Sturz der Tage in die Nacht
Antje Rávic Strubel erzählt von einer ungewöhnlichen und unabwendbaren Liebe und von den langen Schatten eines untergegangen politischen Systems. Eine Insel in der Ostsee. Der junge Erik verliebt sich in die scheinbar unergründliche...
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Produktinformationen zu „Sturz der Tage in die Nacht “
Klappentext zu „Sturz der Tage in die Nacht “
Antje Rávic Strubel erzählt von einer ungewöhnlichen und unabwendbaren Liebe und von den langen Schatten eines untergegangen politischen Systems. Eine Insel in der Ostsee. Der junge Erik verliebt sich in die scheinbar unergründliche Vogelforscherin Inez. Aber die beiden werden beobachtet. Ohne es zu ahnen, sind sie längst in eine politische Intrige verstrickt. Die geschützte Insel wird zum schutzlosen Ort. Ein Roman, der von einer großen Liebe erzählt, von den Erinnerungen, Legenden und Lügen unserer Gegenwart, aber auch vom Glück, das im Vergänglichen liegt.
Lese-Probe zu „Sturz der Tage in die Nacht “
Sturz der Tage in die Nacht von Antje Rávic Strubel... mehr
Es hatte begonnen, wie es immer beginnt. Es beginnt auch jetzt noch immer.
Es beginnt auf diesem Wasser, auf dem Weg zurück. Die Fähre dreht, und ich sehe mich noch einmal um. Ich versuche, mir einzuprägen, wo ich gewesen bin; die Kate, die Felswand, der Leuchtturm, die schwimmenden Pontons am Strand.
Inez ist schon verschwunden. Sie ist langsam über die spitzen Kiesel den Strand hinaufgegangen zum Café. Im Schatten verwischen sich ihre Konturen. Die Sicht verschwimmt.
Beim Abschied drängte sich einer der Journalisten zwischen uns. Er schüttelte Inez die Hand.
Ich flüsterte ihr hastig zu, dass ich wiederkommen würde.
»Ich freu mich drauf«, sagte Inez. Ihre Stimme hatte diesen rauen Klang verloren, in dem sie nachts mit mir geflüstert hatte. Ihr Lachen war nicht mehr ihr Lachen vom Strand. Ich berührte ihren Unterarm flüchtig. Die Sonnenbrille verdeckte die Hälfte ihres Gesichts.
Das Boot nimmt Fahrt auf. Ich schaue zurück.
Inez und die Insel schwanken.
Weiß blitzt die Ostsee in der Ferne auf. Schaumkämme beherrschen die Wellen. Sie werden breiter, zinken länger aus, greifen tief hinein ins graue Wasser. Sie kämmen die Ostsee in Richtung Strand. Lange Strähnen, die der Wind auseinandertreibt und wieder zusammenschiebt, klatschen ans Ufer. Die Ostsee ist verspielt. Im Grunde ist sie nur ein See, aber sie öffnet sich dem Atlantik weit genug, um den Anschein eines Ozeans zu erwecken. Die Ostsee täuscht das Meer gewissermaßen vor. Um die Glaubwürdigkeit der Täuschung zu erhöhen, bringt sie einzelne Elemente des Meeres ins Spiel: Salzwasser. Muscheln. Feuersteine und Lummen.
Inez steht am Strand, die Augen mit der Hand abgeschirmt. Sie will den Jungen noch einmal sehen; das Haar bis zum Nacken, seinen offenen Blick, die verwahrlosten Hände. Aber die Fähre hat schon abgedreht. Von Erik ist nicht einmal mehr der Umriss erkennbar.
Sie dreht sich um und fixiert das Café. Die Bemerkung der Journalistin geht ihr durch den Kopf:
»Sie haben doch was miteinander. Sie und der Junge.« »Wir haben alles«, hat sie geantwortet.
DIE FLINTKUGEL
Es hatte begonnen, wie es immer beginnt. Es beginnt immer unmerklich. Im Nachhinein lässt sich nicht mehr genau sagen, wann. Der Beginn wird sofort in das Geschehen hinein aufgelöst, in das von der Bootsschraube aufgeworfene Wasser, in den Unsinn, den ich Inez sagte, in das endlose Kreisen der Vögel, die Cirruswolken, den Wind.
In Wahrheit wird es diesen Moment, in dem es begann, nicht gegeben haben. Ich fange an, danach zu suchen, wo alles unwiderruflich geworden ist. Im Nachhinein. Erst jetzt sieht es so aus, als wären die Ereignisse tatsächlich zwangsläufig aufeinander gefolgt, weil es die Geschichte in der Rückschau so verlangt. Ich suche nach einem entscheidenden Auslöser, weil ich die Wahl gehabt haben möchte, weil ich glauben möchte, dass ich irgendwann tatsächlich vor einer Entscheidung stand. Und das ist vielleicht der Irrtum.
Es hätte mit dem türkisfarbenen Leuchten des Wassers am Ufer beginnen können. Mit dem dürren Schatten, den der Ginsterbusch auf die weißverputzte Wand von Inez' Schlafzimmer wirft. Es hätte mit dem Himmel beginnen können, ein Himmel, der an stillen Mittagen so türkis ist wie das Meer. Dann werden aus den Flecken, die vor der Insel auf dem Wasser treiben, Algen, grüner Schlick, der an der Bootswand hängen bleibt. Später wischt die Gischt ihn wieder ab. Es hätte auch viel früher beginnen können, vor der Reise oder, wenn man an Schicksal glauben will, mit der Geburt. Es hätte damit beginnen können, wie wir, Inez und ich, geboren wurden.
Die Insel liegt da wie vor drei Monaten. Eine umgestülpte Untertasse. Auch der Kapitän ist derselbe, ein blasser Mann in einem roten Pullover, der immer eine Tüte Pistazien dabeihat und die Schalen aus dem offenen Fenster wirft. Der Wind treibt sie ab. Im Passagierraum liegt eine Zeitung von gestern, die Dagens Nyheter, die er vom Festland mitbringt, um sich die Wartezeiten zu vertreiben. Im Sommer legt die Fähre gegen elf Uhr morgens vor der Insel an und bringt Touristen und holt sie abends um fünf wieder ab. Im Herbst wird der Fährplan geändert, und die Fähre kommt seltener, und wenn ab Oktober die Stürme über das Plateau fegen, wird die Fährlinie eingestellt, und die Insel bleibt unbewohnt zurück.
Das gelbe Gras steht starr im Frost.
