Strangeland
Tracey Emin staunt darüber, auf der Welt zu sein. Macht prägende sexuelle Erfahrungen. Und hat mit fünfzehn das Gefühl, schon alles erlebt zu haben. Doch das ist erst der Anfang der Reise eines wilden romantischen Mädchens, das seine Unschuld längst...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Strangeland “
Tracey Emin staunt darüber, auf der Welt zu sein. Macht prägende sexuelle Erfahrungen. Und hat mit fünfzehn das Gefühl, schon alles erlebt zu haben. Doch das ist erst der Anfang der Reise eines wilden romantischen Mädchens, das seine Unschuld längst verloren hat. Strangeland ist das Selbstporträt einer schillernden Frau und radikalen Künstlerin.
Klappentext zu „Strangeland “
Tracey Emin ist die bedeutendste britische Künstlerin der GegenwartDie Memoiren Tracey Emins dokumentieren das Leben einer außergewöhnlichen Frau. Als Tochter einer Britin und eines türkisch-zypriotischen Vaters wächst sie mit ihrem Zwillingsbruder Paul in der heruntergekommenen Küstenstadt Margate auf. Nach dem Bankrott des ehemals reichen Vaters lebt die Familie getrennt und in ärmlichen Verhältnissen. Sie wird als Teenager vergewaltigt, bricht vorzeitig die Schule ab, stürzt sich in zahllose Affären. Mit ihrem Vater reist sie später in die Türkei und nach Zypern, um sich über ihre Zukunft klarer zu werden. Radikal offen und bisweilen selbstironisch erzählt sie von den existentiellen Themen einer Frau von heute: sexuelle Begierden und Männerbilder, Kinderwunsch und Abtreibung, Verwirrungen der Liebe und Abgründe der Einsamkeit. Kunst ist dabei für Emin immer auch die "Kunst des Lebens und die Kunst des Wollens".
"Eine glänzende Erzählerin." -- Volker Isfort, Abendzeitung
"Emin erzählt eine harte Geschichte, aber sie hat den Glauben an die Schönheit des Lebens nicht verloren." -- The Guardian
"Sie bricht einem das Herz und ist noch dazu auf unangestrengte Weise komisch." -- The Times
"Emin erzählt eine harte Geschichte, aber sie hat den Glauben an die Schönheit des Lebens nicht verloren." -- The Guardian
"Sie bricht einem das Herz und ist noch dazu auf unangestrengte Weise komisch." -- The Times
Lese-Probe zu „Strangeland “
Als ich geboren wurde, hielten sie mich für tot. Paul war zehn Minuten vor mir da. Jetzt kam ich an die Reihe. Ich rutschte heraus, klein und gelb, die Augen zu. Ich weinte nicht. Im Moment, als ich in diese Welt geboren wurde, hatte ich das Gefühl, dass es sich um ein Missverständnis handelte. Ich konnte weder schreien noch weinen oder mich verteidigen. Reglos lag ich da und wünschte mich dorthin zurück, von wo ich gekommen war.Nachdem sie mich in einen kleinen Kasten aus Glas gesteckt hatten, wachte ich langsam auf.
Paul und ich teilten uns ein Gitterbettchen. Während er ständig etwas vor sich hin brabbelte, das außer mir niemand verstand, lag ich stumm auf dem Rücken und streckte meine Arme zum Himmel empor. Ich fuchtelte mit den Händen in der Luft herum, um die unsichtbaren Linien zu erwischen, die nur ich sah. Die Fäden, die alle Augenblicke miteinander verbinden: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Stricke, die das menschliche Schicksal zusammenhalten, von der Ewigkeit bis zu den Sternen.
Als Baby habe ich ein paar Mal versucht zu sterben. Einmal wäre mir das auch beinahe gelungen, indem ich meinen Mund gegen die Innenseite des Babybettchens presste und keine Luft mehr bekam. Doch Paul rettete mich - er rettete mich, indem er zu schreien begann und nicht mehr damit aufhörte. Überhaupt schien es so, als wäre er für immer da, um auf mich aufzupassen, und es fiel mir schwer, ihm das nicht übel zu nehmen. Meine Seele war frei herumgeflogen, bis sie sich im Moment der Zeugung verfangen hatte; als wäre ich an einem Haken aus dem Himmel herabgezogen und in ein Wesen dieser Welt verwandelt worden.
Die ersten Worte, die ich aufschnappte und die nicht von Paul stammten, gingen so: "Die Taubstummen sind jetzt ein Jahr alt, ein Jahr auf den Tag genau."
Bis ich drei Jahre alt war, redete ich kein Wort. Einmal ging Dad mit mir in den Garten. Er nahm mich auf den Arm, hob mich hoch und deutete auf einen Baum. An diesem kühlen Herbstmorgen kamen mir,
... mehr
während er mich festhielt, die ersten Worte über die Lippen. "Schau. Apfel."
Die letzte Nacht, die Mum und Dad gemeinsam verbringen sollten, war 1962. Beide waren verheiratet - aber nicht miteinander. Meine Mutter war einundzwanzig, als sie ihr erstes Kind bekam - meinen älteren Bruder Alan -, und sie bestand darauf, dass sich niemand diese Schmerzen vorstellen könne; jede Frau, die behauptete, es täte nicht weh, würde lügen. Als sie von meinem Vater schwanger wurde, suchte sie eine Klinik auf, um abtreiben zu lassen und es sich im letzten Moment noch einmal anders zu überlegen.
