Sterbensangst / Aector McAvoy Bd.1
Kriminalroman. Deutsche Erstausgabe
Auge um Auge, Zahn um Zahn - Tod um Tod!
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Sterbensangst / Aector McAvoy Bd.1 “
Auge um Auge, Zahn um Zahn - Tod um Tod!
Klappentext zu „Sterbensangst / Aector McAvoy Bd.1 “
Aector McAvoy ist Polizist. Ein guter Polizist. Und er muss einen Mörder jagen. Seit Wochen versetzt der die abgelegene nordenglische Küstenstadt Hullin in Angst und Schrecken. Niemand ahnt, wann er wieder zuschlagen wird, welches Opfer er wählen wird. Aber dann beginnt McAvoy zu verstehen. Erfolgt einem Mann, der eine Mission hat: Er will Gerechtigkeit. Um jeden Preis. McAvoy ist ihm auf der Spur - und riskiert dabei alles: seinen Job, seine Familie, sein Leben ...
Lese-Probe zu „Sterbensangst / Aector McAvoy Bd.1 “
Sterbensangst von David MarkProlog
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Der alte Mann blickt auf, und einen Moment lang kommt es ihm so vor, als würde er durch das falsche Ende eines Fernglases schauen. Die Reporterin ist vierzig Jahre weit entfernt. »Mr Stein?«
Eine warme, sanfte Hand auf seinem knochigen Knie. »Möchten Sie Ihre Erinnerungen an diesen Moment mit uns teilen?« Es kostet seine ganze Willenskraft, sich von der Vergangenheit loszureißen und wieder in die Gegenwart einzutauchen. Er blinzelt. Zwingt sich mit der Furcht eines alten Mannes vor dem Vergessen, sich zusammenzureißen. Du bist immer noch da, sagt er sich. Immer noch am Leben. »Mr Stein? Fred?«
Du bist am Leben, sagt er sich abermals. Auf dem riesigen Containerfrachter Carla.
Siebzig Meilen vor der isländischen Küste. Ein letztes Interview in der Kombüse, mit ihrem Gestank nach Frittiertem und verbranntem Kaffee, nach Diesel und Meeresgischt; das tiefe, dumpfe Hintergrundrauschen von ungewaschenen Männern und nasser Wolle. So viele Erinnerungen ...
Er blinzelt wieder. Das wird zur Gewohnheit. Warum weine ich nicht?, denkt er. Sie hat Tränen verdient, diese ganze Sache. Er sieht sich die Frau genauer an. Vornübergebeugt auf einem harten Stuhl wie ein Jockey in vollem Ritt. Hält ihm das Mikrophon vor die Nase wie einem kleinen Kind seinen Lutscher. Er schließt die Augen, und dann überrollt es ihn wie eine Woge.
Einen Augenblick lang ist er wieder ein junger Mann am Beginn einer Achtzehnstundenschicht, der sich seinen Pullover überstreift, steif von Fischinnereien und Schleim. Er wärmt sich die Hände an einem Becher Tee und schaufelt sich zwischendrin Porridge in den Mund, um seinen Hunger zu stillen. Er hat Schmerzen. Versucht sich einzureden, dass diese Hände seine eigenen sind. Er hört den Skipper. Die Dringlichkeit in seiner Stimme. Er schwingt den Enterhaken. Die Axt. Hackt auf das Eis ein. Haut Eisbrocken los, die einem den Schädel einschlagen können, wenn man nicht schnell genug zur Seite springt. Er spürt, wie das Schiff zu sinken beginnt ...
