Sterben lernen
Notierungen zu Krebs und Not und Tod. Nachwort von Annelie Keil
Unheilbarer Knochenkrebs diese Diagnose erhielt der große Pädagoge und Bestsellerautor Wolfgang Bergmann mit 61 Jahren. Kurz nach dem niederschmetternden Befund beginnt er auf einer Palliativstation, seine Gedanken und Ängste zu notieren. Dabei konfrontiert...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Sterben lernen “
Unheilbarer Knochenkrebs diese Diagnose erhielt der große Pädagoge und Bestsellerautor Wolfgang Bergmann mit 61 Jahren. Kurz nach dem niederschmetternden Befund beginnt er auf einer Palliativstation, seine Gedanken und Ängste zu notieren. Dabei konfrontiert er sich und den Leser mit dem, was meist ausgeklammert wird. Was ist der Tod? Was ist das Ich im Angesicht des drohenden Endes? Radikal ehrlich und ohne religiösen Trost zeigt sich Wolfgang Bergmann in seinen Ängsten und Zweifeln und auch in den Momenten, in denen er überraschend Frieden findet. Wolfgang Bergmann starb kurz nach Vollendung dieses Textes.
Klappentext zu „Sterben lernen “
Unheilbarer Knochenkrebs - diese Diagnose erhielt der große Pädagoge und Bestsellerautor Wolfgang Bergmann mit 66 Jahren. Kurz nach dem niederschmetternden Befund beginnt er auf einer Palliativstation, seine Gedanken und Ängste zu notieren. Dabei konfrontiert er sich und den Leser mit dem, was meist ausgeklammert wird. Was ist der Tod? Was ist das Ich im Angesicht des drohenden Endes? Radikal ehrlich und ohne religiösen Trost zeigt sich Wolfgang Bergmann in seinen Ängsten und Zweifeln - und auch in den Momenten, in denen er überraschend Frieden findet. Wolfgang Bergmann starb kurz nach Vollendung dieses Textes.Die Kunst des Sterbens
Lese-Probe zu „Sterben lernen “
Sterben lernen von Wolfgang BergmannEINS
Die Nachricht kam abrupt, unvorbereitet. Nichts wies auf eine Krebserkrankung hin, andere Diagnosen waren im Spiel, bis eine Computertomografie allen Spekulationen ein Ende bereitete. Metastasierungen im gesamten Körperskelett, unheilbar.
Was macht die menschliche Seele mit solchen Informationen? Kippt sie weg? Vielleicht wäre das besser, aber mir nicht möglich. Nein, leugnen war meine Antwort nicht, sondern exakt das Gegenteil: So hart und kalt, so leer gefegt von aller begütigenden Emotionalität wie diese Nachricht malte ich mir das Sterben jetzt aus und ließ dieses grausame - und mich gleichzeitig so merkwürdig unberührt lassende - Wissen in meine kurze Zukunft hineinfließen.
Meine Psyche greift zu einem Trick: Sie übersteigert die abstrakte und konkrete Kälte noch einmal, nimmt sie als Zukunftslosigkeit an und vermeidet jede Begütigung und Trost. Ich verblocke mich in die Unabwendbarkeit der Krankheit. In der Palliativstation greife ich ein Notizbuch, beginne zu schreiben - kursierende Fragen um die ausgebliebene Antwort: Was erwartet mich noch? Sie ist schnell gegeben: nichts. Das Nichts.
Aber das ist nicht die ganze Wahrheit, bei Weitem nicht. Meine Krebs-Information, so abstrakt und naturwissenschaftlich ärztlich sie codiert ist, birgt ein Geheimnis. Das Geheimnis des Welträtsels: der Geburt und des Sterbens. Und beide sind unsäglich, sie gehen jeder Erfahrbarkeit voraus. Solches Wissen, das sich um sich selber dreht, das kann man nicht mehr wegstoßen. Es ist innerster, unumgänglicher Seeleninhalt bis zum realen Tod hin.