Es ist dieser Herbst gewesen, in dem alles begonnen hat, dieser nördliche Herbst mit seiner schneelosen Kälte, mit seiner erstickend frühen Dunkelheit, dieser Herbst mit seinem grau aufschäumenden Meer und den windgepeitschten Felsen. Es begann in der Nacht, in der es mich hinaus auf die Klippe trieb, die fünfzig, sechzig Meter über der Ostsee aufragt, in der ich dort oben stand und daran dachte, es zu tun, es mit derselben Leichtigkeit, mit demselben instinktiven Vertrauen zu tun wie die Vögel, die sich im Juni von den Felsen stürzen, denn ich war reich, und dieses Gefühl war grenzenlos, und ich wusste, dass es nicht über den Moment hinaus dauern würde, nicht länger andauerte als diese Minuten, in denen ich hier oben stand und der Wind so eisig war, dass mein Gesicht taub wurde und es mir den Atem zurück in die Lunge drückte. Ich wusste, dass es das war, was mich bis an die Kante der Felsen trieb, nicht Verzweiflung, nicht der Gedanke, entdeckt zu werden, oder die Angst vor dem, was dieser Entdeckung folgte. Wenn ich mich da oben nicht umgedreht hätte zum rotierenden Leuchtfeuer, wenn ich nicht zurückgeschaut und mir vorgestellt hätte, wie sie da lag mit den über die Schultern gerutschten Trägern ihres dünnen Nachthemdes, sondern wenn ich weitergegangen wäre, noch einen Schritt über den Rand der Klippe hinaus, dann wäre dieser Reichtum in mir für immer in der eisigen Kälte aufgehoben gewesen.
»Inez. Betonung auf dem e.«
»Das gefällt mir. Klingt spanisch.«
Der Herbst, nicht der Sommer war es, der mich so ausgeglüht hat, dass ich das Gefühl haben werde, richtungslos über den Asphalt zu treiben, wenn die Fähre mich in einer Stunde in dem verödeten Hafen von Klintehamn absetzen wird, von dem aus ich im Juni aufgebrochen war.
Ich hatte eine Woche auf Gotland verbracht. Ich hatte mir die Stadtmauer von Visby angesehen und das Klostertheater in Roma, ich war nach Fårö, Gotlands nördlicher Spitze, gefahren, die bis vor wenigen Jahren noch militärisches Sperrgebiet gewesen war. An Fårös Stränden ragen Kalksteinsäulen auf. Sie sind schlank und porös und wirken im Nebel wie steif aufgerichtete Leichname. Abends saß ich vor meinem Zelt und sah die Mücken tanzen. Es wurde nicht dunkel. Die Sonne verschwand nur für zwei Stunden hinter dem Horizont, der bis zum Morgen nachglühte. Ich schlief schlecht.
Ich buchte Zeltplätze für eine Nacht. Die Damen an den Rezeptionen händigten mir das Papierschild in Klarsichtfolie aus, das ich außen an mein Zelt hängte als Zeichen dafür, dass ich für den Platz bezahlt hatte. Sie fragten, wie lange ich blieb. Ich fragte, wo die Sanitäranlagen waren und wo ich Kaffee bekam, und tauschte Kleingeld gegen Metallchips, die ich später in die Duschautomaten steckte.
Die Damen an der Rezeption waren einsilbig. Jungen wie mich sahen sie jeden Tag. Sie waren gerade mit der Schule fertig und lagerten vor ihren Zelten, tranken Lättöl und verbrachten die Tage damit, über Musikgruppen und ihre Zukunft als DJs oder Surflehrer zu reden, wenn sie sich nicht schon morgens die Ohren mit ihren iPods verstöpselt hatten. Ich stellte mir meine Zukunft nicht in einem Club vor. Ich stellte mir nicht vor, halbnackt auf einer Bühne im Stroboskoplicht zu stehen oder auf einem Brett Wind und Wellen ausgeliefert zu sein, ich stellte mir meine Zukunft in jedem Fall bekleidet vor, angezogen, mit Hemd und Krawatte, auch wenn ich jetzt noch in Jeans und Kapuzenshirt herumlief. Ich wollte Wirtschaft und Politik studieren, und ich hatte mich dafür entschieden, weil ich hellblaue oder cremefarbene Hemden mit Seidenkrawatten unter leichten Schurwollanzügen tragen wollte, und zwar täglich.
Nach dem Abitur hatte ich es mit Jura probiert, mich nach zwei Jahren aber für Soziologie eingeschrieben und bald festgestellt, dass beides nicht das Richtige war. Auf einer Party hatte ich aus einem Tarotspiel die neun Stäbe gezogen. Seither musste ich an diese Karte denken, sobald man mich fragte, was ich jetzt machen würde, und weil ich immer mal gar nichts machte, wurde ich häufig gefragt. Neun Stäbe bedeuten Kraft, Vernunft und Selbstkontrolle, und seit ich diese Karte gezogen hatte, wusste ich, dass meine Entscheidung diesmal richtig war.
Bis vor drei Monaten klappte das noch. Da wusste ich noch, dass ich mir zuerst eine Auszeit gönnen würde. Ich wollte ein paar Wochen Ruhe, um dann gestärkt das neue Studium anzugehen und es schnell zu beenden. Krawatten und die Art Anzüge, die ich mir vorstellte, kosten Geld. Auch meine beiden besten Kumpel aus Schulzeiten hatten sich vorübergehend abgesetzt. Sie waren auf Weltreisen unterwegs. Hinterher würden sie mit ihren exotischen Abenteuern protzen und mich fragen, ob ich mich nicht zu Tode gelangweilt hätte da oben im menschenleeren Norden. Ich beneidete sie nicht.
Ich war nach Gotland gefahren. Ich war durch die Landschaft gestreift, und die Landschaft mit ihrem Kalkstein, ihrem struppigen Bewuchs, mit ihren verlassen daliegenden Plateaus, den versandeten Tümpeln und Klappersteinfeldern, auf denen es hunderte Millionen Jahre alte Fossilien gab, hatten mich in Trance versetzt. Ich ließ mich treiben.
Es war die Zeit nach meinem Aushilfsjob in einem Jugendprojekt; verglichen mit dem Zivildienst im Altenheim war das eine leichte Arbeit gewesen, auch wenn es täglich neun Stunden Lärm bedeutete, Drogen bedeutete, Messerstechereien und täglich entweder die Polizei oder das Jugendamt, täglich Rap oder Techno, täglich die Frage, ob du ein Hopper oder ein Emo bist, denn Emos sind schwarzgekleidete Schwulis, schwule Chorkinder, du Arsch, auch das täglich, täglich ich hab deine Mutter gefickt, überhaupt deine Mudder und willste was aufs Maul, und erst hier, unter Kiefern und Ostseewind, ließ die Erinnerung daran nach. Die Einsamkeit, die langen Tage, die Stille in den kleinen Ortschaften entspannten mich.
Am Ende der Woche hatte ich in einem Touristenbüro einen Tagesausflug gebucht; eine geführte Tour auf eine Insel, die der Westküste Gotlands vorgelagert war. Ich hatte Lust, wieder mit jemandem zu reden. Wo es hinging, interessierte mich nicht.