»Das Geräusch des Windes«, sagt er und fühlt, wie seine Finger in der Manteltasche das Kreuz schlagen und vor der glatten, seidigen Oberfläche eines Päckchens Benson & Hedges die Knie beugen. Es ist eine alte Gewohnheit, Überbleibsel einer katholischen Erziehung. »Können Sie es für uns beschreiben?«
»Es war wie in einem Haus auf dem flachen Moor«, sagt er und schließt ein Auge. »Der Wind kam von allen Seiten zugleich. Heulend. Brüllend. Kreischend. Als wollte er uns nie wieder aus seinen Fängen lassen. Ich vibrierte im Wind. Wie eine Stimmgabel. Ich spürte, wie das Deck unter mir bebte, und ich stand stocksteif da, wie festgefroren auf diesem verdammten Fleck.«
Sie nickt ihrem Kameramann zu und bedeutet ihm, weiterzudrehen. Er ist sein Geld wert, dieser nette alte Knabe mit dem Hemd aus dem Wohlfahrtsladen und einer Krawatte der Kingston Rovers aus Hull. Er hält sich ziemlich gut, wenn man bedenkt. Verkraftet die Kälte besser als sie. Und er hat Seemannsbeine, das muss man ihm lassen. Und eine bessere Konstitution noch dazu. Sie hat nur mit Mühe ihr Essen unten behalten können, seit sie in diese Schlechtwetterfront geraten sind, und es ist nicht gerade hilfreich, dass der einzige Raum auf diesem angeblichen Superfrachter, der groß genug ist für sie, den Kameramann und das Mikrophon, die schmierige, mit Essensresten verkleisterte Küche ist. Kombüse, berichtigt sie sich mit journalistischer Präzision.
»Sprechen Sie weiter, Mr Stein.«
»Um ehrlich zu sein, meine Liebe, es waren die Stiefel«, sagt der alte Mann und wendet den Blick ab. »Die Stiefel meiner Kameraden. Ich konnte sie auf dem Deck hören. Sie quietschten. Dieses Quietschen von Gummi auf dem Holz. Ich hatte es nie zuvor richtig wahrgenommen. Acht Jahre auf Fischtrawlern, und ich hatte nie das Geräusch der Schritte gehört. Nicht über dem Lärm der Maschinen und der Generatoren. Aber in jener Nacht schon. Der Wind legte sich gerade lange genug, dass ich sie laufen hörte. Nett, nicht wahr? Hinterhältiger Bastard, dieser Wind. Es war, als wollte er vor dem letzten fürchterlichen Ansturm noch einmal Atem holen. Und ich stand da und dachte: ›Ich kann ihre Stiefel hören.‹ Und vierzig Jahre später ist es genau das, woran ich mich erinnere. Ihre verdammten Stiefel. Kann das Geräusch seither nicht mehr ertragen. Ich gehe nicht mehr vor die Tür, wenn es regnet. Ich halte es nicht aus, einen Stiefel auf einer nassen Oberfläche quietschen zu hören. Mag nicht einmal daran denken. Das ist der Grund, warum ich mir wegen dieser Reise hier nicht sicher war. Nicht wegen der Wellen. Nicht wegen des verfluchten Mistwetters. Es ist der Gedanke daran, ein paar Gummistiefel auf einem nassen Deck zu hören und das Gefühl zu haben, als hätte der Sturm von damals nie aufgehört ...«
Jetzt nickt die Reporterin. Caroline. Knapp über dreißig. Ohrringe aus Holz und eine Frisur wie ein neunjähriger Junge. Keine Schönheit, aber selbstbewusst und putzmunter. Make-up wie eine Nachrichtensprecherin. Londoner Akzent und teure Ringe an drei Fingern, Finger, die zu Beginn der Reise manikürt gewesen sind, deren Nägel jetzt aber an den Rändern ein wenig ausgefranst und ausgebessert erscheinen.