... mehr
ZWEI
Ich nahm die mögliche Klage um mich und mein Leben in mir auf, die sich nun doch leise summend in mir ausbreitete, und formte sie zur Sprache. Zum Klang einer bewussten Sprache. Dann suchte ich andere Ausdrucksformen des Nicht-Aussagbaren und kehrte zur Sprache zurück: In ihr flimmert mehr, als sie sagt, in ihr tönt Feineres und Höheres wie in einem Chorgesang. Was ertrage ich? Wie werde ich sie bestehen, diese Hungerstunden des nahen Sterbens?
So versuchte ich es: Sprache formte ein Leben lang meine inneren Bilder, meine Existenz. Mein Geschriebenes war immer klüger als ich, die Sprache und die Schrift eilten immer dem Bewussten voraus. Und nun soll meine Sprache also auch den Tatsachen des Lebens und des Sterbens standhalten, auch den bittersten.
Je unversöhnter ich mit dem Tod bin, desto ruhiger schaue ich ihm entgegen.
DREI
Ich schreibe. Der Tod ist das Nichts, die reine Negativität, es ist lächerlich, in ihm nach Sinn zu suchen. Erschöpft in den ersten Tagen im Krankenbett wusste ich es nun endgültig: kein Sinn, nur »nichts«. Sind das Verzweiflungssätze? Ach was, das Gegenteil ist wahr. Es sind Ermutigungssätze. Ja, das habe ich mich gefragt, abgeklopft, ins Stille geweint und wieder Mut gefasst. Je klarer die Konfrontation mit diesem Tod ist, ich akzeptiere ihn nicht. Es gibt keine Versöhnung mit ihm, nur das trostlose Widerstehen: Du da, hämmernde Qual - ich will dich nicht. Und dann dröhnt es noch lauter, vielleicht sogar stimmlos, aber ich höre es trotzdem, es poltert und schlägt, schmerzhaft hämmert es in meinem Kopf: Es gibt kein Entkommen.
Jetzt bitte kein Trost. Die höchste Ermutigung, die ich empfange, ist das Eintauchen in diese Verneinung. Nein, ich will dich nicht, nicht sterben, will nicht vergehen, in mir glüht noch so viel Lust auf Leben, auf die Kinder in meiner Praxis mit ihrem unermüdlichen Vertrauen, die besorgten Eltern, die ihre Kinder eigentlich trösten sollten und selbst so viel Trost brauchen, aber auch auf die neblig verhangenen Silberfäden, die durch die Zweige eines uralten Baumes direkt vor meinem Fenster flattern, wer weiß, woher die gekommen sind. Auf all das habe ich Lust, drängende Lust - und nun all das nie wieder? Kann das denn möglich sein?
Ja, sagt meine Wahrheitsstimme: Das ist möglich. Und mehr: Es tritt ein. Nächste Woche oder in einem Monat. Habe ich vor Ostern noch einige Schübe an Zeit, an denen ich mich freuen kann, oder zieht es mich jetzt doch schon hinein in eine müde Resignation, die nichts mehr hören und wissen will, von Sterben und Tod und von Leben erst recht nicht, sondern nur müde ist? Ich weiß nicht, wohin es mich zieht. Ich begreife aber immerhin eine vorletzte Wahrheit: Ja, Charakter und Mut und all das, das ist jetzt fast schon vorbei, das waren die Gefühle im letzten Abschnitt meiner früheren Existenz, jetzt kommt es nicht mehr auf mich an, mein Wollen, meine Freuden und Kränkungen. Mein Charakter und das große Ego-Ich vergehen wie der Schnee im Frühjahr - jetzt stößt mir alles nur noch zu, der Morgen und der Abend, mein beglücktes und mein trauriges Beschauen. Alles wirkt wie von weit her auf mich ein und ich versuche, Sinne und Seele frei zu halten für jeden geringsten Impuls, jedes Anklopfen der körperlichen und seelischen Realitäten, die mit mir spielen. Mal sind sie trostreich und sogar beglückend, dann wieder in Kürze traurig und stumm vor der Frage: warum und wie lange noch? Auf beides gibt es keine Antwort, das weiß ich ja, frage aber trotzdem insgeheim immer weiter.