Im Hafen von Klintehamn stand ein Kiosk, in dem schon lange nichts mehr verkauft wurde. Die Fenster waren vernagelt, eine verwaschene Preisliste für Lachs und Heringe hing noch am Holz. Der Parkplatz war schattenlos und leer. Am Kai, an dem das Boot zur Insel ablegen sollte, warteten zwei Frauen mit Wanderstöcken und Knickerbocker, Finninen, wie sich herausstellte. Andere Fahrgäste waren nicht zu sehen. Die Finninen verstanden kein Englisch. Sie sprachen schwedisch mit mir. Vielleicht dachten sie, es würde die Verständigung erleichtern, wenn beide Seiten eine ihnen fremde Sprache benutzten. Das war nicht der Fall. Sie glotzten mich an, als sie kapierten, dass ich nichts verstand. Später banden sie ihre Kopftücher ab. Die Haare darunter sahen aus wie das trockene Moosgeflecht, das sich hier zäh auf den Felsen hielt. Im Passagierraum der Fähre saß eine Familie. Die Großeltern sahen vor sich auf den Tisch, die Mutter schlief, dem Kleinkind lief Rotz übers Kinn.
Als der Bootsmann die Taue löste, kam noch ein Mann über den leeren Parkplatz gerannt. Er riss die Arme hoch. Der Kapitän ließ den Motor im Leerlauf stampfen, bis der Mann an Bord gesprungen war. Er trug eine abgewetzte schwarze Arzttasche. Er war verschwitzt. Das rotblonde Haar klebte ihm an der Stirn, der Sommeranzug hatte Flecken. In der Tür zur Passagierkabine blieb er stehen, als nehme er Witterung auf. Er starrte zuerst die Großfamilie an, dann mich. Ich sah diesem Idioten in die Augen, ey, du Chorkind, was aufs Maul?, bis er sich auf eine der vorderen Bänke setzte.
Nach einer knappen Stunde drehte die Fähre vor der Insel bei. Am Ufer ragte eine Felswand auf. Ihr Schatten fiel auf die Ostsee. Dort, wo kein Schatten war, leuchtete das Wasser türkisblau, am Strand verstreut standen ein paar Holzhütten.
Eine Frau in Khakishorts lief zur Anlegestelle. Sie lief auf die Kaimauer zu. Als sie den Steg erreichte, waren die weißen Träger ihres BHs unter dem Shirt zu sehen. Das Weiß blitzte. Es war weißer als der Sand, weißer als die Farbe der Kalksteine, weißer als das Boot.
Einer der zwei Jungen, die am Ufer standen, fing das Tau und befestigte es an einem Boller. Auf den olivgrünen Shirts, die sie trugen, war der Schriftzug »Stora Karlsö« zu sehen.
Die Frau war schlank. Ihre Arme sahen trainiert aus. Wind und Salzluft hatten ihre Haare gebleicht. Ihre Haut war sonnengebräunt. Aber etwas in ihrer Haltung verriet, dass sie in Stadtwohnungen aufgewachsen war.
Ich sah durch die verschmierten Fenster und dachte daran, dass ich schon heute Nachmittag zurückfahren musste, dass die Fähre bereits um fünf wieder ablegte, dass ich nur sechs Stunden Zeit auf dieser Insel hätte, ich dachte daran, wie wenig das war, wie knapp dieser Ausflug kalkuliert war.
Auf der Kaimauer lagen Taue und Haken, die Frau stand in der Mitte zwischen Boot und Strand. Jeder, der ausstieg, kam sehr dicht an ihr vorbei. Ich registrierte die dünnen Spuren der Wolken am Himmel, die Felsen, auf denen Vögel zu Tausenden brüteten, ich sah das türkisfarbene Meer, die Kalksteine, ich sah die Häuser in der Bucht, die Großfamilie, auf den Schultern das Kind, ich schätzte die Entfernung von hier bis zum Strand, zwischen Kaimauer und Boot, ich merkte mir die eisernen Ringe am Hafenbecken, ich studierte die Fluglinie der Möwen, ich merkte mir, aus welcher Richtung der Wind kam, ich kannte mich nach Sekunden sehr gut in dieser Bucht im Norden der Insel aus.
Als ich die Frau auf der Kaimauer passierte, nahm sie mich flüchtig am Arm.
Das Wasser glitzerte.
Auch sie hatte damals keine Vorahnung, dass ich kommen würde. Sie konnte nicht ahnen, dass ich auf einer der Fähren sein würde, die zwischen Gotland und den vorgelagerten Inseln verkehrten. Sie ahnte nicht, dass ich überhaupt kommen würde, sie kannte mich nicht.
Ich registrierte die Berührung ihrer Hand so genau, als hätte ich darüber einen Bericht schreiben müssen. Sie nahm mich flüchtig und grundlos am Arm, mehr ein Reflex, weil es auf dem Kai an dieser Stelle sehr eng war. Dann drehte sie sich um und ging zurück zum Strand. Die Finninnen folgten ihr.
Sie winkte uns vor einen Fahnenmast. Felssteine waren zu einem kleinen Podest errichtet. Als sie das Podest betrat, fiel das Licht, das in der Nähe des Wassers noch von den hohen Klippen zurückgehalten worden war, auf ihr Gesicht.
Sie setzte die Sonnenbrille auf. Es war eine modische große Brille, die ihre Wangen bedeckte.
»Jemand hier, der kein Schwedisch kann?«
Ich hatte mich hinter die Großfamilie gestellt, das Kind war eingeschlafen. Ich trat vor. Der Rucksackriemen rutschte mir von der Schulter, der Riemen blieb in der Ellbeuge hängen.
»Wie heißt du?«
»Erik.«
»Gut, Erik. Du gehst zu Guido. Der übersetzt dir, was ich sage.« Ihr Englisch klang rau und arrogant.
Guido war einer der beiden Scouts. Er stand neben dem Eingang zum Café und hatte den typischen Quadrathaarschnitt der Schweden. Er machte eine nervöse Kopfbewegung, als ich zu ihm kam. Das Café war nur wenige Schritte von der Fahnenstange entfernt, und ich hörte ihre An sprache, aber ich verstand sie nicht. Ich sah, wie der Rotblonde seine Arzttasche zwischen die Füße schob. Er stand aufdringlich nah am Podest.
Der Scout machte lustlos eine Belehrung mit mir. Er erklärte, dass ich keine Pflanzen abreißen durfte, dass ich nicht in die Vogelschutzzonen laufen sollte, und ich zwang ihn, mir in die Augen zu sehen.