»Dann ging es wieder los«, sagt er. »Es war, als säße man in einer Wellblechhütte, auf die jemand mit einem Kricketschläger eindrischt. Schlimmer noch. Wie auf einer Startbahn, von der hundert Flugzeuge gleichzeitig abheben. Dann begannen die Wellen, über uns zusammenzuschlagen. Die Gischt verwandelte die Luft zu Eis, und es war, als würden eine Million Nadeln gleichzeitig auf einen einstechen. Mein Gesicht und meine Hände brannten wie Feuer. Ich dachte, es würde mir die Ohren in den Schädel drücken. Ich war am ganzen Körper wie gelähmt. Ich konnte nicht mehr stehen. Konnte keinen Schritt mehr in eine bestimmte Richtung tun. Taumelte einfach auf dem Deck herum, knallte von einem Eck ins andere. Eine scheiß Flipperkugel, das war ich. Kullerte nur noch durch die Gegend und hoffte, es würde endlich aufhören. Ich hätte mir bei der Gelegenheit ein paar Knochen brechen können, aber ich erinnere mich nicht einmal daran, dass es weh tat. Es war, als könnten meine Sinne nicht alles gleichzeitig verarbeiten, was auf mich einstürmte. Alles war nur noch Lärm und Kälte. Und das Gefühl, dass die Luft sich selbst in Stücke reißt.«
Sie ist glücklich, denkt er. Sie liebt das. Und er ist ziemlich stolz auf sich selbst. Es ist vierzig Jahre her, seit er diese Geschichte ohne ein Glas Bier in der Hand erzählen konnte, und der Becher Tee, den er in seiner plumpen, rosa marmorierten Faust hält, ist kalt geworden, ohne ein einziges Mal seine Lippen zu berühren.
»Und wann erging dann der Befehl, das Schiff zu verlassen? « »Es war alles ein einziges Tohuwabohu. Entsetzlich finster. Die Lichter gingen in dem Moment aus, als wir auf die Felsen aufliefen. Haben Sie jemals Schnee und Gischt in der Dunkelheit gesehen? Es ist, als säße man in einem kaputten Fernsehgerät gefangen. Man kann nicht einmal mehr aufrecht stehen. Weiß nicht mehr, wo oben und unten ist ...«
Er fährt sich mit der Hand an die Wange. Entdeckt eine Träne. Er betrachtet sie, wie sie anklagend an seinem rissigen, faltigen Fingerknöchel hängt. Er hat seit Jahren seine eigenen Tränen nicht mehr gesehen. Nicht seit dem Tod seiner Frau. Auch damals haben sie ihn kalt erwischt. Nach der Beerdigung. Nach der Totenwache. Nachdem alle nach Hause gegangen waren und er die Teller wegräumte und Schweinekrusten und Chips in den Abfallkübel schmiss. Die Tränen waren gekommen, als hätte jemand eine Schleuse geöffnet. Waren so lange gelaufen, dass er am Ende lachen musste, verblüfft von sich selbst, während er über die Spüle gebeugt stand und es ihm vorkam, als hätte er einen Wasserhahn auf jeder Seite der Nase: Und so ergoss er sich in das Meer, das er für sie aufgegeben hatte. »Mr Stein ...«
»Lassen wir es fürs Erste gut sein, meine Liebe. Machen wir eine Pause, ja?« Seine Stimme klingt immer noch kräftig. Rau von Zigaretten und Magenbitter. Aber auf einmal scheint er zu zittern. Fröstelt in seinem Anzug mit den speckigen Ellbogen und den fadenscheinigen Knien. Er schwitzt.
Caroline scheint protestieren zu wollen. Will ihm sagen, dass sie schließlich aus genau diesem Grund hier sind. Dass das Zeigen von Gefühlen den Zuschauern helfen wird zu verstehen, wie tief ihn dieses Erlebnis geprägt hat. Aber sie hält den Mund, als sie begreift, dass es so klingen würde, als wollte sie einen dreiundsechzig Jahre alten Mann dazu auffordern, für die Kamera wie ein Baby zu flennen.