VIER
Was sie aufnehmen, Psyche und Sinne, was sie genießen und was sie fortwerfen, weil es mich überfordert, es ist alles so viel und ich habe so wenig Kraft, weil mir alles aus der Hand genommen ist. Ja, so ist das, es stößt mir nur zu und ich schaue meinem beginnenden Sterben zu und werde jetzt doch wieder ganz ruhig und zuversichtlich. Nichts in mir strebt dir entgegen, Tod und Vergänglichkeit, aber du kommst über mich. Und weißt du was: Auf eine mir selbst nicht verständliche Art und Weise halte ich mich eben daran auch fest. Das Unvermeidliche, das jede Minute hinter meinem Leben steht, hat auch eine behütende Kraft. Ob das im Sterben auch so sein wird?
Ich schreibe: Wohin wendet sich meine erschrockene und jetzt so merkwürdig kalte Seele? Worauf hin? Auf ihr Nicht-mehr-Dasein. Das radikale Nichts kann man nicht annehmen, man kann sich mit ihm nicht versöhnen, es ist Abwesenheit in purer Erscheinung. Es ist der Schleier, der über dem Geheimnis des Lebens hängt, Nietzsche vermutete, dass es nach Gottes Tod ein furchtbares Geheimnis sein müsse. Ach, es kommt nicht mehr auf mich an. Nichts an meinem Charakter und meiner Biografie verändert oder hemmt auch nur das unbeirrbare Hin-zum-Sterben, wann immer und wie immer es sein mag. Ein Prozess rollt auf mich zu, so unergründlich unbarmherzig wie der, den Kafka beschrieb. Eine anonyme Macht ohne Gesicht und Gestalt lagert sich über alles Lebende, staubig und dumm, sprachlos. Der Tod zeigt mir in seiner unbegreiflichen Banalität, angesichts jeglicher entschwundenen Sinnhaftigkeit, wie überlegen er ist. Wir erschrecken davor. Einen tieferen reißenden Schreck kann man nicht verarbeiten - man kann ihn nur irgendwie aushalten. Oder verstummen. So wie ich jetzt.
Keine Begütigung, keine Beschwichtigung, kein verschwiemelter Trost, das macht alles nur noch dumpfer und leerer. Ich richte meinen Willen auf die kleinen harten Momente von Wahrheit, die so komplex von verschiedenen Impulsen durchzogen sind: Der Tod ist das Böse, das kein Innen und Außen hat. Seine Unermesslichkeit, das Erlöschen der Zeit, diese nicht endende Ewigkeit ist der Gleichmacher, das Gegenprinzip der Liebe. Deshalb fürchtete Jesus den Tod, er klagte, ihm »zitterten die Knie« am Leichnam des Lazarus, er schwitzte in »Todesbanden« in der Nacht von Golgatha. Jesus war die Liebe, und der Tod ist das Gegenprinzip. Er ist das Böse. Die Welt ist voller Feinde, wenn man stirbt.
Du bist so fremd in meinen Lebensbezirken, greif nur nach mir. Was weiß ich von deinem Sein oder Nicht-Sein, was begreife ich von deiner Gier, die auslöschen will, und welche Radikalität steht dir zur Verfügung, du Höllenhund mit Augen wie Wagenräder? Ich weiß es nicht. Vielleicht zerreißt der Schleier, und das Weltgeheimnis, aus dem wir alle hervorgegangen sind, zeigt sich in dieser oder jener Form. Vielleicht bleibt der Schleier stur und kalt und wir sterben blind. Ich weiß es nicht.