Bis zum Beginn der Führung blieb mir noch Zeit. Ich drehte eine Runde zwischen den Holzhäusern. Ich war allein. Die anderen standen immer noch vor dem Fahnenmast. Ich konnte die Finninen lachen hören, ich hörte sie noch, als ich schon außer Sichtweite war. Am Ende des Strandes, wo der Sand in dorniges Gestrüpp überging, gab es eine alte Fischerkate, die Tür war offen. Auf einem Tisch stand ein Wasserkrug, an den Wänden sah ich zwei Pritschen, eine Sturmlampe stand auf dem Boden. Vielleicht schlief sie hier, dachte ich. Vielleicht schlief sie bei offener Tür, die Kate hatte keine Fenster. Ich stellte mir alles genau vor, ein Pyjama, weiß wie die Träger ihres B Hs, ihr Arm hängt von der Pritsche, so dass ihre Hand fast den Boden berührt, die Haare aufgelöst auf dem Kissen, das Kissen ein mit Stroh gefüllter Sack, der unter dem Gewicht des Kopfes nicht nachgibt, die Feuchtigkeit, die sich im Stroh sammelt und in ihre Träume dringt, Träume, in denen ein Junge den Strand hinaufkommt, sich der Tür nähert und an den Türpfosten gelehnt wartet, bis sie endlich wach wird und ihn sieht.
Ich begann zu schwitzen. Bei der Vorstellung, nicht vor heute Nachmittag hier wegzukommen, schien mein Brustkorb zu schrumpfen, ich bekam keine Luft mehr. Mir wurde übel, und in meiner Panik dachte ich, dass jede medizinische Hilfe, jeder Rettungshubschrauber zu spät käme. Ich fiel in den Sand. Ich versuchte, mich zu beruhigen. Das Wasser war klar. Die Sonne stand hoch. Es war warm. Ich war zufrieden mit meinem Leben, ich hatte nichts versäumt. Also war es egal, ob ich früher oder später starb.
Das half. Die Führung wollte ich nicht mehr mitmachen. Ich konnte mich ins Café setzen und die Überschriften der Dagens Nyheter erraten. Ich hatte das in der letzten Woche oft getan. Ich hatte in Cafés in Visby oder Slite gesessen und mir die Zeitungen angeschaut, und nach einer Weile hatte ich immer mehr Worte verstanden. Mittlerweile erfasste ich sogar, wenn es um einen Raubmord in der Nähe von Uppsala ging, einmal hatten zwei Jungen eine vierköpfige Familie in Stockholm mit Küchenmessern erstochen, ein andermal hatte die Integrationsministerin, eine zierliche, schwarze Frau, von den Ausländern in Schweden größere Anpassungsbereitschaft verlangt. Mein Schwedisch bestand hauptsächlich aus Zeitungsvokabular.
Der Rotblonde trottete in meine Richtung über den Strand. Er hatte Mühe, über die rutschigen Felsen hinaufzukommen. Er blieb stehen und gestikulierte. Aber ich tat, als wäre ich an den Wolkenformationen am Horizont interessiert, und ging dann wie absichtslos auf der anderen Seite der Bucht zum Museum hinauf.
Sie war schon dort. Sie saß auf einer Bank in der Sonne. Sie hatte sich an die Hauswand gelehnt, einer der Scouts stand vor ihr und sah ihr andächtig zu, wie sie beim Reden immer wieder ordnend in die Luft griff.
Als sie mich bemerkte, hielt sie mir die Hand hin und sagte auf Englisch: »Inez. Betonung auf dem e.«
Ich zögerte. Meine Hand schwitzte. Aber sie griff umstandslos zu. Ihr Händedruck war kräftig. Sie musste sich während ihrer Zeit auf der Insel, in der sie mit Männern und Vögeln arbeitete, diesen Händedruck angewöhnt haben. Er war eine sachliche Angelegenheit. Ich musste unwillkürlich daran denken, wie sie mit derselben Hand Vögel beringte, wie sie den Vögeln ins Gefieder griff, wie die Krallen ihre Finger umschlossen.
»Man könnte meinen, hier ist nicht viel los«, sagte sie. »Aber ich bin jetzt schon drei Jahre hier. Und es gibt immer was Neues.« Sie sah mich an. »Jungs wie du fahren doch lieber als Fruitpicker durch Australien!«
»Deshalb bin ich hier.«
»Was Besonderes also.« Sie tippte mit dem Finger anerkennend auf einen Punkt in der Luft.
»Ich habe keinen Bock auf Himalayas oder prekäre Lebensverhältnisse oder irgendeine abgefahrene Kultur.«
»Und ich wette, du bist auch nicht vom Bullerbü-Syndrom befallen«, sagte sie.
»Ich hatte mal Scharlach als Kind.«
Sie lachte. »Bullerbü ist Kitsch. Volkstümliche Verharmlosung. Aber du hast recht. Das kann hoch ansteckend sein. Wenn du willst, können wir übrigens aufhören, englisch zu reden«, sagte sie dann auf Deutsch. »Ich habe mich schon so daran gewöhnt, dass ich es manchmal vergesse.«
»Dann hättest du die Einführung auf Deutsch mit mir machen können.«
»In deiner Gruppe dürfte das außer dir keiner verstehen.« »Es ist nicht meine Gruppe«, sagte ich.
»Auch noch ein Einzelgänger!« Sie lachte wieder und sagte auf Schwedisch etwas zu dem Scout, der im Museum verschwand und mit dem Modell eines großen, schwarzen Vogels zurückkam.
»Du bist doch auch nicht die einzige Deutsche hier, oder? Und trotzdem sind es nicht deine Leute.«
»Du glaubst gar nicht, wie viele deutsche Forschungsprogramme es in Skandinavien gibt.« Sie klappte die Flügel des Modells auf. »Die skandinavischen Forscher wandern deshalb schon in die USA ab. Deshalb oder weil sie den Regen satt haben«, sagte sie. »Sie haben den Regen satt, und wir Deutschen wollen die Naturidylle, den Bullerbü-Kitsch. Und jeder von uns tut so, als gebe es für unser Herumwandern irgendeine wissenschaftliche Notwendigkeit.« Sie stellte den Vogel mit geöffneten Schwingen auf die Bank. Die anderen kamen den Pfad zum Museum hinauf. »Wir alle gehen einfach dahin, wo es uns am besten gefällt. Die passende Notwendigkeit fällt uns schon ein.«
»Dann ist das hier ein heißes Forschungspflaster«, sagte ich.
»Was ist daran heiß?«
»Ich kann vor meinen globalisierten Kumpel mit den Forscherinnen auf Gotland protzen!«
»So jung und schon so gezielt auf Brautschau«, sagte Inez ironisch und stand auf. Ich kam mir idiotisch vor. »Tut mir leid«, sagte sie. »Ich muss dich trotzdem wieder Guido überlassen.«
Sie hatte Guido an diesem Tag die Führung der Tour übertragen, weil an ihrem Minitraktor die Kette gerissen war. Der Fährkapitän hatte ihr vom Festland eine neue mitgebracht und wollte sie einbauen, bevor er wieder ablegte. Als sie hinunter zum Kai ging, drehte sie sich noch einmal um. »Erik!«, rief sie und betonte das i, so dass auch mein Name auf einmal spanisch klang. »Im Museum liegen Infoblätter auf Deutsch. Nimm dir eines. Sie sind schlecht übersetzt, aber da steht alles drauf, was du wissen musst.«
Ich hatte mir eines genommen, und sie waren schlecht übersetzt, aber nichts von dem, was ich hätte wissen müssen, hatte auf diesen Infoblättern gestanden.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011
Es hatte begonnen, wie es immer beginnt. Es beginnt auch jetzt noch immer.