Dieser draufgängerische Türke, der sich immer irgendwo herumtrieb, der die Londoner Immobilienbranche aufgemischt und meiner Mutter schließlich den Boden unter den Füßen weggezogen hatte, machte ihr ein Angebot: entweder drei Tage die Woche - oder gar nicht. Meine Mutter, die Cashin hieß, nannte sich von da an Emin und gab sich mit diesen drei Tagen zufrieden. Denn sie wusste, dass er sich niemals von seiner Ehefrau scheiden lassen würde. Doch einige Zeit später, nachdem er pleite gegangen war und ein finanzielles Desaster nach dem anderen ausgelöst hatte, ließ er sie ohne einen Penny sitzen.
Manche Dinge aber halten ewig.
Ich saß bei den Tomatensträuchern. Mum und Dad schrien sich an, und ich zog einen Bambusstock aus der Erde. Die Pflanze bog sich daraufhin unter dem Gewicht der Tomaten hinunter zur Erde. Während meine Eltern herumstritten, stieß ich mir den Stock in meinen Oberschenkel. Als ich zu bluten begann, hörten sie auf zu schreien.
Paul und ich sind im Hotel International groß geworden, einem labyrinthartigen Gebäude mit siebzig Zimmern an der Küste von Margate, von dem aus man über die Winter Gardens schauen konnte. Das Hotel bestand aus sechs kleinen Gästehäusern, die miteinander verbunden waren; überall Fremde, Hotelgäste, Zimmermädchen, Küchenpersonal. Es gab auch eine Jukebox und einen Raum, in dem wir oft tanzten und der Blue Room genannt wurde. Wir waren reich und verwöhnt und beherrschten mehrere Sprachen: Englisch, Türkisch und eine dritte, die nur unsere eigene war.
Zu den sechs Gästehäusern gehörten sechs Innenhöfe, durch Löcher miteinander verbunden, die jemand in die Mauern geschlagen hatte. Eine Welt aus Lagern und Verstecken, Baracken und Hütten, Dächern und Garagen; ein Niemandsland, ein Königreich, unser Territorium. Wir waren reich - und wurden beneidet. Ich erinnere mich, dass ich sogar meine Weihnachtsgeschenke unausgepackt unter dem Bett versteckte, in der Hoffnung, sie würden irgendwann von selbst verschwinden.
Paul und ich wollten nur eins: normal sein. So wie andere Kinder. Aber das klappte nicht. Wir waren die Zwillinge. Bis wir fünf waren, sprachen wir unsere eigene Sprache. Wir hatten ein gemeinsames Zimmer und saßen auch in der Schule nebeneinander. Früher hatten wir eine Gebärmutter geteilt, jetzt teilten wir ein zwanghaftes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, was wir mal liebten und dann wieder hassten.
Das hier, erklärte uns Mum einmal, seien keine Süßigkeiten, sondern Pillen. Ganz besondere Pillen. Und diesen besonderen Pillen würden Paul und ich es verdanken, dass wir besonders blieben. Wenn Mum jeden Tag eine davon nehmen würde, würde sie nie wieder ein Baby kriegen. Doch wir waren sechs Jahre alt und waren es leid, besonders zu sein. Wir machten uns an ihre Handtasche heran, nahmen die Pillen heraus und versenkten eine nach der anderen im Waschbecken.
Doch weder bekamen wir ein Brüderchen noch ein Schwesterchen.
Sondern ein Kaninchen. Ein weißes Bällchen aus Flaum, das sein eigenes kleines Haus bewohnte. Paul baute ihm aus Schuhkartons ein Bett, und ich kümmerte mich um die Garderobe: Jäckchen, Hut und Minischuhe aus Servietten. An warmen Sommertagen hoppelte es zwischen den wild wachsenden Erdbeeren umher, und Paul und ich lachten vor Glück und bedingungsloser Liebe.
Je älter wir wurden, desto befremdlicher erschien uns die Welt, in der wir lebten - und wir waren uns dessen vollkommen bewusst. Zum ersten Mal fiel uns das auf, als unser Kaninchen starb. Natürlich starb es nicht einfach so, nein, es war umgebracht worden: Die Leute, die in der Küche arbeiteten, hatten es verhungern lassen, während wir gerade in London waren. Als wir zurückkamen, rannten wir als Erstes durchs Hotel und raus in den Hof und durch das Loch in der Mauer an die Stelle, die wir Green Garden nannten. Hier lebte unser Kaninchen. Der Stall war da, aber kein Kaninchen. In Zweier- und Dreiergruppen kamen Mitarbeiter des Hotels herausgelaufen und riefen: "Kaninchen, wo bist du?" Sie suchten unter Holzstapeln und Autoreifen, hinter Türen und in Büschen, hinter Verschlägen und in Mülltonnen. Paul und ich schauten uns tief in die Augen: Egal, was andere sagen würden, wir wussten, dass sie es umgebracht hatten. Das einzige wirklich lebendige Etwas, das wir aus freien Stücken zu lieben beschlossen hatten: weg. Unser flauschiges weißes Kaninchen.
Kurz nachdem es gestorben war, erkrankten Paul und ich an Keuchhusten. Mit Fieberträumen lagen wir nebeneinander in Mums Doppelbett, schwitzten und husteten uns die Seele aus dem Leib. Wir wollten unbedingt wieder gesund werden, und selbst als Kranke hatten wir es satt, privilegiert zu sein - all das Getue und kleine Aufmerksamkeiten hier und Mitbringsel da. Als ich eines Tages aufwachte, stand Paul nackt mitten im Zimmer und hielt eine Schleuder in der Hand. Während er den Gummi zurückzog, meinte er: "Ich bin wieder okay." Plötzlich schrie ich laut auf, mein Auge brannte. Leute stürmten ins Zimmer. Wham - er hatte mit einem glühenden Zigarettenstummel auf mein Gesicht gezielt und mein linkes Augenlid getroffen.