FÜNF
Metamorphosen
Dass alle Hoffnungen nur Illusionen sind, ahnt man ja ein Leben lang. Aber hier, auf dieser Krebsstation, weiß man es. Welch ein irritierender Zustand das ist: das Ende aller Hoffnungen. Jetzt erst wird mir bewusst: Hoffnung war ein Leben lang bei allem dabei, was ich tat und fühlte. Jetzt nicht mehr. Das ist ja nur logisch: Mit den Hoffnungen schwinden auch die Befürchtungen, daher vielleicht diese Leichtigkeit, die seither ganz unvernünftig durch mein Gemüt weht.
Als junger Mensch dachte ich, der Tod ist radikal, er werde mit einer Explosion, einer Tat eintreten, aber so ist der Tod nicht. Er ist zögerlich, trippelt, er verharrt, schiebt einen dann abrupt voran dem Ende zu, bis man zuletzt ganz müde wird davon und aufgibt. Oder ist sogar das eine Illusion? Gibt es am Ende kein Aufgeben, sondern nur einen Schrei?
So fatal ist das: Dieses Sichverlieren, dieses letzte Sichaufgeben - egal ob man es selber aktiv betreibt oder der Krankheit bis zuletzt ihren Lauf lässt - ist nur so vorstellbar, dass man eingeht in eine große Kälte ohne Zeit und Maß. Aber in gleichem Maße ruft jene Vorstellung wie zwanghaft eine Sehnsucht nach Nähe, Wärme, Bindung und Halt auf, das Bild eines versöhnten Sterbens. Kitsch - ist das mein letzter Gedanke, meine letzte große Empfindung?
Es ist etwas Seltsames mit dem Sterben, man kann es sich gar nicht vorstellen.
Jetzt packt er doch zu, der Krebs, greift ins Innerste meines Kopfes, meiner Sprache, meiner Welt. Es gibt keine Welt außerhalb meiner Sprache. Indem er danach packt, führt er, der Krebs, es mir vor Augen. Du bist nur deine Sprache: dein Sehen und Hören, dein Denken und Spinnen, deine Welt - alles deine Sprache. Jetzt will er sie auslöschen.
Sobald ich etwas empfinde, spreche ich schon, mindestens innerlich. Noch im Tod werde ich murmeln. Danach ist nichts mehr. »Ich kämpfe gegen den Krebs« - ha, das ist ja nicht einmal ein Witz!
SECHS
Die eigene Haut wird einem fremd, die eigenen Muskeln, das eigene Fleisch, es verfällt ja viel zu bald. In jedem allerwinzigsten Moment spüre und fühle ich mich und erstarre vor Furcht.
Kränkend, diese Bestrahlungen, der hilflose eigene Körper unter Tonnen von Metall, Geräte, die surren und sich drehen, mächtig und überwältigend, sie senden Radioaktivität in den Körper. In ihrer Potenz ist sie tödlich und richtet sich gegen die tötende Aggressivität, mit der mein Körper sich selber zerfrisst. In zwei Negativitäten eingespannt atme ich müde und gekrümmt unter dieser Vormacht der Maschinen.
Wo überall man Schleimhäute hat, die sich entzünden - da kann man sich nur wundern!
SIEBEN SIEBEN Nah am Sterben - es sind keine inneren Bilder, die mich forttreiben, mich forttragen in einen müde schwebenden, traumähnlichen Zustand, weg vom Realen und weg von dem Ich mit seinen stabilen Erinnerungen, weg von dem festhaltenden, festzurrenden, dem beständig auf die Vergangenheit und die Gegenwart gerichteten Ich. Nein, es sind keine Bilder, es sind Klänge, Töne, sie dröhnen durch meinen Kopf, sie taumeln und fliegen wie Gegenstände, und das um sich selbst wissende Ich, das sie ordnen und zusammenhalten, das ihnen Sinn und Vernunft geben müsste, bleibt wie betäubt, wie überwältigt und bewegt ganz zurück. Jetzt sind sie nur noch da, pure Töne, pure Klänge, pures Poltern, laut und aufdringlich dröhnt es durch den Kopf und zieht mich. Weg vom Ich, dann sogar vom Körper und dem Körpergefühl, weg von allem, was zusammenhält. Die Töne treiben mich, die Klänge ziehen mich - wohin? Wahrscheinlich in den Tod.