Es beginnt auf diesem Wasser, auf dem Weg zurück. Die Fähre dreht, und ich sehe mich noch einmal um. Ich versuche, mir einzuprägen, wo ich gewesen bin; die Kate, die Felswand, der Leuchtturm, die schwimmenden Pontons am Strand.
Inez ist schon verschwunden. Sie ist langsam über die spitzen Kiesel den Strand hinaufgegangen zum Café. Im Schatten verwischen sich ihre Konturen. Die Sicht verschwimmt.
Beim Abschied drängte sich einer der Journalisten zwischen uns. Er schüttelte Inez die Hand.
Ich flüsterte ihr hastig zu, dass ich wiederkommen würde.
»Ich freu mich drauf«, sagte Inez. Ihre Stimme hatte diesen rauen Klang verloren, in dem sie nachts mit mir geflüstert hatte. Ihr Lachen war nicht mehr ihr Lachen vom Strand. Ich berührte ihren Unterarm flüchtig. Die Sonnenbrille verdeckte die Hälfte ihres Gesichts.
Das Boot nimmt Fahrt auf. Ich schaue zurück.
Inez und die Insel schwanken.
Weiß blitzt die Ostsee in der Ferne auf. Schaumkämme beherrschen die Wellen. Sie werden breiter, zinken länger aus, greifen tief hinein ins graue Wasser. Sie kämmen die Ostsee in Richtung Strand. Lange Strähnen, die der Wind auseinandertreibt und wieder zusammenschiebt, klatschen ans Ufer. Die Ostsee ist verspielt. Im Grunde ist sie nur ein See, aber sie öffnet sich dem Atlantik weit genug, um den Anschein eines Ozeans zu erwecken. Die Ostsee täuscht das Meer gewissermaßen vor. Um die Glaubwürdigkeit der Täuschung zu erhöhen, bringt sie einzelne Elemente des Meeres ins Spiel: Salzwasser. Muscheln. Feuersteine und Lummen.
Inez steht am Strand, die Augen mit der Hand abgeschirmt. Sie will den Jungen noch einmal sehen; das Haar bis zum Nacken, seinen offenen Blick, die verwahrlosten Hände. Aber die Fähre hat schon abgedreht. Von Erik ist nicht einmal mehr der Umriss erkennbar.
Sie dreht sich um und fixiert das Café. Die Bemerkung der Journalistin geht ihr durch den Kopf:
»Sie haben doch was miteinander. Sie und der Junge.« »Wir haben alles«, hat sie geantwortet.
DIE FLINTKUGEL
Es hatte begonnen, wie es immer beginnt. Es beginnt immer unmerklich. Im Nachhinein lässt sich nicht mehr genau sagen, wann. Der Beginn wird sofort in das Geschehen hinein aufgelöst, in das von der Bootsschraube aufgeworfene Wasser, in den Unsinn, den ich Inez sagte, in das endlose Kreisen der Vögel, die Cirruswolken, den Wind.
In Wahrheit wird es diesen Moment, in dem es begann, nicht gegeben haben. Ich fange an, danach zu suchen, wo alles unwiderruflich geworden ist. Im Nachhinein. Erst jetzt sieht es so aus, als wären die Ereignisse tatsächlich zwangsläufig aufeinander gefolgt, weil es die Geschichte in der Rückschau so verlangt. Ich suche nach einem entscheidenden Auslöser, weil ich die Wahl gehabt haben möchte, weil ich glauben möchte, dass ich irgendwann tatsächlich vor einer Entscheidung stand. Und das ist vielleicht der Irrtum.
Es hätte mit dem türkisfarbenen Leuchten des Wassers am Ufer beginnen können. Mit dem dürren Schatten, den der Ginsterbusch auf die weißverputzte Wand von Inez' Schlafzimmer wirft. Es hätte mit dem Himmel beginnen können, ein Himmel, der an stillen Mittagen so türkis ist wie das Meer. Dann werden aus den Flecken, die vor der Insel auf dem Wasser treiben, Algen, grüner Schlick, der an der Bootswand hängen bleibt. Später wischt die Gischt ihn wieder ab. Es hätte auch viel früher beginnen können, vor der Reise oder, wenn man an Schicksal glauben will, mit der Geburt. Es hätte damit beginnen können, wie wir, Inez und ich, geboren wurden.
Die Insel liegt da wie vor drei Monaten. Eine umgestülpte Untertasse. Auch der Kapitän ist derselbe, ein blasser Mann in einem roten Pullover, der immer eine Tüte Pistazien dabeihat und die Schalen aus dem offenen Fenster wirft. Der Wind treibt sie ab. Im Passagierraum liegt eine Zeitung von gestern, die Dagens Nyheter, die er vom Festland mitbringt, um sich die Wartezeiten zu vertreiben. Im Sommer legt die Fähre gegen elf Uhr morgens vor der Insel an und bringt Touristen und holt sie abends um fünf wieder ab. Im Herbst wird der Fährplan geändert, und die Fähre kommt seltener, und wenn ab Oktober die Stürme über das Plateau fegen, wird die Fährlinie eingestellt, und die Insel bleibt unbewohnt zurück.
Das gelbe Gras steht starr im Frost.
Es ist dieser Herbst gewesen, in dem alles begonnen hat, dieser nördliche Herbst mit seiner schneelosen Kälte, mit seiner erstickend frühen Dunkelheit, dieser Herbst mit seinem grau aufschäumenden Meer und den windgepeitschten Felsen. Es begann in der Nacht, in der es mich hinaus auf die Klippe trieb, die fünfzig, sechzig Meter über der Ostsee aufragt, in der ich dort oben stand und daran dachte, es zu tun, es mit derselben Leichtigkeit, mit demselben instinktiven Vertrauen zu tun wie die Vögel, die sich im Juni von den Felsen stürzen, denn ich war reich, und dieses Gefühl war grenzenlos, und ich wusste, dass es nicht über den Moment hinaus dauern würde, nicht länger andauerte als diese Minuten, in denen ich hier oben stand und der Wind so eisig war, dass mein Gesicht taub wurde und es mir den Atem zurück in die Lunge drückte. Ich wusste, dass es das war, was mich bis an die Kante der Felsen trieb, nicht Verzweiflung, nicht der Gedanke, entdeckt zu werden, oder die Angst vor dem, was dieser Entdeckung folgte. Wenn ich mich da oben nicht umgedreht hätte zum rotierenden Leuchtfeuer, wenn ich nicht zurückgeschaut und mir vorgestellt hätte, wie sie da lag mit den über die Schultern gerutschten Trägern ihres dünnen Nachthemdes, sondern wenn ich weitergegangen wäre, noch einen Schritt über den Rand der Klippe hinaus, dann wäre dieser Reichtum in mir für immer in der eisigen Kälte aufgehoben gewesen.
