Stadt ohne Gedächtnis
Auf der Suche nach den Schuldigen gerät Adam in ein Netz aus Verleugnung und Verrat, das Besatzer und Kollaborateure ebenso umspinnt wie die vermeintlich ehrenwerte Gesellschaft Venedigs. Für das Liebespaar beginnt ein tödliches Versteckspiel, denn es weiß bereits viel mehr, als die Stadt ohne Gedächtnis zulassen kann.
Als Adam endlich die Entlassungspapiere der US Army in Händen hält, ergeht es ihm nicht anders als den meisten Überlebenden des Zweiten Weltkrieges, die als sich der Rauch über den Trümmern verzogen hat ungläubig aus einem Albtraum erwachen.
Kaum in Venedig angekommen, stellt er fest, dass der strahlende Marmor und die goldenen Kuppeln nicht nur verzaubern, sondern auch blenden können. In der Stadt an der Lagune stürzt er sich mit Claudia Grassini, einer bei der Accademia angestellten Jüdin, in eine leidenschaftliche Affäre. Doch Claudiafällt es schwer, daraus eine ernsthafte Beziehung wachsen zu lassen. Je mehr Adam über ihre Vergangenheit erfährt, desto mehr versteht er, warum. Und plötzlich tritt ein Dämon dieser Vergangenheit wieder in Erscheinung: Dr. Gianni Maglione, der Arzt, der Claudias todkranken Vater mit einem beiläufigen Kopfnicken an ein SS-Kommando verraten haben soll. Ein ungeheurer Verdacht, an dem zunächst auch Adam zweifelt. Doch warum verliert Claudia kurz nach dem Eklat erst ihre Stelle und dann ihre Wohnung? Wozu ist der angesehene Venezianer mit dem durchdringenden Blick wirklich fähig?
Zu einer Zeit, da man wieder einmal dabei ist, den Globus in Gut und Böse einzuteilen, kommt kaum ein Roman so passend wie Joseph Kanons viertes Werk über einen historischen Wendepunkt. Subtil, aber
Stadt ohneGedächtnis von Joseph Kanon
LESEPROBE
Nach dem Krieg mietete meine Mutter ein Haus in Venedig. Siewar zunächst nach Paris gegangen, in der Hoffnung, dort die Fäden ihres altenLebens wieder aufnehmen zu können, aber Paris war unwirtlich geworden, allesklagte über die Verknappung, sogar ihre Freunde waren zermürbt undzurückhaltend. Die Stadt befand sich noch immer im Krieg, diesmal mit sichselbst, und alles, weshalb meine Mutter zurückgekehrt war - die große Wohnung inder Rue du Bac, die Cafés, der Marché Raspail, in der Erinnerung verklärt -,kam ihr jetzt armselig und fade vor, düster unter einer beständigen grauenWolkendecke. Zwei Wochen, und sie floh nach Süden. Venedig würde wenigstensnoch so aussehen wie früher, und es erinnerte sie an meinen Vater, an diefrühen Jahre, als sie die Nachmittage am Lido verdösten und abends tanzengingen. Auf den Fotos waren sie immer gebräunt, saßen vor gestreiftenUmkleidehütten in Liegestühlen, alberten mit Freunden herum, alle in Kaftanenoder voluminösen Badeanzügen aus Wolle. Cole Porter war da gewesen und hatteflotte Songs geschrieben, und da meine Mutter mit Linda eng befreundet war,hatten sie so manchen Abend um den Flügel gesessen und getrunken, in demSommer, als sie gerade geheiratet hatten. Als ihr Zug aus Paris schließlich dieLagune überquerte, glitzerte die Sonne so hell auf dem Wasser, dass es ihr ein paarblendende Minuten lang fast so schien, als sei dies jener erste Sommer. Bertie,der ebenfalls auf den Lido-Fotos figurierte, holte sie mit einem Motorboot amBahnhof ab, und als sie den Canal Grande entlangrauschten und die Sonne sostrahlend und die Palazzi so prachtvoll waren wie eh und je, die ganzeunglaubliche Stadt nach all den Jahren noch immer dieselbe, dachte sie, hier könntesie wieder glücklich sein. Bertie mit seinem fließenden Italienisch führte eineWoche später die Verhandlungen, als sie drei Etagen eines Hauses auf der Südseitevon Dorsoduro mietete, das früher einmal der Familie Ventimiglia gehört hatteund immer noch Ca Venti hieß. Die derzeitige Besitzerin, die Marchesa, wiemeine Mutter sie fortan nannte, obwohl sie keinen Beweis für diesen Titelhatte, nahm ihre Kleider, ein paar silbergerahmte Familienfotos und den Scheckmeiner Mutter und bezog das ehemalige Dienstbotenquartier im obersten Stock.Das