ACHT
Ein rotes Fleckchen auf dem Rücken, das hat mir ja gerade noch gefehlt. Was willst du denn hier? Ein rotes Fleckchen mit weißen Stippchen darin, ein Vertrauter aus frühen Krankheitszeichen, Herpes Zoster, zu Deutsch Gürtelrose. Jetzt drängt es sich mit seiner brennenden, juckenden Symptomatik wieder auf meine Haut, auf die rechte Rückenhälfte, das Herpesvirus, das sein schmerzliches Werk in meinen Nervenbahnen zu beginnen trachtet. Aber ach, es, das einst Gefürchtete, das mich zu so gewaltigem Tablettenkonsum anhielt, um die Angriffe abzufangen, um die Schmerzen, die durch die Nerven in das Bein strömten, abzutöten - meist ist es gelungen, aber nicht immer -, das einst Schreckliche ist jetzt nur noch ein Untersymptom. Es will kaum gelingen, die Aufmerksamkeit der Krebsärztin auf den kleinen roten Fleck zu lenken. Na ja, Herpes Zoster, der kann Schmerzen verursachen, das ist bekannt, aber was sollen Schmerzen schon heißen angesichts des Zerbröselns der Knochen, die auf Nervenstränge drücken in all meinen Gliedern?
Copyright © 2011 Kösel-Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
ZWEI
Ich nahm die mögliche Klage um mich und mein Leben in mir auf, die sich nun doch leise summend in mir ausbreitete, und formte sie zur Sprache. Zum Klang einer bewussten Sprache. Dann suchte ich andere Ausdrucksformen des Nicht-Aussagbaren und kehrte zur Sprache zurück: In ihr flimmert mehr, als sie sagt, in ihr tönt Feineres und Höheres wie in einem Chorgesang. Was ertrage ich? Wie werde ich sie bestehen, diese Hungerstunden des nahen Sterbens?
So versuchte ich es: Sprache formte ein Leben lang meine inneren Bilder, meine Existenz. Mein Geschriebenes war immer klüger als ich, die Sprache und die Schrift eilten immer dem Bewussten voraus. Und nun soll meine Sprache also auch den Tatsachen des Lebens und des Sterbens standhalten, auch den bittersten.
Je unversöhnter ich mit dem Tod bin, desto ruhiger schaue ich ihm entgegen.
DREI
Ich schreibe. Der Tod ist das Nichts, die reine Negativität, es ist lächerlich, in ihm nach Sinn zu suchen. Erschöpft in den ersten Tagen im Krankenbett wusste ich es nun endgültig: kein Sinn, nur »nichts«. Sind das Verzweiflungssätze? Ach was, das Gegenteil ist wahr. Es sind Ermutigungssätze. Ja, das habe ich mich gefragt, abgeklopft, ins Stille geweint und wieder Mut gefasst. Je klarer die Konfrontation mit diesem Tod ist, ich akzeptiere ihn nicht. Es gibt keine Versöhnung mit ihm, nur das trostlose Widerstehen: Du da, hämmernde Qual - ich will dich nicht. Und dann dröhnt es noch lauter, vielleicht sogar stimmlos, aber ich höre es trotzdem, es poltert und schlägt, schmerzhaft hämmert es in meinem Kopf: Es gibt kein Entkommen.