»Inez. Betonung auf dem e.«
»Das gefällt mir. Klingt spanisch.«
Der Herbst, nicht der Sommer war es, der mich so ausgeglüht hat, dass ich das Gefühl haben werde, richtungslos über den Asphalt zu treiben, wenn die Fähre mich in einer Stunde in dem verödeten Hafen von Klintehamn absetzen wird, von dem aus ich im Juni aufgebrochen war.
Ich hatte eine Woche auf Gotland verbracht. Ich hatte mir die Stadtmauer von Visby angesehen und das Klostertheater in Roma, ich war nach Fårö, Gotlands nördlicher Spitze, gefahren, die bis vor wenigen Jahren noch militärisches Sperrgebiet gewesen war. An Fårös Stränden ragen Kalksteinsäulen auf. Sie sind schlank und porös und wirken im Nebel wie steif aufgerichtete Leichname. Abends saß ich vor meinem Zelt und sah die Mücken tanzen. Es wurde nicht dunkel. Die Sonne verschwand nur für zwei Stunden hinter dem Horizont, der bis zum Morgen nachglühte. Ich schlief schlecht.
Ich buchte Zeltplätze für eine Nacht. Die Damen an den Rezeptionen händigten mir das Papierschild in Klarsichtfolie aus, das ich außen an mein Zelt hängte als Zeichen dafür, dass ich für den Platz bezahlt hatte. Sie fragten, wie lange ich blieb. Ich fragte, wo die Sanitäranlagen waren und wo ich Kaffee bekam, und tauschte Kleingeld gegen Metallchips, die ich später in die Duschautomaten steckte.
Die Damen an der Rezeption waren einsilbig. Jungen wie mich sahen sie jeden Tag. Sie waren gerade mit der Schule fertig und lagerten vor ihren Zelten, tranken Lättöl und verbrachten die Tage damit, über Musikgruppen und ihre Zukunft als DJs oder Surflehrer zu reden, wenn sie sich nicht schon morgens die Ohren mit ihren iPods verstöpselt hatten. Ich stellte mir meine Zukunft nicht in einem Club vor. Ich stellte mir nicht vor, halbnackt auf einer Bühne im Stroboskoplicht zu stehen oder auf einem Brett Wind und Wellen ausgeliefert zu sein, ich stellte mir meine Zukunft in jedem Fall bekleidet vor, angezogen, mit Hemd und Krawatte, auch wenn ich jetzt noch in Jeans und Kapuzenshirt herumlief. Ich wollte Wirtschaft und Politik studieren, und ich hatte mich dafür entschieden, weil ich hellblaue oder cremefarbene Hemden mit Seidenkrawatten unter leichten Schurwollanzügen tragen wollte, und zwar täglich.
Nach dem Abitur hatte ich es mit Jura probiert, mich nach zwei Jahren aber für Soziologie eingeschrieben und bald festgestellt, dass beides nicht das Richtige war. Auf einer Party hatte ich aus einem Tarotspiel die neun Stäbe gezogen. Seither musste ich an diese Karte denken, sobald man mich fragte, was ich jetzt machen würde, und weil ich immer mal gar nichts machte, wurde ich häufig gefragt. Neun Stäbe bedeuten Kraft, Vernunft und Selbstkontrolle, und seit ich diese Karte gezogen hatte, wusste ich, dass meine Entscheidung diesmal richtig war.
Bis vor drei Monaten klappte das noch. Da wusste ich noch, dass ich mir zuerst eine Auszeit gönnen würde. Ich wollte ein paar Wochen Ruhe, um dann gestärkt das neue Studium anzugehen und es schnell zu beenden. Krawatten und die Art Anzüge, die ich mir vorstellte, kosten Geld. Auch meine beiden besten Kumpel aus Schulzeiten hatten sich vorübergehend abgesetzt. Sie waren auf Weltreisen unterwegs. Hinterher würden sie mit ihren exotischen Abenteuern protzen und mich fragen, ob ich mich nicht zu Tode gelangweilt hätte da oben im menschenleeren Norden. Ich beneidete sie nicht.
Ich war nach Gotland gefahren. Ich war durch die Landschaft gestreift, und die Landschaft mit ihrem Kalkstein, ihrem struppigen Bewuchs, mit ihren verlassen daliegenden Plateaus, den versandeten Tümpeln und Klappersteinfeldern, auf denen es hunderte Millionen Jahre alte Fossilien gab, hatten mich in Trance versetzt. Ich ließ mich treiben.
Es war die Zeit nach meinem Aushilfsjob in einem Jugendprojekt; verglichen mit dem Zivildienst im Altenheim war das eine leichte Arbeit gewesen, auch wenn es täglich neun Stunden Lärm bedeutete, Drogen bedeutete, Messerstechereien und täglich entweder die Polizei oder das Jugendamt, täglich Rap oder Techno, täglich die Frage, ob du ein Hopper oder ein Emo bist, denn Emos sind schwarzgekleidete Schwulis, schwule Chorkinder, du Arsch, auch das täglich, täglich ich hab deine Mutter gefickt, überhaupt deine Mudder und willste was aufs Maul, und erst hier, unter Kiefern und Ostseewind, ließ die Erinnerung daran nach. Die Einsamkeit, die langen Tage, die Stille in den kleinen Ortschaften entspannten mich.
Am Ende der Woche hatte ich in einem Touristenbüro einen Tagesausflug gebucht; eine geführte Tour auf eine Insel, die der Westküste Gotlands vorgelagert war. Ich hatte Lust, wieder mit jemandem zu reden. Wo es hinging, interessierte mich nicht.
Im Hafen von Klintehamn stand ein Kiosk, in dem schon lange nichts mehr verkauft wurde. Die Fenster waren vernagelt, eine verwaschene Preisliste für Lachs und Heringe hing noch am Holz. Der Parkplatz war schattenlos und leer. Am Kai, an dem das Boot zur Insel ablegen sollte, warteten zwei Frauen mit Wanderstöcken und Knickerbocker, Finninen, wie sich herausstellte. Andere Fahrgäste waren nicht zu sehen. Die Finninen verstanden kein Englisch. Sie sprachen schwedisch mit mir. Vielleicht dachten sie, es würde die Verständigung erleichtern, wenn beide Seiten eine ihnen fremde Sprache benutzten. Das war nicht der Fall. Sie glotzten mich an, als sie kapierten, dass ich nichts verstand. Später banden sie ihre Kopftücher ab. Die Haare darunter sahen aus wie das trockene Moosgeflecht, das sich hier zäh auf den Felsen hielt. Im Passagierraum der Fähre saß eine Familie. Die Großeltern sahen vor sich auf den Tisch, die Mutter schlief, dem Kleinkind lief Rotz übers Kinn.