Die Zwillinge sind wohlauf.
Es ging uns wieder gut, und die Schule ließen wir von da an gleich ganz sein. Wir teilten uns weiterhin ein Doppelbett. Wir kreischten und kämpften miteinander, zogen uns an den Haaren, bissen und kratzten uns, machten uns gegenseitig den Platz streitig.
Paul und ich streiften um den Block. An einer Ecke standen ein paar Kids und betrachteten einen Haufen Hundescheiße.
"Los, Emu", sagte einer von ihnen. "Wetten, du traust dich nicht, da durchzulaufen?"
"Na, komm schon", meinten die anderen.
Ich sah Paul an und sagte: "Tu das nicht."
Paul streckte seine Hand aus und rief den anderen zu: "Gebt uns euer Geld, alles, was ihr habt."
Dann lief er geradewegs durch die Scheiße.
Als Paul und ich nach Hause gingen, kratzte er sich die Scheiße von den Schuhen, und ich fragte ihn: "Wofür, Paul? Wozu soll das gut sein?"
Er zog eine Handvoll Geld aus der Tasche, klimperte damit herum und sagte: "Es ist nur Scheiße, Sis."
Da begriff ich. Ich begriff, dass Paul und ich verschieden waren und sich unsere Wege trennen würden.
Ein anderes Mal wurde ich vom Läuten Hunderter Glocken geweckt. Das Zimmer war voller Rauch, ein gigantischer Ozean aus Flammen umgab das Bett. Ismile, der Liebhaber unserer Mutter, schlug mit bloßen Händen auf sie ein. Ich weiß noch, wie er mich im Arm hielt und hinaustrug.
Paul stand lächelnd im Flur. Er war es, der das Bett in Brand gesetzt hatte. Für eine gewisse Zeit sollte jeder von uns ein eigenes Zimmer haben.
Bald aber gab es überhaupt keine Zimmer mehr und auch kein Hotel und keine Gäste. Dad war abgehauen: Er hatte all sein Geld und schließlich auch das Hotel verspielt. Das Hotel International wurde vernagelt, und meine Mum schleppte wie eine Furie unsere Möbel über den Hof ins Cottage, das ehemalige Haus der Bediensteten.
Nicht, dass es uns gehört hätte. Wir zogen einfach ein. Uns blieb keine Wahl: Es gab nichts, wo wir sonst hätten wohnen können. Es war ein Abstieg, doch das kümmerte uns nicht. Es kam uns normal vor, mit Mum in diesem winzigen Haus zu leben.
Wir fühlten uns wild und ungebunden. Im Sommer gingen wir schwimmen, hörten Buddy Holly und die Beach Boys, trugen Turnschuhe mit Sternen, schauten uns im Fernsehen die Serie Banana Splits an und klebten die Zimmerwände von oben bis unten mit Postern zu. Es war kein bisschen seltsam, dass wir uns als Zehnjährige noch immer ein Zimmer teilten. Wir teilten alles. Jetzt umso mehr, denn jetzt waren wir arm.
"Komm, Sis. Ich muss dir was zeigen."
Paul erhob sich auf seinem Bett, seine blaue Nylonunterhose von Aertex spannte sich um seinen Pimmel. Durch die Beinlöcher waren kleine Bommel zu sehen. Ich ließ meine Finger darübergleiten. Paul machte einen gewaltigen Satz, dann warf er mich aufs Bett, rammte mir seinen Fuß zwischen die Beine und presste ihn gegen meine Muschi. "Ergib dich, ergib dich."
"Gut. Ich ergebe mich ja schon", sagte ich. "Bitte, Paul. Du tust mir weh."
Irgendwann kamen Hausbesetzer, und das waren wir in gewisser Weise auch - so viel hatten wir immerhin gemeinsam.
Ich beobachtete sie, wie sie auf das Küchendach kletterten und durch das Fenster stiegen. Sie waren zu dritt: ein Blonder und zwei Dunkle. Das Hotel hatte zu der Zeit bereits einige Jahre leer gestanden; vorne war es mit Sperrholzplatten verrammelt, doch auf der Rückseite gab es unzählige verschiedene Fenster, die ich immer im Auge behielt - meine neue Obsession. Jeder flüchtiger Blick, den ich auf die drei Männer erhaschen konnte, wurde zu einem geheimen Triumph. Sie wussten, dass ich sie beobachtete, das spürte ich.
Früh am Morgen stand ich auf, schlich mich die Treppe hinunter und gelangte durch die Hintertür ins Freie. Die Sonne schien bereits, es war taghell. Ich wollte die Hausbesetzer treffen. Sie hatten mich gesehen, ich hatte sie gesehen. Sie wussten, dass ich es wusste. Meine Fantasie drehte sich nur noch um sie: ein Blonder, zwei Dunkle. Ich kroch durch das Loch in der Mauer und stand direkt unter ihrem Zimmer. Die beiden Dunklen - beide langhaarig, einer mit Bart - stiegen durchs Fenster und standen dann auf dem flachen Dach. "Hey!", riefen sie und grinsten. "Da ist ja unsere kleine Freundin."
Ich stand da in meinem pink-weiß gestreiften Nachthemd und hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte.
"Weiß deine Mum, dass du hier bist?"
"Nein, niemand weiß das", sagte ich. "Ihr seid mein Geheimnis."