Jetzt bitte kein Trost. Die höchste Ermutigung, die ich empfange, ist das Eintauchen in diese Verneinung. Nein, ich will dich nicht, nicht sterben, will nicht vergehen, in mir glüht noch so viel Lust auf Leben, auf die Kinder in meiner Praxis mit ihrem unermüdlichen Vertrauen, die besorgten Eltern, die ihre Kinder eigentlich trösten sollten und selbst so viel Trost brauchen, aber auch auf die neblig verhangenen Silberfäden, die durch die Zweige eines uralten Baumes direkt vor meinem Fenster flattern, wer weiß, woher die gekommen sind. Auf all das habe ich Lust, drängende Lust - und nun all das nie wieder? Kann das denn möglich sein?
Ja, sagt meine Wahrheitsstimme: Das ist möglich. Und mehr: Es tritt ein. Nächste Woche oder in einem Monat. Habe ich vor Ostern noch einige Schübe an Zeit, an denen ich mich freuen kann, oder zieht es mich jetzt doch schon hinein in eine müde Resignation, die nichts mehr hören und wissen will, von Sterben und Tod und von Leben erst recht nicht, sondern nur müde ist? Ich weiß nicht, wohin es mich zieht. Ich begreife aber immerhin eine vorletzte Wahrheit: Ja, Charakter und Mut und all das, das ist jetzt fast schon vorbei, das waren die Gefühle im letzten Abschnitt meiner früheren Existenz, jetzt kommt es nicht mehr auf mich an, mein Wollen, meine Freuden und Kränkungen. Mein Charakter und das große Ego-Ich vergehen wie der Schnee im Frühjahr - jetzt stößt mir alles nur noch zu, der Morgen und der Abend, mein beglücktes und mein trauriges Beschauen. Alles wirkt wie von weit her auf mich ein und ich versuche, Sinne und Seele frei zu halten für jeden geringsten Impuls, jedes Anklopfen der körperlichen und seelischen Realitäten, die mit mir spielen. Mal sind sie trostreich und sogar beglückend, dann wieder in Kürze traurig und stumm vor der Frage: warum und wie lange noch? Auf beides gibt es keine Antwort, das weiß ich ja, frage aber trotzdem insgeheim immer weiter.
VIER
Was sie aufnehmen, Psyche und Sinne, was sie genießen und was sie fortwerfen, weil es mich überfordert, es ist alles so viel und ich habe so wenig Kraft, weil mir alles aus der Hand genommen ist. Ja, so ist das, es stößt mir nur zu und ich schaue meinem beginnenden Sterben zu und werde jetzt doch wieder ganz ruhig und zuversichtlich. Nichts in mir strebt dir entgegen, Tod und Vergänglichkeit, aber du kommst über mich. Und weißt du was: Auf eine mir selbst nicht verständliche Art und Weise halte ich mich eben daran auch fest. Das Unvermeidliche, das jede Minute hinter meinem Leben steht, hat auch eine behütende Kraft. Ob das im Sterben auch so sein wird?
Ich schreibe: Wohin wendet sich meine erschrockene und jetzt so merkwürdig kalte Seele? Worauf hin? Auf ihr Nicht-mehr-Dasein. Das radikale Nichts kann man nicht annehmen, man kann sich mit ihm nicht versöhnen, es ist Abwesenheit in purer Erscheinung. Es ist der Schleier, der über dem Geheimnis des Lebens hängt, Nietzsche vermutete, dass es nach Gottes Tod ein furchtbares Geheimnis sein müsse. Ach, es kommt nicht mehr auf mich an. Nichts an meinem Charakter und meiner Biografie verändert oder hemmt auch nur das unbeirrbare Hin-zum-Sterben, wann immer und wie immer es sein mag. Ein Prozess rollt auf mich zu, so unergründlich unbarmherzig wie der, den Kafka beschrieb. Eine anonyme Macht ohne Gesicht und Gestalt lagert sich über alles Lebende, staubig und dumm, sprachlos. Der Tod zeigt mir in seiner unbegreiflichen Banalität, angesichts jeglicher entschwundenen Sinnhaftigkeit, wie überlegen er ist. Wir erschrecken davor. Einen tieferen reißenden Schreck kann man nicht verarbeiten - man kann ihn nur irgendwie aushalten. Oder verstummen. So wie ich jetzt.