Als der Bootsmann die Taue löste, kam noch ein Mann über den leeren Parkplatz gerannt. Er riss die Arme hoch. Der Kapitän ließ den Motor im Leerlauf stampfen, bis der Mann an Bord gesprungen war. Er trug eine abgewetzte schwarze Arzttasche. Er war verschwitzt. Das rotblonde Haar klebte ihm an der Stirn, der Sommeranzug hatte Flecken. In der Tür zur Passagierkabine blieb er stehen, als nehme er Witterung auf. Er starrte zuerst die Großfamilie an, dann mich. Ich sah diesem Idioten in die Augen, ey, du Chorkind, was aufs Maul?, bis er sich auf eine der vorderen Bänke setzte.
Nach einer knappen Stunde drehte die Fähre vor der Insel bei. Am Ufer ragte eine Felswand auf. Ihr Schatten fiel auf die Ostsee. Dort, wo kein Schatten war, leuchtete das Wasser türkisblau, am Strand verstreut standen ein paar Holzhütten.
Eine Frau in Khakishorts lief zur Anlegestelle. Sie lief auf die Kaimauer zu. Als sie den Steg erreichte, waren die weißen Träger ihres BHs unter dem Shirt zu sehen. Das Weiß blitzte. Es war weißer als der Sand, weißer als die Farbe der Kalksteine, weißer als das Boot.
Einer der zwei Jungen, die am Ufer standen, fing das Tau und befestigte es an einem Boller. Auf den olivgrünen Shirts, die sie trugen, war der Schriftzug »Stora Karlsö« zu sehen.
Die Frau war schlank. Ihre Arme sahen trainiert aus. Wind und Salzluft hatten ihre Haare gebleicht. Ihre Haut war sonnengebräunt. Aber etwas in ihrer Haltung verriet, dass sie in Stadtwohnungen aufgewachsen war.
Ich sah durch die verschmierten Fenster und dachte daran, dass ich schon heute Nachmittag zurückfahren musste, dass die Fähre bereits um fünf wieder ablegte, dass ich nur sechs Stunden Zeit auf dieser Insel hätte, ich dachte daran, wie wenig das war, wie knapp dieser Ausflug kalkuliert war.
Auf der Kaimauer lagen Taue und Haken, die Frau stand in der Mitte zwischen Boot und Strand. Jeder, der ausstieg, kam sehr dicht an ihr vorbei. Ich registrierte die dünnen Spuren der Wolken am Himmel, die Felsen, auf denen Vögel zu Tausenden brüteten, ich sah das türkisfarbene Meer, die Kalksteine, ich sah die Häuser in der Bucht, die Großfamilie, auf den Schultern das Kind, ich schätzte die Entfernung von hier bis zum Strand, zwischen Kaimauer und Boot, ich merkte mir die eisernen Ringe am Hafenbecken, ich studierte die Fluglinie der Möwen, ich merkte mir, aus welcher Richtung der Wind kam, ich kannte mich nach Sekunden sehr gut in dieser Bucht im Norden der Insel aus.
Als ich die Frau auf der Kaimauer passierte, nahm sie mich flüchtig am Arm.
Das Wasser glitzerte.
Auch sie hatte damals keine Vorahnung, dass ich kommen würde. Sie konnte nicht ahnen, dass ich auf einer der Fähren sein würde, die zwischen Gotland und den vorgelagerten Inseln verkehrten. Sie ahnte nicht, dass ich überhaupt kommen würde, sie kannte mich nicht.
Ich registrierte die Berührung ihrer Hand so genau, als hätte ich darüber einen Bericht schreiben müssen. Sie nahm mich flüchtig und grundlos am Arm, mehr ein Reflex, weil es auf dem Kai an dieser Stelle sehr eng war. Dann drehte sie sich um und ging zurück zum Strand. Die Finninnen folgten ihr.
Sie winkte uns vor einen Fahnenmast. Felssteine waren zu einem kleinen Podest errichtet. Als sie das Podest betrat, fiel das Licht, das in der Nähe des Wassers noch von den hohen Klippen zurückgehalten worden war, auf ihr Gesicht.
Sie setzte die Sonnenbrille auf. Es war eine modische große Brille, die ihre Wangen bedeckte.
»Jemand hier, der kein Schwedisch kann?«
Ich hatte mich hinter die Großfamilie gestellt, das Kind war eingeschlafen. Ich trat vor. Der Rucksackriemen rutschte mir von der Schulter, der Riemen blieb in der Ellbeuge hängen.
»Wie heißt du?«
»Erik.«
»Gut, Erik. Du gehst zu Guido. Der übersetzt dir, was ich sage.« Ihr Englisch klang rau und arrogant.
Guido war einer der beiden Scouts. Er stand neben dem Eingang zum Café und hatte den typischen Quadrathaarschnitt der Schweden. Er machte eine nervöse Kopfbewegung, als ich zu ihm kam. Das Café war nur wenige Schritte von der Fahnenstange entfernt, und ich hörte ihre An sprache, aber ich verstand sie nicht. Ich sah, wie der Rotblonde seine Arzttasche zwischen die Füße schob. Er stand aufdringlich nah am Podest.
Der Scout machte lustlos eine Belehrung mit mir. Er erklärte, dass ich keine Pflanzen abreißen durfte, dass ich nicht in die Vogelschutzzonen laufen sollte, und ich zwang ihn, mir in die Augen zu sehen.
Bis zum Beginn der Führung blieb mir noch Zeit. Ich drehte eine Runde zwischen den Holzhäusern. Ich war allein. Die anderen standen immer noch vor dem Fahnenmast. Ich konnte die Finninen lachen hören, ich hörte sie noch, als ich schon außer Sichtweite war. Am Ende des Strandes, wo der Sand in dorniges Gestrüpp überging, gab es eine alte Fischerkate, die Tür war offen. Auf einem Tisch stand ein Wasserkrug, an den Wänden sah ich zwei Pritschen, eine Sturmlampe stand auf dem Boden. Vielleicht schlief sie hier, dachte ich. Vielleicht schlief sie bei offener Tür, die Kate hatte keine Fenster. Ich stellte mir alles genau vor, ein Pyjama, weiß wie die Träger ihres B Hs, ihr Arm hängt von der Pritsche, so dass ihre Hand fast den Boden berührt, die Haare aufgelöst auf dem Kissen, das Kissen ein mit Stroh gefüllter Sack, der unter dem Gewicht des Kopfes nicht nachgibt, die Feuchtigkeit, die sich im Stroh sammelt und in ihre Träume dringt, Träume, in denen ein Junge den Strand hinaufkommt, sich der Tür nähert und an den Türpfosten gelehnt wartet, bis sie endlich wach wird und ihn sieht.