Haus war spärlich möbliert, als hätte die Marchesa die Einrichtung Stückfür Stück verkauft, aber der Piano Nobile mit seinen Damasttapeten und seinenKandelabern war intakt geblieben, und Bertie überließ meiner Mutter einigemoderne Möbel aus seinem Palazzo am Canal Grande für ein Wohnzimmer imrückwärtigen Teil. Das Schöne an dem Haus war das Licht. Es strömte durchFenster herein, aus denen man über die Zattere zur Giudecca hinübersah. Es gabDienstmädchen, die zum Haus gehörten, ein im Kanal vertäutes Boot und einSpeisezimmer mit einer Decke, die laut Bertie zwar nicht von Tiepolo selbststammte, aber seiner Schule zugeschrieben wurde. Die Emigranten kamen nach undnach zurück, öffneten ihre versperrten Häuser und planten Partys. Kaffee undZucker waren Mangelware, aber der Wein war billig, und der tägliche Fang der Fischerglänzte und zappelte wie früher auf den Markttischen der Pescaria. Das Fenice spielte. Mimi Mortimer war aus NewYork eingetroffen und versprach, einen Ball zu geben. Vor allem aber war dieStadt immer noch schön, hinter jeder Ecke wartete ein Gemälde, und das Wasserhatte weiche Pastelltöne am Frühabend, bevor die Lichter angingen. Dann begannim Florian die Musik zu spielen, und die Boote schwankten sachte am Rand derPiazzetta. Alles war von zeitloser Anmut, als hätte es den Krieg nie gegeben. Alldas erfuhr ich erst viele Wochen später durch ein Ferngespräch meiner Mutter,für das sie »höchste Stellen« bemüht hatte. Zu der Zeit waren die wenigenVerbindungen nach Deutschland dem Militär vorbehalten; wahrscheinlich hatte siealso einen General, irgendeinen Freund eines Freundes, so umgarnt oder unter Druckgesetzt, dass er ihr zuliebe gegen die Vorschriften verstieß. Auf jeden Fallhatte der Anruf für hochgezogene Augenbrauen in meiner Dienststelle gesorgt, indem alten Gebäude der IG Farben vor den Toren Frankfurts, wo ich für USFETAkten in einen von zwei Körben legte und im Übrigen auf meineEntlassungspapiere wartete. Ich war seit Anfang des Jahres in Deutschland, zunächstbei der G-2 und dann in einem der Entnazifierungsteams, deren Aufgabe es war,die Täter von den bloßen Mitläufern zu trennen. In Frankfurt herrschten nochchaotische Zustände, die Straßen waren kaum passierbar, überall sah manFlüchtlinge und hohläugige Kinder mit Hungerödemen. Die Verbindung war soschlecht, dass es schien, als käme der Anruf aus einer anderen Welt, so weitentfernt von dem Schutt und der Verzweiflung vor meinem Fenster, dass seinInhalt irrelevant schien. Die Marchesa sei sehr ruhig, man merke kaum, dass sieim Haus sei (»Darling, nicht mal die Spülung«). Aus meinem Zimmer habe maneinen phantastischen Blick. Ihre Bilder seien noch nicht aus New Yorkangekommen, aber Bertie, sprachgewandt und immer hilfsbereit, kümmere sichdarum. Der Anruf begann, wie mein Vater gesagt hätte, »mitten in ihren mediasres«: mit einem Sprung mitten hinein in das, was ihr gerade durch den Kopfging, gefolgt von Entrüstung, wenn man nicht verstand, wovon sie redete. Schließlichbegriff ich immerhin, dass sie nach Venedig gezogen war und dort zu bleibengedachte, und das hieß, dass auch ich mich dort niederlassen würde. Dieeigentliche Mitteilung war aber, dass sie mich zu Weihnachten erwarte. »Ich binaber noch bei der Army.« »Na, die werden dir doch wohl einen Urlaubsscheinausstellen, nein? Ich meine, der Krieg ist schließlich aus. Und ein paar Tage Urlaubwürden dir bestimmt gut tun. Ich hab die Wochenschauen gesehen - es sieht jaschlimm aus dort.« »Ja.« Lager voller Leichen, die in Schubkarren zuMassengräbern geschafft wurden. Verwilderte Kinder, die PX-Mülltonnen nachEssbarem durchwühlten. Frauen, die von Hand zu Hand Steine weiterreichten,hackten und schaufelten. So hatte sich das keiner vorgestellt beim Vorstoß überden Rhein. Jeder GI mit einer überzähligen Packung Lucky Strike war ein Krösus.Die Nachwehen. »Alsdann«, sagte sie.»Wäre das nicht wunderschön? Zusammen Weihnachtenfeiern? Zum ersten Mal wieder nach Jahren.