Keine Begütigung, keine Beschwichtigung, kein verschwiemelter Trost, das macht alles nur noch dumpfer und leerer. Ich richte meinen Willen auf die kleinen harten Momente von Wahrheit, die so komplex von verschiedenen Impulsen durchzogen sind: Der Tod ist das Böse, das kein Innen und Außen hat. Seine Unermesslichkeit, das Erlöschen der Zeit, diese nicht endende Ewigkeit ist der Gleichmacher, das Gegenprinzip der Liebe. Deshalb fürchtete Jesus den Tod, er klagte, ihm »zitterten die Knie« am Leichnam des Lazarus, er schwitzte in »Todesbanden« in der Nacht von Golgatha. Jesus war die Liebe, und der Tod ist das Gegenprinzip. Er ist das Böse. Die Welt ist voller Feinde, wenn man stirbt.
Du bist so fremd in meinen Lebensbezirken, greif nur nach mir. Was weiß ich von deinem Sein oder Nicht-Sein, was begreife ich von deiner Gier, die auslöschen will, und welche Radikalität steht dir zur Verfügung, du Höllenhund mit Augen wie Wagenräder? Ich weiß es nicht. Vielleicht zerreißt der Schleier, und das Weltgeheimnis, aus dem wir alle hervorgegangen sind, zeigt sich in dieser oder jener Form. Vielleicht bleibt der Schleier stur und kalt und wir sterben blind. Ich weiß es nicht.
FÜNF
Metamorphosen
Dass alle Hoffnungen nur Illusionen sind, ahnt man ja ein Leben lang. Aber hier, auf dieser Krebsstation, weiß man es. Welch ein irritierender Zustand das ist: das Ende aller Hoffnungen. Jetzt erst wird mir bewusst: Hoffnung war ein Leben lang bei allem dabei, was ich tat und fühlte. Jetzt nicht mehr. Das ist ja nur logisch: Mit den Hoffnungen schwinden auch die Befürchtungen, daher vielleicht diese Leichtigkeit, die seither ganz unvernünftig durch mein Gemüt weht.
Als junger Mensch dachte ich, der Tod ist radikal, er werde mit einer Explosion, einer Tat eintreten, aber so ist der Tod nicht. Er ist zögerlich, trippelt, er verharrt, schiebt einen dann abrupt voran dem Ende zu, bis man zuletzt ganz müde wird davon und aufgibt. Oder ist sogar das eine Illusion? Gibt es am Ende kein Aufgeben, sondern nur einen Schrei?
So fatal ist das: Dieses Sichverlieren, dieses letzte Sichaufgeben - egal ob man es selber aktiv betreibt oder der Krankheit bis zuletzt ihren Lauf lässt - ist nur so vorstellbar, dass man eingeht in eine große Kälte ohne Zeit und Maß. Aber in gleichem Maße ruft jene Vorstellung wie zwanghaft eine Sehnsucht nach Nähe, Wärme, Bindung und Halt auf, das Bild eines versöhnten Sterbens. Kitsch - ist das mein letzter Gedanke, meine letzte große Empfindung?
Es ist etwas Seltsames mit dem Sterben, man kann es sich gar nicht vorstellen.
Jetzt packt er doch zu, der Krebs, greift ins Innerste meines Kopfes, meiner Sprache, meiner Welt. Es gibt keine Welt außerhalb meiner Sprache. Indem er danach packt, führt er, der Krebs, es mir vor Augen. Du bist nur deine Sprache: dein Sehen und Hören, dein Denken und Spinnen, deine Welt - alles deine Sprache. Jetzt will er sie auslöschen.
Sobald ich etwas empfinde, spreche ich schon, mindestens innerlich. Noch im Tod werde ich murmeln. Danach ist nichts mehr. »Ich kämpfe gegen den Krebs« - ha, das ist ja nicht einmal ein Witz!