Sie streckten mir ihre Hände entgegen und zogen mich an den Handgelenken hoch auf das Dach. Über ein Fenster kamen wir in ihr Zimmer, das quadratisch war und in dem sich drei Schlaflager, eine Wäscheleine, ein paar Töpfe und Pfannen sowie ein kleiner Gasbrenner befanden. Die Tür war von innen verbarrikadiert.
"Wie heißt du?", fragte der Bärtige.
"Tracey. Ich heiße Tracey."
Mit einem Lächeln gab er zurück: "Na, schön, dich kennenzulernen, Tracey. Ich bin Albert. Das ist Bert, und der hier ist Andy."
Der Ort, aus dem sie kamen, nannte sich Manchester. Hier in Margate wollten sie den Sommer über einen Job finden. Mir gefiel, wie sie redeten. Es war anders als das, was ich kannte. Sie selbst waren anders. Und ich stand da in meinem pink-weiß gestreiften Nachthemd und wusste, dass es nicht ganz ungefährlich war, aber ich wusste auch, dass ich keine Angst haben musste. Sie waren mein Geheimnis, fast so, als hätte ich sie erfunden: meine drei weisen Männer, der Traum eines elfjährigen Mädchens. Noch dazu sah Albert mit seinen langen dunklen Haaren und seinem vollen Bart ein bisschen aus wie Jesus.
Bald kroch ich jeden Morgen vor der Schule aus dem Bett, schlich die Treppen hinunter, ging raus über den Hof, schob mich durch das Loch in der Wand und kletterte aufs Dach; manchmal hatte ich ein paar Scheiben Brot, Teebeutel oder Kekse für sie dabei - alles, was ich aus der Küche kriegen konnte, ohne dass es auffiel. Wir hörten Radio, und manchmal tanzten wir auch dazu: das kleine Mädchen im pink-weißen Nachthemd und die drei weisen Könige.
Sie brachten mir Kartentricks bei, und ich kuschelte mich in ihre Schlafsäcke, wo sie mir von ihrem Leben auf der Straße erzählten und von Orten, die ich noch nie gehört hatte. Zu viert waren wir in einem geheimen frühmorgendlichen Ritual vereint. Manchmal, wenn Albert mich auf das Dach hob - seine Arme um meine Brust geschlungen -, schaute ich ihm in die Augen, sanft und braun, mit langen Wimpern, freundlich wie die eines Welpen: als würde er mir nie wehtun können. Ich war verliebt.
Die Schule war vorbei, die Sommerferien hatten begonnen. Mum arbeitete als Zimmermädchen und verließ jeden Morgen um halb sieben das Haus.
"Siehst du diese Münze?", fragte mich Albert. "Sie gehört dir, wenn du es schaffst, sie über dein Gesicht rollen zu lassen, ungefähr so Er hielt die Münze in der Hand, und ich schaute ihm dabei zu, wie er sie von seiner Stirn auf die Mitte der Nase und von dort über Lippen und Bart bis zum Hals herabrollen ließ. Das gefiel mir: Silber, das über sein Gesicht rollte.
Er gab die Münze weiter an Bert und Andy, die es genauso machten. Zu viert saßen wir im Schneidersitz auf dem Boden, als würden wir an einer alten Zeremonie teilnehmen.
"Mach die Augen zu", sagte Albert. "Immer schön zu lassen."
Er legte die Münze in meine Hand, und bedächtig ließ ich sie über mein Gesicht herabrollen.
Als ich die Augen wieder aufmachte, lachten alle. Ich strahlte.
"Du lieber Himmel", rief Albert erschrocken.
Smash - ein höllisches Geräusch: eine Spitzhacke schlug durch die Tür, kleine Holzstücke flogen in der Luft herum. Ich schrie laut auf. Es schien, als ob sich von überall her Hunderte von Schritten und Stimmen näherten.
Albert packte mich, schob mich durchs Fenster, hielt mich an den Handgelenken fest und ließ mich vom Dach herab. "Lauf", rief er, "schnell weg, lauf."
Ich stolperte über den Hof, verschwand in einem Mauerloch - und landete in den Armen eines Polizisten. Zuerst wand ich mich und versuchte, ihm zu entwischen. Das Nachthemd war zerfetzt, meine Beine bluteten.
Dann biss ich mir auf die Lippen; der Polizei würde ich kein Wort erzählen. Einer von ihnen redete ununterbrochen, aber ich hörte gar nicht zu. Als Albert, Bert und Andy in Handschellen abgeführt wurden, fing ich an zu weinen.
Von mir wollten die Polizisten nur eines wissen: wo ich diese Linie herhatte.
Schluchzend fragte ich: "Welche Linie?"
Sie hielten mir einen Spiegel vors Gesicht, und da: Von der Stirn bis zur Spitze meines Kinns verlief eine perfekte silberne Linie.
Ich stand mit Paul im Badezimmer.
"Sieh mal, Tray, ich kann ihn wachsen lassen."
Er fuhr mit der Hand seinen Pimmel rauf und runter. Der wurde größer und größer. Und dann - wow - flog ein weißer Sprühregen durch die Luft und verteilte sich auf dem Klodeckel. Paul grinste, während ich mich auf den Badewannenrand setzte - das eine Bein in der Wanne, das andere draußen -, die Bürste mit dem langen Griff nahm und schließlich sagte: "Schau du mal."
Doch einige Zeit später sagte ich zu Paul, dass ich das nicht mehr machen wolle, denn Gott würde uns irgendwann erwischen.
Paul meinte, das sei okay. Von Gott wolle auch er nicht erwischt werden, denn ER würde uns sowieso nicht lieben.