« »In einem faschistischen Land«,sagte ich, halb im Spaß. »Das kann man überhaupt nicht vergleichen. Die warenhier keine Nazis. Und überhaupt, das ist alles vorbei. Es ist herrlich hier,genau wie vorher. Ich kann s gar nicht erwarten, dass du das Haus siehst.Vielleicht schneit es ja. Im Schnee soll es hier ganz bezaubernd sein.« Typischfür sie, dass sie auflegte, ohne mir ihre Adresse zu sagen. Deshalb war es dannBertie, dem ich schrieb, dass ich Weihnachten im Krankenhaus zubringen würde.Nachdem ich den Einsatz an der Front und die schweren ersten Tage der Besatzungüberlebt hatte, war mir peinlicherweise ein rostiger Nagel zum Verhängnis geworden.Ein unvorsichtiger Schritt im Trümmerfeld einer Frankfurter Straße, eine Wundeam Fuß, machte eine Tetanusbehandlung erforderlich und einen Urlaub, den ichmit Amputierten und jungen Männern mit nervösen Ticks verbringen musste. Alsich endlich nach Venedig kam, war es Februar, ich war aus der Army entlassen,und die Stadt duckte sich unter einer feuchten, nebligen Kälte. Der PianoNobile in all seiner steifen Pracht war eiskalt und dank langer, schwererVorhänge zwar dunkel, aber nicht frei von Zugluft. Im Wohnzimmer verbreitetenelektrische Heizkörper gemütliche Wärme, aber in dem hohen Tiepolo-Speisezimmerwar es so unangenehm kalt, dass meine Mutter dazu übergegangen war, in derKüche zu essen, wo sie mit einem Tablett auf dem Schoß neben dem Herd saß. Vonder Marchesa über uns war so wenig zu hören, dass ein Dienstmädchen nachsehengeschickt wurde, als könnte sie einer dieser Vögel sein, die reglos auf einem winterlichenZweig sitzen und dann plötzlich herunterfallen. Das hätte alles ganz anderssein können, wenn die Sonne über der Adria gestanden hätte und ihre Wärme durchdie Ziegeldächer und Parkettböden eingesickert wäre, wie es sogar schon imFebruar oft vorkam, aber in diesem Winter war der Himmel deutsch - bewölkt undgrau. An den Abenden gab es in der Nähe unseres Hauses überhaupt kein Licht.Vom Meer zog der Nebel heran und kroch über den Giudecca-Kanal. Um Strom zusparen, ließ man Straßenlaternen nur in großen Abständen leuchten, und für diedunklen Gässchen hätte man wieder Fackeln gebraucht wie im Mittelalter. Mirfiel nichts von alldem auf, oder besser gesagt, es war alles dem Grau, das ichgewöhnt war, so ähnlich, dass ich es als normal hinnahm, als naturgegeben. Diedämmrigen Nachmittage entsprachen dem Wetter in meinem Kopf: Nichts alstrostlose Schatten, der Drang, sich in sich selbst zurückzuziehen. Ist esmöglich, dass jemand wirklich aus dem Krieg heimkehrt? Die Glücklicheren macheneinfach weiter, auf zum nächsten Gefecht, und merken gar nicht, dass sie andereLuft atmen. Wir übrigen müssen nach und nach an die Oberfläche gebracht werden,wie Tiefseetaucher, um der Taucherkrankheit vorzubeugen. Die jungen Kerle indem Krankenhaus waren zu schnell zurückgekommen - ihre Gesichter zuckten, ihreAugen reagierten auf jedes Geräusch; Opfer. Ich schlief. Der Nebel, der nachtsvon der Lagune kam, breitete sich auch in meinem Kopf aus, eine einlullendeBetäubung, man wollte sich nur in Decken wickeln, in Ruhe gelassen werden.Manchmal kamen Träume - Arten der Rückkehr, Erinnerungen an die alptraumhafteZeit, die angeblich vorbei war -, aber meist war der Schlaf nur ein Nebel,formlos und undurchdringlich. (...)
© Blessing Verlag
Übersetzung: Rudolf Hermstein
Rudolf Hermstein, geboren 1940, studierte Sprachen in Germersheim und ist der Übersetzer von u.a. William Faulkner, Allan Gurganus, Doris Lessing, Robert M. Pirsig und Gore Vidal. Er wurde mit dem Literaturstipendium der Stadt München sowie mehrfach mit Stipendien des Deutschen Übersetzerfonds ausgezeichnet. 2009 erhielt Rudolf Hermstein den "Münchner Übersetzerpreis".
- Autor: Joseph Kanon
- 2006, 1, 510 Seiten, 2 Abbildungen, Maße: 15,5 x 23,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus d. Amerikan v. Rudolf Hermstein
- Verlag: Blessing
- ISBN-10: 3896672819
- ISBN-13: 9783896672810
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