»Morgen, meine Liebe. Nach dem Dings.«
»Okay«, sagt sie und bedeutet ihrem Kameramann, dass er nicht weiter drehen soll. »Sie wissen doch, wie es ablaufen wird, ja?« »Sie werden mich schon rechtzeitig informieren.«
»Nun, der Kapitän gibt uns eine Stunde Zeit, genau an der Stelle, wo Sie damals untergegangen sind. Es ist knapp, und das Wetter wird nicht besonders sein, aber es bleibt Zeit genug für die Zeremonie. Ziehen Sie sich warm an, ja? Wie gesagt, wir haben einen schlichten Kranz und eine Gedenktafel vorbereitet. Wir werden Sie dabei filmen, wie Sie sie über die Reling werfen.« »Also gut, meine Liebe«, sagt er mit einer Stimme, die nicht wie seine eigene klingt. Eher wie ein Quietschen. Wie die Sohle eines Gummistiefels auf nassem Holz. Plötzlich spürt er einen Druck auf der Brust. Er schenkt ihr das strahlendste, großväterliche Lächeln, das er noch zustande bringt, sagt gute Nacht und ignoriert seine protestierenden Knie, während er sich aus dem Stuhl mit der harten Lehne hochstemmt und drei schwankende Schritte auf die offene Tür zu macht. Er schiebt sich in den engen Korridor und geht in Richtung Deck, schneller als seit Jahren. Einer von der Mannschaft kommt ihm entgegen. Der Seemann nickt lächelnd und drückt sich an die Wand, um den Älteren passieren zu lassen. Er murmelt etwas auf Isländisch, aber Fred bringt nicht mehr die Kraft auf, sich an die Sprache zu erinnern, die er seit Jahrzehnten kaum gesprochen hat. Das Geräusch, das er von sich gibt, während er an dem Mann im orangefarbenen Overall vorbeigeht, ist wenig mehr als ein gurgelndes Husten.
Er bekommt keine Luft mehr. Schmerz schießt ihm durch Arm und Schultern. Hustend und keuchend platscht er an Deck wie ein Fisch aus einem Schleppnetz, und mit fest zusammengepressten Lidern füllt er seine Lunge in tiefen Zügen mit der eisigen, frostigen Luft. Das Deck ist verlassen. In seinem Rücken liegt der künstliche Berg aus Frachtcontainern, den der Frachter in drei Tagen löschen wird. Weiter vorne Richtung Bug sieht er kleine gelbe Vierecke von der Brücke leuchten. Halogenlampen werfen bleiche Lichtkreise auf den gummiartigen grünen Belag des Decks.
Er starrt in die See. Fragt sich, wie seine Kameraden wohl inzwischen aussehen. Ob ihre Skelette intakt geblieben sind, oder ob die Meeresströmungen sie zerpflückt und durcheinandergewirbelt haben. Er fragt sich, ob die Beinknochen von Georgie Blanchard sich vielleicht mit denen von Archie Cartwright verheddert haben. Die beiden konnten sich nie leiden.
Er fragt sich, wie sein eigener Leichnam heute aussehen würde. Mit hängendem Kopf grübelt er darüber nach, wie er vierzig gestohlene Jahre vergeudet hat. Er greift in die Tasche und holt seine Zigaretten hervor. Es ist Jahre her, seit er zum letzten Mal ein Streichholz in einem Sturm der Stärke 5 anzünden musste, aber er erinnert sich noch an die Kunst, die Flamme mit der hohlen Hand zu schützen und rasch einen tiefen Zug Zigarettenrauch einzuatmen. Er lehnt sich mit dem Rücken gegen die Reling und sieht sich um, versucht, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Betrachtet die ferne Sichel des Mondes, die in ein ausgefranstes Kissen aus Wolken eintaucht. Die weißen Schaumkronen auf dem schwarzen Wasser, während der Frachter durch den tiefen Ozean pflügt.
Warum du, Fred? Warum hast du überlebt und sie nicht? Warum ...
Fred kommt nie dazu, den Gedankengang zu beenden. Raucht nie seine Zigarette zu Ende. Wird nie den Kranz niederlegen und die Gedenktafel ins Meer werfen, um achtzehn Kameraden Lebewohl zu sagen, die auf See geblieben sind. Einen Augenblick will es ihm scheinen, als wäre das Schiff auf Grund gelaufen.
Er wird nach hinten geworfen. Kracht so hart gegen die Reling, dass ihm die Luft aus den Lungen gequetscht und eine zersplitterte Rippe durch die Haut nach außen getrieben wird. Blut sprüht von seinen Lippen, während die Kraft aus seinen Beinen schwindet. Er sinkt in die Knie, rutscht auf den Bauch, als seine Hände auf dem nassen Deck abgleiten.
