefehlt. Die Ehe, das tägliche Tausenderlei des Familienlebens, schmolz uns zusammen – niemand hatte mich gewarnt, dass es so läuft. Mein Mann hörte so jäh auf, in seinem Kaffee zu rühren, dass die schwarze Brühe gegen den Löffel brandete, und sah mich an. »Ich finde, wir sollten es tun«, sagte ich. Ich dachte: Ich bin es leid, deine Träume zu blockieren. Ich dachte: Erwarte nicht, dass ich dich mag, während ich das tue. Er sagte gar nichts. Er legte den Löffel mit einem kleinen Kaffeepfützchen drin vorsichtig auf die Untertasse, griff dann nach meiner Hand und hielt sie.
Mittwoch, 24. August 2005
Ferienhaus
Wir kamen am Dienstag in den frühen Morgenstunden an, luden die Jungen in ihrem kleinen Zimmer ab, ließen die Katze in der Küche aus der Transportkiste, schlossen sorgsam die Tür hinter uns und schleppten uns in unser Zimmer hinauf. Ich rechnete gar nicht erst damit, schlafen zu können. Ich schlafe nie, wenn ich schwanger bin. Zu hormongebeutelt, zu gestresst, alles viel zu unbequem. Ich surfe nur auf der Schlafoberfläche. Koste ein Häppchen Schlaf, spucke es wieder aus. Es wurde auch dadurch nicht leichter, dass die Vorhänge lichtdicht gefüttert sein müssten, es aber nicht sind. Zwischen unserem Cottage und dem Meer liegen zwei Meilen flacher Wiesen, und alle zwanzig Sekunden knallt der Lichtstrahl eines Leuchtturms draußen auf den Farne-Inseln an die Fensterscheibe, um dann meerwärts, wieder zurück und wieder hinauszuschwenken.
Das Cottage liegt fast dreihundertfünfzig Meilen von London entfernt. So weit, dass der Möbelwagen zwei Tage brauchte. Er kam gestern an, als wir gerade den Frühstückstisch abdeckten. Der Möbelpacker, der das Kommando hatte, stieg aus dem Führerhaus und kam durch den strömenden Regen herein. Er trat sich die Füße auf der Fußmatte ab und streckte den Kopf in das kleine Wohnzimmer. »Ach, Sie haben hier schon Möbel?«, sagte er. Wir guckten alle in das kleine Zimmer mit der dreiteiligen Polstergarnitur, dem Eichenholztisch mit zwei Stühlen, der Kiefernholzkommode und dem Fernseher. »Das hier war unser Ferienhaus.« Ich hörte seinen Kollegen draußen die Metalltüren öffnen und die steile Rampe zwischen Lastwagenheck und Türschwelle in Stellung bringen. Der Boss rieb sich die schwieligen Pranken. Ich nehme an, er suchte einen Platz für die Möbel. Es gab aber keinen. Als Möbelpacker hat man wohl zwei Berufsrisiken: sich einen Bruch zu heben und zu viel Einblick in die Conditio humana zu erlangen. Leute klettern die Wohneigentumsleiter hinauf oder rutschen sie runter. Voll frischvermählter Hoffnung oder frischgeschiedener Verzweiflung, bestrebt, einander und die Nachbarn zu beeindrucken, am Beginn eines neuen Lebens. Reden sich ein, dass die Sonne jetzt heller scheinen, ihre Frau sie mehr lieben wird, dass sie in diesem Haus glücklicher sein werden als je zuvor. Ich fragte mich, wie die Packer uns wohl sahen. Dachte dann: Ich will es gar nicht wissen. »Anziehen, Kinder«, sagte ich. »Wir gehen raus.«
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2009
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Autoren-Porträt von Judith O'Reilly
Judith O'Reilly arbeitete als Journalistin für die Sunday Times, ITN und die BBC. Heute lebt sie als freie Autorin in Northumberland. Sie ist verheiratet und hat drei Kinder.
Bibliographische Angaben
- Autor: Judith O'Reilly
- 2009, 4. Aufl., 352 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Aus d. Engl. v. Cornelia Holfelder-von der Tann
- Übersetzer: Cornelia Holfelder-von der Tann
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596178770
- ISBN-13: 9783596178773
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