Mum war unterwegs, um Blei zu sammeln. Seit wir das Bedienstetenhaus in Beschlag genommen hatten, war es einfach für sie, von hinten ins Hotel hineinzukommen; verrammelt war es nur vorne. Ihrer Meinung nach handelte es sich dabei auch keineswegs um Diebstahl. Sie holte sich nur, was ihr zustand. Paul und ich fanden ihre Ausflüge immer ziemlich aufregend: Mum, die mit Eisensäge und Einkaufstasche das Haus verlässt, ein riesiger Vogel auf Futtersuche für seine Küken. Mum liebte uns: Sie hätte alles für uns getan.
Seltsam, wenn man bedenkt, dass wir nur ein Unfall waren ^ Als meine Mum mit Paul und mir schwanger war, bespuckten die Leute sie auf der Straße und nannten sie Negerbraut. Freunde versuchten sie zu einer Abtreibung zu überreden, weil sie nicht mit unserem Vater verheiratet war. Und noch viel schlimmer: Was da herauskäme, wäre am Ende vielleicht auch noch schwarz.
Als Paul und ich die ersten Male in die Schule gingen, meinten die anderen Kinder, unser Daddy sei ein wog. Zu Hause fragten wir: "Mummy, was ist ein wog?"
Sie sagte, wenn jemand unseren Vater einen wog nennen würde, sollten wir sagen: "Ja, stimmt, er ist ein Western Oriental Gentleman."
Daddy hat mir erzählt, dass sein Ur-Ur-Großvater ein Sklave im Ottomanischen Reich war. Ein Krieger aus dem Sudan, mit einer Haut, so schwarz wie die Nacht. Er trug einen roten Fes, ritt ein prächtiges Pferd und führte ein Schwert an seiner Seite.
Ich habe längst nicht mehr diese Haut und reite kein Pferd oder trage einen Fes. Aber es ist gut zu wissen, dass dieses Blut in meinen Adern fließt und auch ich ein Schwert an meiner Seite führe.
Es gab in unserem Leben immer Menschen, die kamen und gingen. Nur Chris schien irgendwie zur Einrichtung zu gehören.
Die letzte Nacht, die Mum und Dad gemeinsam verbringen sollten, war 1962. Beide waren verheiratet - aber nicht miteinander. Meine Mutter war einundzwanzig, als sie ihr erstes Kind bekam - meinen älteren Bruder Alan -, und sie bestand darauf, dass sich niemand diese Schmerzen vorstellen könne; jede Frau, die behauptete, es täte nicht weh, würde lügen. Als sie von meinem Vater schwanger wurde, suchte sie eine Klinik auf, um abtreiben zu lassen und es sich im letzten Moment noch einmal anders zu überlegen.
Dieser draufgängerische Türke, der sich immer irgendwo herumtrieb, der die Londoner Immobilienbranche aufgemischt und meiner Mutter schließlich den Boden unter den Füßen weggezogen hatte, machte ihr ein Angebot: entweder drei Tage die Woche - oder gar nicht. Meine Mutter, die Cashin hieß, nannte sich von da an Emin und gab sich mit diesen drei Tagen zufrieden. Denn sie wusste, dass er sich niemals von seiner Ehefrau scheiden lassen würde. Doch einige Zeit später, nachdem er pleite gegangen war und ein finanzielles Desaster nach dem anderen ausgelöst hatte, ließ er sie ohne einen Penny sitzen.
Manche Dinge aber halten ewig.
Ich saß bei den Tomatensträuchern. Mum und Dad schrien sich an, und ich zog einen Bambusstock aus der Erde. Die Pflanze bog sich daraufhin unter dem Gewicht der Tomaten hinunter zur Erde. Während meine Eltern herumstritten, stieß ich mir den Stock in meinen Oberschenkel. Als ich zu bluten begann, hörten sie auf zu schreien.
Paul und ich sind im Hotel International groß geworden, einem labyrinthartigen Gebäude mit siebzig Zimmern an der Küste von Margate, von dem aus man über die Winter Gardens schauen konnte. Das Hotel bestand aus sechs kleinen Gästehäusern, die miteinander verbunden waren; überall Fremde, Hotelgäste, Zimmermädchen, Küchenpersonal. Es gab auch eine Jukebox und einen Raum, in dem wir oft tanzten und der Blue Room genannt wurde. Wir waren reich und verwöhnt und beherrschten mehrere Sprachen: Englisch, Türkisch und eine dritte, die nur unsere eigene war.
Zu den sechs Gästehäusern gehörten sechs Innenhöfe, durch Löcher miteinander verbunden, die jemand in die Mauern geschlagen hatte. Eine Welt aus Lagern und Verstecken, Baracken und Hütten, Dächern und Garagen; ein Niemandsland, ein Königreich, unser Territorium. Wir waren reich - und wurden beneidet. Ich erinnere mich, dass ich sogar meine Weihnachtsgeschenke unausgepackt unter dem Bett versteckte, in der Hoffnung, sie würden irgendwann von selbst verschwinden.
Paul und ich wollten nur eins: normal sein. So wie andere Kinder. Aber das klappte nicht. Wir waren die Zwillinge. Bis wir fünf waren, sprachen wir unsere eigene Sprache. Wir hatten ein gemeinsames Zimmer und saßen auch in der Schule nebeneinander. Früher hatten wir eine Gebärmutter geteilt, jetzt teilten wir ein zwanghaftes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, was wir mal liebten und dann wieder hassten.