Der alte Mann blickt auf, und einen Moment lang kommt es ihm so vor, als würde er durch das falsche Ende eines Fernglases schauen. Die Reporterin ist vierzig Jahre weit entfernt. »Mr Stein?«
Eine warme, sanfte Hand auf seinem knochigen Knie. »Möchten Sie Ihre Erinnerungen an diesen Moment mit uns teilen?« Es kostet seine ganze Willenskraft, sich von der Vergangenheit loszureißen und wieder in die Gegenwart einzutauchen. Er blinzelt. Zwingt sich mit der Furcht eines alten Mannes vor dem Vergessen, sich zusammenzureißen. Du bist immer noch da, sagt er sich. Immer noch am Leben. »Mr Stein? Fred?«
Du bist am Leben, sagt er sich abermals. Auf dem riesigen Containerfrachter Carla.
Siebzig Meilen vor der isländischen Küste. Ein letztes Interview in der Kombüse, mit ihrem Gestank nach Frittiertem und verbranntem Kaffee, nach Diesel und Meeresgischt; das tiefe, dumpfe Hintergrundrauschen von ungewaschenen Männern und nasser Wolle. So viele Erinnerungen ...
Er blinzelt wieder. Das wird zur Gewohnheit. Warum weine ich nicht?, denkt er. Sie hat Tränen verdient, diese ganze Sache. Er sieht sich die Frau genauer an. Vornübergebeugt auf einem harten Stuhl wie ein Jockey in vollem Ritt. Hält ihm das Mikrophon vor die Nase wie einem kleinen Kind seinen Lutscher. Er schließt die Augen, und dann überrollt es ihn wie eine Woge.
Einen Augenblick lang ist er wieder ein junger Mann am Beginn einer Achtzehnstundenschicht, der sich seinen Pullover überstreift, steif von Fischinnereien und Schleim. Er wärmt sich die Hände an einem Becher Tee und schaufelt sich zwischendrin Porridge in den Mund, um seinen Hunger zu stillen. Er hat Schmerzen. Versucht sich einzureden, dass diese Hände seine eigenen sind. Er hört den Skipper. Die Dringlichkeit in seiner Stimme. Er schwingt den Enterhaken. Die Axt. Hackt auf das Eis ein. Haut Eisbrocken los, die einem den Schädel einschlagen können, wenn man nicht schnell genug zur Seite springt. Er spürt, wie das Schiff zu sinken beginnt ...
»Das Geräusch des Windes«, sagt er und fühlt, wie seine Finger in der Manteltasche das Kreuz schlagen und vor der glatten, seidigen Oberfläche eines Päckchens Benson & Hedges die Knie beugen. Es ist eine alte Gewohnheit, Überbleibsel einer katholischen Erziehung. »Können Sie es für uns beschreiben?«
»Es war wie in einem Haus auf dem flachen Moor«, sagt er und schließt ein Auge. »Der Wind kam von allen Seiten zugleich. Heulend. Brüllend. Kreischend. Als wollte er uns nie wieder aus seinen Fängen lassen. Ich vibrierte im Wind. Wie eine Stimmgabel. Ich spürte, wie das Deck unter mir bebte, und ich stand stocksteif da, wie festgefroren auf diesem verdammten Fleck.«
Sie nickt ihrem Kameramann zu und bedeutet ihm, weiterzudrehen. Er ist sein Geld wert, dieser nette alte Knabe mit dem Hemd aus dem Wohlfahrtsladen und einer Krawatte der Kingston Rovers aus Hull. Er hält sich ziemlich gut, wenn man bedenkt. Verkraftet die Kälte besser als sie. Und er hat Seemannsbeine, das muss man ihm lassen. Und eine bessere Konstitution noch dazu. Sie hat nur mit Mühe ihr Essen unten behalten können, seit sie in diese Schlechtwetterfront geraten sind, und es ist nicht gerade hilfreich, dass der einzige Raum auf diesem angeblichen Superfrachter, der groß genug ist für sie, den Kameramann und das Mikrophon, die schmierige, mit Essensresten verkleisterte Küche ist. Kombüse, berichtigt sie sich mit journalistischer Präzision.