SECHS
Die eigene Haut wird einem fremd, die eigenen Muskeln, das eigene Fleisch, es verfällt ja viel zu bald. In jedem allerwinzigsten Moment spüre und fühle ich mich und erstarre vor Furcht.
Kränkend, diese Bestrahlungen, der hilflose eigene Körper unter Tonnen von Metall, Geräte, die surren und sich drehen, mächtig und überwältigend, sie senden Radioaktivität in den Körper. In ihrer Potenz ist sie tödlich und richtet sich gegen die tötende Aggressivität, mit der mein Körper sich selber zerfrisst. In zwei Negativitäten eingespannt atme ich müde und gekrümmt unter dieser Vormacht der Maschinen.
Wo überall man Schleimhäute hat, die sich entzünden - da kann man sich nur wundern!
SIEBEN SIEBEN Nah am Sterben - es sind keine inneren Bilder, die mich forttreiben, mich forttragen in einen müde schwebenden, traumähnlichen Zustand, weg vom Realen und weg von dem Ich mit seinen stabilen Erinnerungen, weg von dem festhaltenden, festzurrenden, dem beständig auf die Vergangenheit und die Gegenwart gerichteten Ich. Nein, es sind keine Bilder, es sind Klänge, Töne, sie dröhnen durch meinen Kopf, sie taumeln und fliegen wie Gegenstände, und das um sich selbst wissende Ich, das sie ordnen und zusammenhalten, das ihnen Sinn und Vernunft geben müsste, bleibt wie betäubt, wie überwältigt und bewegt ganz zurück. Jetzt sind sie nur noch da, pure Töne, pure Klänge, pures Poltern, laut und aufdringlich dröhnt es durch den Kopf und zieht mich. Weg vom Ich, dann sogar vom Körper und dem Körpergefühl, weg von allem, was zusammenhält. Die Töne treiben mich, die Klänge ziehen mich - wohin? Wahrscheinlich in den Tod.
ACHT
Ein rotes Fleckchen auf dem Rücken, das hat mir ja gerade noch gefehlt. Was willst du denn hier? Ein rotes Fleckchen mit weißen Stippchen darin, ein Vertrauter aus frühen Krankheitszeichen, Herpes Zoster, zu Deutsch Gürtelrose. Jetzt drängt es sich mit seiner brennenden, juckenden Symptomatik wieder auf meine Haut, auf die rechte Rückenhälfte, das Herpesvirus, das sein schmerzliches Werk in meinen Nervenbahnen zu beginnen trachtet. Aber ach, es, das einst Gefürchtete, das mich zu so gewaltigem Tablettenkonsum anhielt, um die Angriffe abzufangen, um die Schmerzen, die durch die Nerven in das Bein strömten, abzutöten - meist ist es gelungen, aber nicht immer -, das einst Schreckliche ist jetzt nur noch ein Untersymptom. Es will kaum gelingen, die Aufmerksamkeit der Krebsärztin auf den kleinen roten Fleck zu lenken. Na ja, Herpes Zoster, der kann Schmerzen verursachen, das ist bekannt, aber was sollen Schmerzen schon heißen angesichts des Zerbröselns der Knochen, die auf Nervenstränge drücken in all meinen Gliedern?
Copyright © 2011 Kösel-Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Wolfgang Bergmann
Wolfgang Bergmann war Erziehungswissenschaftler und arbeitete als Familien- und Kinderpsychologe in Hannover vor allem mit hyperaktiven und legasthenischen Kindern. Er war ein vielgefragter Experte zum Thema "Kindheit und Medien". Wolfgang Bergmann verstarb 2011.
Bibliographische Angaben
- Autor: Wolfgang Bergmann
- 2011, 80 Seiten, Maße: 20,5 x 19,7 cm, Leinen, Deutsch
- Verlag: Kösel
- ISBN-10: 3466309395
- ISBN-13: 9783466309399
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