Das hier, erklärte uns Mum einmal, seien keine Süßigkeiten, sondern Pillen. Ganz besondere Pillen. Und diesen besonderen Pillen würden Paul und ich es verdanken, dass wir besonders blieben. Wenn Mum jeden Tag eine davon nehmen würde, würde sie nie wieder ein Baby kriegen. Doch wir waren sechs Jahre alt und waren es leid, besonders zu sein. Wir machten uns an ihre Handtasche heran, nahmen die Pillen heraus und versenkten eine nach der anderen im Waschbecken.
Doch weder bekamen wir ein Brüderchen noch ein Schwesterchen.
Sondern ein Kaninchen. Ein weißes Bällchen aus Flaum, das sein eigenes kleines Haus bewohnte. Paul baute ihm aus Schuhkartons ein Bett, und ich kümmerte mich um die Garderobe: Jäckchen, Hut und Minischuhe aus Servietten. An warmen Sommertagen hoppelte es zwischen den wild wachsenden Erdbeeren umher, und Paul und ich lachten vor Glück und bedingungsloser Liebe.
Je älter wir wurden, desto befremdlicher erschien uns die Welt, in der wir lebten - und wir waren uns dessen vollkommen bewusst. Zum ersten Mal fiel uns das auf, als unser Kaninchen starb. Natürlich starb es nicht einfach so, nein, es war umgebracht worden: Die Leute, die in der Küche arbeiteten, hatten es verhungern lassen, während wir gerade in London waren. Als wir zurückkamen, rannten wir als Erstes durchs Hotel und raus in den Hof und durch das Loch in der Mauer an die Stelle, die wir Green Garden nannten. Hier lebte unser Kaninchen. Der Stall war da, aber kein Kaninchen. In Zweier- und Dreiergruppen kamen Mitarbeiter des Hotels herausgelaufen und riefen: "Kaninchen, wo bist du?" Sie suchten unter Holzstapeln und Autoreifen, hinter Türen und in Büschen, hinter Verschlägen und in Mülltonnen. Paul und ich schauten uns tief in die Augen: Egal, was andere sagen würden, wir wussten, dass sie es umgebracht hatten. Das einzige wirklich lebendige Etwas, das wir aus freien Stücken zu lieben beschlossen hatten: weg. Unser flauschiges weißes Kaninchen.
Kurz nachdem es gestorben war, erkrankten Paul und ich an Keuchhusten. Mit Fieberträumen lagen wir nebeneinander in Mums Doppelbett, schwitzten und husteten uns die Seele aus dem Leib. Wir wollten unbedingt wieder gesund werden, und selbst als Kranke hatten wir es satt, privilegiert zu sein - all das Getue und kleine Aufmerksamkeiten hier und Mitbringsel da. Als ich eines Tages aufwachte, stand Paul nackt mitten im Zimmer und hielt eine Schleuder in der Hand. Während er den Gummi zurückzog, meinte er: "Ich bin wieder okay." Plötzlich schrie ich laut auf, mein Auge brannte. Leute stürmten ins Zimmer. Wham - er hatte mit einem glühenden Zigarettenstummel auf mein Gesicht gezielt und mein linkes Augenlid getroffen.
Die Zwillinge sind wohlauf.
Es ging uns wieder gut, und die Schule ließen wir von da an gleich ganz sein. Wir teilten uns weiterhin ein Doppelbett. Wir kreischten und kämpften miteinander, zogen uns an den Haaren, bissen und kratzten uns, machten uns gegenseitig den Platz streitig.
Paul und ich streiften um den Block. An einer Ecke standen ein paar Kids und betrachteten einen Haufen Hundescheiße.
"Los, Emu", sagte einer von ihnen. "Wetten, du traust dich nicht, da durchzulaufen?"
"Na, komm schon", meinten die anderen.
Ich sah Paul an und sagte: "Tu das nicht."
Paul streckte seine Hand aus und rief den anderen zu: "Gebt uns euer Geld, alles, was ihr habt."
Dann lief er geradewegs durch die Scheiße.
Als Paul und ich nach Hause gingen, kratzte er sich die Scheiße von den Schuhen, und ich fragte ihn: "Wofür, Paul? Wozu soll das gut sein?"
Er zog eine Handvoll Geld aus der Tasche, klimperte damit herum und sagte: "Es ist nur Scheiße, Sis."
Da begriff ich. Ich begriff, dass Paul und ich verschieden waren und sich unsere Wege trennen würden.
Ein anderes Mal wurde ich vom Läuten Hunderter Glocken geweckt. Das Zimmer war voller Rauch, ein gigantischer Ozean aus Flammen umgab das Bett. Ismile, der Liebhaber unserer Mutter, schlug mit bloßen Händen auf sie ein. Ich weiß noch, wie er mich im Arm hielt und hinaustrug.
Paul stand lächelnd im Flur. Er war es, der das Bett in Brand gesetzt hatte. Für eine gewisse Zeit sollte jeder von uns ein eigenes Zimmer haben.
Bald aber gab es überhaupt keine Zimmer mehr und auch kein Hotel und keine Gäste. Dad war abgehauen: Er hatte all sein Geld und schließlich auch das Hotel verspielt. Das Hotel International wurde vernagelt, und meine Mum schleppte wie eine Furie unsere Möbel über den Hof ins Cottage, das ehemalige Haus der Bediensteten.
Nicht, dass es uns gehört hätte. Wir zogen einfach ein. Uns blieb keine Wahl: Es gab nichts, wo wir sonst hätten wohnen können. Es war ein Abstieg, doch das kümmerte uns nicht. Es kam uns normal vor, mit Mum in diesem winzigen Haus zu leben.