»Sprechen Sie weiter, Mr Stein.«
»Um ehrlich zu sein, meine Liebe, es waren die Stiefel«, sagt der alte Mann und wendet den Blick ab. »Die Stiefel meiner Kameraden. Ich konnte sie auf dem Deck hören. Sie quietschten. Dieses Quietschen von Gummi auf dem Holz. Ich hatte es nie zuvor richtig wahrgenommen. Acht Jahre auf Fischtrawlern, und ich hatte nie das Geräusch der Schritte gehört. Nicht über dem Lärm der Maschinen und der Generatoren. Aber in jener Nacht schon. Der Wind legte sich gerade lange genug, dass ich sie laufen hörte. Nett, nicht wahr? Hinterhältiger Bastard, dieser Wind. Es war, als wollte er vor dem letzten fürchterlichen Ansturm noch einmal Atem holen. Und ich stand da und dachte: ›Ich kann ihre Stiefel hören.‹ Und vierzig Jahre später ist es genau das, woran ich mich erinnere. Ihre verdammten Stiefel. Kann das Geräusch seither nicht mehr ertragen. Ich gehe nicht mehr vor die Tür, wenn es regnet. Ich halte es nicht aus, einen Stiefel auf einer nassen Oberfläche quietschen zu hören. Mag nicht einmal daran denken. Das ist der Grund, warum ich mir wegen dieser Reise hier nicht sicher war. Nicht wegen der Wellen. Nicht wegen des verfluchten Mistwetters. Es ist der Gedanke daran, ein paar Gummistiefel auf einem nassen Deck zu hören und das Gefühl zu haben, als hätte der Sturm von damals nie aufgehört ...«
Jetzt nickt die Reporterin. Caroline. Knapp über dreißig. Ohrringe aus Holz und eine Frisur wie ein neunjähriger Junge. Keine Schönheit, aber selbstbewusst und putzmunter. Make-up wie eine Nachrichtensprecherin. Londoner Akzent und teure Ringe an drei Fingern, Finger, die zu Beginn der Reise manikürt gewesen sind, deren Nägel jetzt aber an den Rändern ein wenig ausgefranst und ausgebessert erscheinen.
»Dann ging es wieder los«, sagt er. »Es war, als säße man in einer Wellblechhütte, auf die jemand mit einem Kricketschläger eindrischt. Schlimmer noch. Wie auf einer Startbahn, von der hundert Flugzeuge gleichzeitig abheben. Dann begannen die Wellen, über uns zusammenzuschlagen. Die Gischt verwandelte die Luft zu Eis, und es war, als würden eine Million Nadeln gleichzeitig auf einen einstechen. Mein Gesicht und meine Hände brannten wie Feuer. Ich dachte, es würde mir die Ohren in den Schädel drücken. Ich war am ganzen Körper wie gelähmt. Ich konnte nicht mehr stehen. Konnte keinen Schritt mehr in eine bestimmte Richtung tun. Taumelte einfach auf dem Deck herum, knallte von einem Eck ins andere. Eine scheiß Flipperkugel, das war ich. Kullerte nur noch durch die Gegend und hoffte, es würde endlich aufhören. Ich hätte mir bei der Gelegenheit ein paar Knochen brechen können, aber ich erinnere mich nicht einmal daran, dass es weh tat. Es war, als könnten meine Sinne nicht alles gleichzeitig verarbeiten, was auf mich einstürmte. Alles war nur noch Lärm und Kälte. Und das Gefühl, dass die Luft sich selbst in Stücke reißt.«
Sie ist glücklich, denkt er. Sie liebt das. Und er ist ziemlich stolz auf sich selbst. Es ist vierzig Jahre her, seit er diese Geschichte ohne ein Glas Bier in der Hand erzählen konnte, und der Becher Tee, den er in seiner plumpen, rosa marmorierten Faust hält, ist kalt geworden, ohne ein einziges Mal seine Lippen zu berühren.