Ich begann zu schwitzen. Bei der Vorstellung, nicht vor heute Nachmittag hier wegzukommen, schien mein Brustkorb zu schrumpfen, ich bekam keine Luft mehr. Mir wurde übel, und in meiner Panik dachte ich, dass jede medizinische Hilfe, jeder Rettungshubschrauber zu spät käme. Ich fiel in den Sand. Ich versuchte, mich zu beruhigen. Das Wasser war klar. Die Sonne stand hoch. Es war warm. Ich war zufrieden mit meinem Leben, ich hatte nichts versäumt. Also war es egal, ob ich früher oder später starb.
Das half. Die Führung wollte ich nicht mehr mitmachen. Ich konnte mich ins Café setzen und die Überschriften der Dagens Nyheter erraten. Ich hatte das in der letzten Woche oft getan. Ich hatte in Cafés in Visby oder Slite gesessen und mir die Zeitungen angeschaut, und nach einer Weile hatte ich immer mehr Worte verstanden. Mittlerweile erfasste ich sogar, wenn es um einen Raubmord in der Nähe von Uppsala ging, einmal hatten zwei Jungen eine vierköpfige Familie in Stockholm mit Küchenmessern erstochen, ein andermal hatte die Integrationsministerin, eine zierliche, schwarze Frau, von den Ausländern in Schweden größere Anpassungsbereitschaft verlangt. Mein Schwedisch bestand hauptsächlich aus Zeitungsvokabular.
Der Rotblonde trottete in meine Richtung über den Strand. Er hatte Mühe, über die rutschigen Felsen hinaufzukommen. Er blieb stehen und gestikulierte. Aber ich tat, als wäre ich an den Wolkenformationen am Horizont interessiert, und ging dann wie absichtslos auf der anderen Seite der Bucht zum Museum hinauf.
Sie war schon dort. Sie saß auf einer Bank in der Sonne. Sie hatte sich an die Hauswand gelehnt, einer der Scouts stand vor ihr und sah ihr andächtig zu, wie sie beim Reden immer wieder ordnend in die Luft griff.
Als sie mich bemerkte, hielt sie mir die Hand hin und sagte auf Englisch: »Inez. Betonung auf dem e.«
Ich zögerte. Meine Hand schwitzte. Aber sie griff umstandslos zu. Ihr Händedruck war kräftig. Sie musste sich während ihrer Zeit auf der Insel, in der sie mit Männern und Vögeln arbeitete, diesen Händedruck angewöhnt haben. Er war eine sachliche Angelegenheit. Ich musste unwillkürlich daran denken, wie sie mit derselben Hand Vögel beringte, wie sie den Vögeln ins Gefieder griff, wie die Krallen ihre Finger umschlossen.
»Man könnte meinen, hier ist nicht viel los«, sagte sie. »Aber ich bin jetzt schon drei Jahre hier. Und es gibt immer was Neues.« Sie sah mich an. »Jungs wie du fahren doch lieber als Fruitpicker durch Australien!«
»Deshalb bin ich hier.«
»Was Besonderes also.« Sie tippte mit dem Finger anerkennend auf einen Punkt in der Luft.
»Ich habe keinen Bock auf Himalayas oder prekäre Lebensverhältnisse oder irgendeine abgefahrene Kultur.«
»Und ich wette, du bist auch nicht vom Bullerbü-Syndrom befallen«, sagte sie.
»Ich hatte mal Scharlach als Kind.«
Sie lachte. »Bullerbü ist Kitsch. Volkstümliche Verharmlosung. Aber du hast recht. Das kann hoch ansteckend sein. Wenn du willst, können wir übrigens aufhören, englisch zu reden«, sagte sie dann auf Deutsch. »Ich habe mich schon so daran gewöhnt, dass ich es manchmal vergesse.«
»Dann hättest du die Einführung auf Deutsch mit mir machen können.«
»In deiner Gruppe dürfte das außer dir keiner verstehen.« »Es ist nicht meine Gruppe«, sagte ich.
»Auch noch ein Einzelgänger!« Sie lachte wieder und sagte auf Schwedisch etwas zu dem Scout, der im Museum verschwand und mit dem Modell eines großen, schwarzen Vogels zurückkam.
»Du bist doch auch nicht die einzige Deutsche hier, oder? Und trotzdem sind es nicht deine Leute.«
»Du glaubst gar nicht, wie viele deutsche Forschungsprogramme es in Skandinavien gibt.« Sie klappte die Flügel des Modells auf. »Die skandinavischen Forscher wandern deshalb schon in die USA ab. Deshalb oder weil sie den Regen satt haben«, sagte sie. »Sie haben den Regen satt, und wir Deutschen wollen die Naturidylle, den Bullerbü-Kitsch. Und jeder von uns tut so, als gebe es für unser Herumwandern irgendeine wissenschaftliche Notwendigkeit.« Sie stellte den Vogel mit geöffneten Schwingen auf die Bank. Die anderen kamen den Pfad zum Museum hinauf. »Wir alle gehen einfach dahin, wo es uns am besten gefällt. Die passende Notwendigkeit fällt uns schon ein.«
»Dann ist das hier ein heißes Forschungspflaster«, sagte ich.
»Was ist daran heiß?«
»Ich kann vor meinen globalisierten Kumpel mit den Forscherinnen auf Gotland protzen!«
»So jung und schon so gezielt auf Brautschau«, sagte Inez ironisch und stand auf. Ich kam mir idiotisch vor. »Tut mir leid«, sagte sie. »Ich muss dich trotzdem wieder Guido überlassen.«
Sie hatte Guido an diesem Tag die Führung der Tour übertragen, weil an ihrem Minitraktor die Kette gerissen war. Der Fährkapitän hatte ihr vom Festland eine neue mitgebracht und wollte sie einbauen, bevor er wieder ablegte. Als sie hinunter zum Kai ging, drehte sie sich noch einmal um. »Erik!«, rief sie und betonte das i, so dass auch mein Name auf einmal spanisch klang. »Im Museum liegen Infoblätter auf Deutsch. Nimm dir eines. Sie sind schlecht übersetzt, aber da steht alles drauf, was du wissen musst.«
Ich hatte mir eines genommen, und sie waren schlecht übersetzt, aber nichts von dem, was ich hätte wissen müssen, hatte auf diesen Infoblättern gestanden.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011
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Autoren-Porträt von Antje Ravic Strubel
Antje Rávic Strubel, geb. 1974 in Potsdam, aufgewachsen in Ludwigsfelde, Ausbildung zur Buchhändlerin, Studium in Potsdam und New York. Antje Rávic Strubel lebt in Potsdam und in ihrem Ferienhaus im schwedischen Värmland.
Bibliographische Angaben
- Autor: Antje Ravic Strubel
- 2011, 438 Seiten, Maße: 13,5 x 21 cm, Geb. mit Su., Deutsch
- ISBN-10:
- ISBN-13: 4250968806053
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