Wir fühlten uns wild und ungebunden. Im Sommer gingen wir schwimmen, hörten Buddy Holly und die Beach Boys, trugen Turnschuhe mit Sternen, schauten uns im Fernsehen die Serie Banana Splits an und klebten die Zimmerwände von oben bis unten mit Postern zu. Es war kein bisschen seltsam, dass wir uns als Zehnjährige noch immer ein Zimmer teilten. Wir teilten alles. Jetzt umso mehr, denn jetzt waren wir arm.
"Komm, Sis. Ich muss dir was zeigen."
Paul erhob sich auf seinem Bett, seine blaue Nylonunterhose von Aertex spannte sich um seinen Pimmel. Durch die Beinlöcher waren kleine Bommel zu sehen. Ich ließ meine Finger darübergleiten. Paul machte einen gewaltigen Satz, dann warf er mich aufs Bett, rammte mir seinen Fuß zwischen die Beine und presste ihn gegen meine Muschi. "Ergib dich, ergib dich."
"Gut. Ich ergebe mich ja schon", sagte ich. "Bitte, Paul. Du tust mir weh."
Irgendwann kamen Hausbesetzer, und das waren wir in gewisser Weise auch - so viel hatten wir immerhin gemeinsam.
Ich beobachtete sie, wie sie auf das Küchendach kletterten und durch das Fenster stiegen. Sie waren zu dritt: ein Blonder und zwei Dunkle. Das Hotel hatte zu der Zeit bereits einige Jahre leer gestanden; vorne war es mit Sperrholzplatten verrammelt, doch auf der Rückseite gab es unzählige verschiedene Fenster, die ich immer im Auge behielt - meine neue Obsession. Jeder flüchtiger Blick, den ich auf die drei Männer erhaschen konnte, wurde zu einem geheimen Triumph. Sie wussten, dass ich sie beobachtete, das spürte ich.
Früh am Morgen stand ich auf, schlich mich die Treppe hinunter und gelangte durch die Hintertür ins Freie. Die Sonne schien bereits, es war taghell. Ich wollte die Hausbesetzer treffen. Sie hatten mich gesehen, ich hatte sie gesehen. Sie wussten, dass ich es wusste. Meine Fantasie drehte sich nur noch um sie: ein Blonder, zwei Dunkle. Ich kroch durch das Loch in der Mauer und stand direkt unter ihrem Zimmer. Die beiden Dunklen - beide langhaarig, einer mit Bart - stiegen durchs Fenster und standen dann auf dem flachen Dach. "Hey!", riefen sie und grinsten. "Da ist ja unsere kleine Freundin."
Ich stand da in meinem pink-weiß gestreiften Nachthemd und hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte.
"Weiß deine Mum, dass du hier bist?"
"Nein, niemand weiß das", sagte ich. "Ihr seid mein Geheimnis."
Sie streckten mir ihre Hände entgegen und zogen mich an den Handgelenken hoch auf das Dach. Über ein Fenster kamen wir in ihr Zimmer, das quadratisch war und in dem sich drei Schlaflager, eine Wäscheleine, ein paar Töpfe und Pfannen sowie ein kleiner Gasbrenner befanden. Die Tür war von innen verbarrikadiert.
"Wie heißt du?", fragte der Bärtige.
"Tracey. Ich heiße Tracey."
Mit einem Lächeln gab er zurück: "Na, schön, dich kennenzulernen, Tracey. Ich bin Albert. Das ist Bert, und der hier ist Andy."
Der Ort, aus dem sie kamen, nannte sich Manchester. Hier in Margate wollten sie den Sommer über einen Job finden. Mir gefiel, wie sie redeten. Es war anders als das, was ich kannte. Sie selbst waren anders. Und ich stand da in meinem pink-weiß gestreiften Nachthemd und wusste, dass es nicht ganz ungefährlich war, aber ich wusste auch, dass ich keine Angst haben musste. Sie waren mein Geheimnis, fast so, als hätte ich sie erfunden: meine drei weisen Männer, der Traum eines elfjährigen Mädchens. Noch dazu sah Albert mit seinen langen dunklen Haaren und seinem vollen Bart ein bisschen aus wie Jesus.
Bald kroch ich jeden Morgen vor der Schule aus dem Bett, schlich die Treppen hinunter, ging raus über den Hof, schob mich durch das Loch in der Wand und kletterte aufs Dach; manchmal hatte ich ein paar Scheiben Brot, Teebeutel oder Kekse für sie dabei - alles, was ich aus der Küche kriegen konnte, ohne dass es auffiel. Wir hörten Radio, und manchmal tanzten wir auch dazu: das kleine Mädchen im pink-weißen Nachthemd und die drei weisen Könige.
Sie brachten mir Kartentricks bei, und ich kuschelte mich in ihre Schlafsäcke, wo sie mir von ihrem Leben auf der Straße erzählten und von Orten, die ich noch nie gehört hatte. Zu viert waren wir in einem geheimen frühmorgendlichen Ritual vereint. Manchmal, wenn Albert mich auf das Dach hob - seine Arme um meine Brust geschlungen -, schaute ich ihm in die Augen, sanft und braun, mit langen Wimpern, freundlich wie die eines Welpen: als würde er mir nie wehtun können. Ich war verliebt.
Die Schule war vorbei, die Sommerferien hatten begonnen. Mum arbeitete als Zimmermädchen und verließ jeden Morgen um halb sieben das Haus.
"Siehst du diese Münze?", fragte mich Albert. "Sie gehört dir, wenn du es schaffst, sie über dein Gesicht rollen zu lassen, ungefähr so Er hielt die Münze in der Hand, und ich schaute ihm dabei zu, wie er sie von seiner Stirn auf die Mitte der Nase und von dort über Lippen und Bart bis zum Hals herabrollen ließ. Das gefiel mir: Silber, das über sein Gesicht rollte.