»Und wann erging dann der Befehl, das Schiff zu verlassen? « »Es war alles ein einziges Tohuwabohu. Entsetzlich finster. Die Lichter gingen in dem Moment aus, als wir auf die Felsen aufliefen. Haben Sie jemals Schnee und Gischt in der Dunkelheit gesehen? Es ist, als säße man in einem kaputten Fernsehgerät gefangen. Man kann nicht einmal mehr aufrecht stehen. Weiß nicht mehr, wo oben und unten ist ...«
Er fährt sich mit der Hand an die Wange. Entdeckt eine Träne. Er betrachtet sie, wie sie anklagend an seinem rissigen, faltigen Fingerknöchel hängt. Er hat seit Jahren seine eigenen Tränen nicht mehr gesehen. Nicht seit dem Tod seiner Frau. Auch damals haben sie ihn kalt erwischt. Nach der Beerdigung. Nach der Totenwache. Nachdem alle nach Hause gegangen waren und er die Teller wegräumte und Schweinekrusten und Chips in den Abfallkübel schmiss. Die Tränen waren gekommen, als hätte jemand eine Schleuse geöffnet. Waren so lange gelaufen, dass er am Ende lachen musste, verblüfft von sich selbst, während er über die Spüle gebeugt stand und es ihm vorkam, als hätte er einen Wasserhahn auf jeder Seite der Nase: Und so ergoss er sich in das Meer, das er für sie aufgegeben hatte. »Mr Stein ...«
»Lassen wir es fürs Erste gut sein, meine Liebe. Machen wir eine Pause, ja?« Seine Stimme klingt immer noch kräftig. Rau von Zigaretten und Magenbitter. Aber auf einmal scheint er zu zittern. Fröstelt in seinem Anzug mit den speckigen Ellbogen und den fadenscheinigen Knien. Er schwitzt.
Caroline scheint protestieren zu wollen. Will ihm sagen, dass sie schließlich aus genau diesem Grund hier sind. Dass das Zeigen von Gefühlen den Zuschauern helfen wird zu verstehen, wie tief ihn dieses Erlebnis geprägt hat. Aber sie hält den Mund, als sie begreift, dass es so klingen würde, als wollte sie einen dreiundsechzig Jahre alten Mann dazu auffordern, für die Kamera wie ein Baby zu flennen.
»Morgen, meine Liebe. Nach dem Dings.«
»Okay«, sagt sie und bedeutet ihrem Kameramann, dass er nicht weiter drehen soll. »Sie wissen doch, wie es ablaufen wird, ja?« »Sie werden mich schon rechtzeitig informieren.«
»Nun, der Kapitän gibt uns eine Stunde Zeit, genau an der Stelle, wo Sie damals untergegangen sind. Es ist knapp, und das Wetter wird nicht besonders sein, aber es bleibt Zeit genug für die Zeremonie. Ziehen Sie sich warm an, ja? Wie gesagt, wir haben einen schlichten Kranz und eine Gedenktafel vorbereitet. Wir werden Sie dabei filmen, wie Sie sie über die Reling werfen.« »Also gut, meine Liebe«, sagt er mit einer Stimme, die nicht wie seine eigene klingt. Eher wie ein Quietschen. Wie die Sohle eines Gummistiefels auf nassem Holz. Plötzlich spürt er einen Druck auf der Brust. Er schenkt ihr das strahlendste, großväterliche Lächeln, das er noch zustande bringt, sagt gute Nacht und ignoriert seine protestierenden Knie, während er sich aus dem Stuhl mit der harten Lehne hochstemmt und drei schwankende Schritte auf die offene Tür zu macht. Er schiebt sich in den engen Korridor und geht in Richtung Deck, schneller als seit Jahren. Einer von der Mannschaft kommt ihm entgegen. Der Seemann nickt lächelnd und drückt sich an die Wand, um den Älteren passieren zu lassen. Er murmelt etwas auf Isländisch, aber Fred bringt nicht mehr die Kraft auf, sich an die Sprache zu erinnern, die er seit Jahrzehnten kaum gesprochen hat. Das Geräusch, das er von sich gibt, während er an dem Mann im orangefarbenen Overall vorbeigeht, ist wenig mehr als ein gurgelndes Husten.