Er gab die Münze weiter an Bert und Andy, die es genauso machten. Zu viert saßen wir im Schneidersitz auf dem Boden, als würden wir an einer alten Zeremonie teilnehmen.
"Mach die Augen zu", sagte Albert. "Immer schön zu lassen."
Er legte die Münze in meine Hand, und bedächtig ließ ich sie über mein Gesicht herabrollen.
Als ich die Augen wieder aufmachte, lachten alle. Ich strahlte.
"Du lieber Himmel", rief Albert erschrocken.
Smash - ein höllisches Geräusch: eine Spitzhacke schlug durch die Tür, kleine Holzstücke flogen in der Luft herum. Ich schrie laut auf. Es schien, als ob sich von überall her Hunderte von Schritten und Stimmen näherten.
Albert packte mich, schob mich durchs Fenster, hielt mich an den Handgelenken fest und ließ mich vom Dach herab. "Lauf", rief er, "schnell weg, lauf."
Ich stolperte über den Hof, verschwand in einem Mauerloch - und landete in den Armen eines Polizisten. Zuerst wand ich mich und versuchte, ihm zu entwischen. Das Nachthemd war zerfetzt, meine Beine bluteten.
Dann biss ich mir auf die Lippen; der Polizei würde ich kein Wort erzählen. Einer von ihnen redete ununterbrochen, aber ich hörte gar nicht zu. Als Albert, Bert und Andy in Handschellen abgeführt wurden, fing ich an zu weinen.
Von mir wollten die Polizisten nur eines wissen: wo ich diese Linie herhatte.
Schluchzend fragte ich: "Welche Linie?"
Sie hielten mir einen Spiegel vors Gesicht, und da: Von der Stirn bis zur Spitze meines Kinns verlief eine perfekte silberne Linie.
Ich stand mit Paul im Badezimmer.
"Sieh mal, Tray, ich kann ihn wachsen lassen."
Er fuhr mit der Hand seinen Pimmel rauf und runter. Der wurde größer und größer. Und dann - wow - flog ein weißer Sprühregen durch die Luft und verteilte sich auf dem Klodeckel. Paul grinste, während ich mich auf den Badewannenrand setzte - das eine Bein in der Wanne, das andere draußen -, die Bürste mit dem langen Griff nahm und schließlich sagte: "Schau du mal."
Doch einige Zeit später sagte ich zu Paul, dass ich das nicht mehr machen wolle, denn Gott würde uns irgendwann erwischen.
Paul meinte, das sei okay. Von Gott wolle auch er nicht erwischt werden, denn ER würde uns sowieso nicht lieben.
Mum war unterwegs, um Blei zu sammeln. Seit wir das Bedienstetenhaus in Beschlag genommen hatten, war es einfach für sie, von hinten ins Hotel hineinzukommen; verrammelt war es nur vorne. Ihrer Meinung nach handelte es sich dabei auch keineswegs um Diebstahl. Sie holte sich nur, was ihr zustand. Paul und ich fanden ihre Ausflüge immer ziemlich aufregend: Mum, die mit Eisensäge und Einkaufstasche das Haus verlässt, ein riesiger Vogel auf Futtersuche für seine Küken. Mum liebte uns: Sie hätte alles für uns getan.
Seltsam, wenn man bedenkt, dass wir nur ein Unfall waren ^ Als meine Mum mit Paul und mir schwanger war, bespuckten die Leute sie auf der Straße und nannten sie Negerbraut. Freunde versuchten sie zu einer Abtreibung zu überreden, weil sie nicht mit unserem Vater verheiratet war. Und noch viel schlimmer: Was da herauskäme, wäre am Ende vielleicht auch noch schwarz.
Als Paul und ich die ersten Male in die Schule gingen, meinten die anderen Kinder, unser Daddy sei ein wog. Zu Hause fragten wir: "Mummy, was ist ein wog?"
Sie sagte, wenn jemand unseren Vater einen wog nennen würde, sollten wir sagen: "Ja, stimmt, er ist ein Western Oriental Gentleman."
Daddy hat mir erzählt, dass sein Ur-Ur-Großvater ein Sklave im Ottomanischen Reich war. Ein Krieger aus dem Sudan, mit einer Haut, so schwarz wie die Nacht. Er trug einen roten Fes, ritt ein prächtiges Pferd und führte ein Schwert an seiner Seite.
Ich habe längst nicht mehr diese Haut und reite kein Pferd oder trage einen Fes. Aber es ist gut zu wissen, dass dieses Blut in meinen Adern fließt und auch ich ein Schwert an meiner Seite führe.
Es gab in unserem Leben immer Menschen, die kamen und gingen. Nur Chris schien irgendwie zur Einrichtung zu gehören.
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Autoren-Porträt von Tracey Emin
Tracey Emin, geboren 1963, zählt zu den international einflussreichsten Künstlerinnen der Gegenwart. Berühmt wurde sie im Umfeld der Young British Artists mit aufsehenerregenden Arbeiten wie My Bed oder Everyone I have ever slept with 1963-1995. Seit 2007 ist sie Mitglied in der Royal Academy of Arts.
Bibliographische Angaben
- Autor: Tracey Emin
- 2010, 238 Seiten, Maße: 12 x 18,4 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Junkers, Sonja
- Übersetzer: Sonja Junkers
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442740657
- ISBN-13: 9783442740659
Rezension zu „Strangeland “
»Sie bricht einem das Herz und ist noch dazu auf unangestrengte Weise komisch.«
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