Er bekommt keine Luft mehr. Schmerz schießt ihm durch Arm und Schultern. Hustend und keuchend platscht er an Deck wie ein Fisch aus einem Schleppnetz, und mit fest zusammengepressten Lidern füllt er seine Lunge in tiefen Zügen mit der eisigen, frostigen Luft. Das Deck ist verlassen. In seinem Rücken liegt der künstliche Berg aus Frachtcontainern, den der Frachter in drei Tagen löschen wird. Weiter vorne Richtung Bug sieht er kleine gelbe Vierecke von der Brücke leuchten. Halogenlampen werfen bleiche Lichtkreise auf den gummiartigen grünen Belag des Decks.
Er starrt in die See. Fragt sich, wie seine Kameraden wohl inzwischen aussehen. Ob ihre Skelette intakt geblieben sind, oder ob die Meeresströmungen sie zerpflückt und durcheinandergewirbelt haben. Er fragt sich, ob die Beinknochen von Georgie Blanchard sich vielleicht mit denen von Archie Cartwright verheddert haben. Die beiden konnten sich nie leiden.
Er fragt sich, wie sein eigener Leichnam heute aussehen würde. Mit hängendem Kopf grübelt er darüber nach, wie er vierzig gestohlene Jahre vergeudet hat. Er greift in die Tasche und holt seine Zigaretten hervor. Es ist Jahre her, seit er zum letzten Mal ein Streichholz in einem Sturm der Stärke 5 anzünden musste, aber er erinnert sich noch an die Kunst, die Flamme mit der hohlen Hand zu schützen und rasch einen tiefen Zug Zigarettenrauch einzuatmen. Er lehnt sich mit dem Rücken gegen die Reling und sieht sich um, versucht, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Betrachtet die ferne Sichel des Mondes, die in ein ausgefranstes Kissen aus Wolken eintaucht. Die weißen Schaumkronen auf dem schwarzen Wasser, während der Frachter durch den tiefen Ozean pflügt.
Warum du, Fred? Warum hast du überlebt und sie nicht? Warum ...
Fred kommt nie dazu, den Gedankengang zu beenden. Raucht nie seine Zigarette zu Ende. Wird nie den Kranz niederlegen und die Gedenktafel ins Meer werfen, um achtzehn Kameraden Lebewohl zu sagen, die auf See geblieben sind. Einen Augenblick will es ihm scheinen, als wäre das Schiff auf Grund gelaufen.
Er wird nach hinten geworfen. Kracht so hart gegen die Reling, dass ihm die Luft aus den Lungen gequetscht und eine zersplitterte Rippe durch die Haut nach außen getrieben wird. Blut sprüht von seinen Lippen, während die Kraft aus seinen Beinen schwindet. Er sinkt in die Knie, rutscht auf den Bauch, als seine Hände auf dem nassen Deck abgleiten.
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Autoren-Porträt von David Mark
Mark, DavidDavid Mark wurde 1977 in Carlisle, England, geboren. Er lebt zusammen mit seiner Partnerin, zwei Kindern und zwei Hunden in einem abgelegenen Bauernhaus. Mark war über zehn Jahre lang als Gerichtsreporter für verschiedene Zeitungen tätig. In seiner Freizeit liest er gerne, trinkt dazu einen Whisky und geht danach zum Boxtraining.
Bibliographische Angaben
- Autor: David Mark
- 2012, 352 Seiten, Maße: 12 x 19,2 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Friedrich, Peter
- Übersetzer: Peter Friedrich
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548284337
- ISBN-13: 9783548284330
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