Sündenkreis
Er träumt von einem Paradies auf Erden - und schickt seine Opfer dafür durch die Hölle
Während einer Modenschau wird ein Model tot aufgefunden, nur notdürftig verhüllt ihr blutgetränktes Kleid...
Während einer Modenschau wird ein Model tot aufgefunden, nur notdürftig verhüllt ihr blutgetränktes Kleid...
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Produktinformationen zu „Sündenkreis “
Er träumt von einem Paradies auf Erden - und schickt seine Opfer dafür durch die Hölle
Während einer Modenschau wird ein Model tot aufgefunden, nur notdürftig verhüllt ihr blutgetränktes Kleid mysteriöse Tätowierungen auf ihrem Rücken. Wenig später entdecken Kinder die Leiche eines jungen Mädchens; misshandelt, ausgeblutet, ebenfalls tätowiert. Die Journalistin Lara Birkenfeld beginnt, für die Tagespresse zu recherchieren. Angetrieben wird sie von unheilvollen Halluzinationen, die die Opfer kurz vor ihrem Tod zeigen.
Die Obduktion der Leichen ergibt, dass die Tätowierungen mehrere Tage vor ihrer Ermordung vorgenommen wurden. Warum hielt der Täter seine Opfer so lange gefangen, und wo waren sie versteckt? Erst als die vierte Leiche gefunden wird, beginnt Lara zu ahnen, was die Schriftzeichen bedeuten. Und ihr wird klar: Der Mörder wird so schnell nicht aufhören ...
Der 3. Fall der sympathischen Journalistin Lara Birkenfeld: Geht unter die Haut!
Während einer Modenschau wird ein Model tot aufgefunden, nur notdürftig verhüllt ihr blutgetränktes Kleid mysteriöse Tätowierungen auf ihrem Rücken. Wenig später entdecken Kinder die Leiche eines jungen Mädchens; misshandelt, ausgeblutet, ebenfalls tätowiert. Die Journalistin Lara Birkenfeld beginnt, für die Tagespresse zu recherchieren. Angetrieben wird sie von unheilvollen Halluzinationen, die die Opfer kurz vor ihrem Tod zeigen.
Die Obduktion der Leichen ergibt, dass die Tätowierungen mehrere Tage vor ihrer Ermordung vorgenommen wurden. Warum hielt der Täter seine Opfer so lange gefangen, und wo waren sie versteckt? Erst als die vierte Leiche gefunden wird, beginnt Lara zu ahnen, was die Schriftzeichen bedeuten. Und ihr wird klar: Der Mörder wird so schnell nicht aufhören ...
Der 3. Fall der sympathischen Journalistin Lara Birkenfeld: Geht unter die Haut!
Lese-Probe zu „Sündenkreis “
Sündenkreis von Claudia PuhlfürstProlog
Mit einem zufriedenen Lächeln betrachtete der Mann die großformatige Reproduktion von Hieronymus Bosch, deren Original sich im Prado in Madrid befand. Nach all diesen Jahren war er noch immer hingerissen von der Botschaft, die der Künstler des ausgehenden Mittelalters so dramatisch dargestellt hatte.
Sein Blick irrte zur Seite und fiel auf die weiß gekleidete Frau am Boden. Sie lag auf dem Rücken, die Beine noch immer angewinkelt. Auf der Abdeckfolie unter ihr hatten sich kleine Wasserpfützen gebildet, die er nachher würde aufwischen müssen. Wie ferngesteuert versetzte sein linker Fuß dem Körper einen Stoß, aber die Frau rührte sich nicht. Ihre weit aufgerissenen Augen starrten an die Decke, als befände sich dort etwas außerordentlich Faszinierendes.
Der Mann wandte sich wieder seinem Bild zu. In der Mitte der kreisförmigen Darstellung prangte umgeben von einem breiten Strahlenkranz das »Auge Gottes«. In dessen Pupille sah man den auferstandenen Jesus Christus mit Wundmalen in einem Sarkophag stehen. Leise murmelte der Mann die vier lateinischen Wörter, die darunter standen, vor sich hin: »Cave cave Deus videt«. Der Maler mahnte die Menschen, sich vorzusehen. Deus videt - Gott sieht. Der Mann seufzte. Im Bildausschnitt rechts unten hatte Bosch eine Frau gemalt, die dem Betrachter den Rücken zuwandte. Sie schien sich nicht für ihre Umgebung zu interessieren, sondern richtete den Blick auf einen zweiflügeligen Schrank. Davor hielt ein fuchsköpfiger Teufel mit einer Haube, die ihre nachäffte, einen Spiegel. Die halb offene Schmucktruhe links von ihr, die prunkvollen Gefäße auf dem Schrank, der Apfel auf dem Fensterbrett, gaben dem Betrachter weitere Hinweise auf ihren Lebenswandel.
... mehr
Mit einem Nicken rollte der Mann das Bild wieder zusammen und schob es in die Hülse. Es war Zeit, sich um die Frau zu kümmern.
Die Wasserpfützen unter dem Körper hatten sich ausgebreitet. Er berührte ihre Schulter und strich dann mit der Handfläche über den Arm. Auch ihr Kleid war durchfeuchtet. Die bleiche Schönheit war eine ganze Woche bei ihm gewesen und hatte dann noch eine weitere Woche im »Dornröschenschlaf« verbracht. Jetzt würde sie ihn verlassen und ihre letzte Aufgabe erfüllen.
Sein Blick wanderte über den Halsausschnitt zu ihrem Gesicht. Rund um die Augen befanden sich kleine blaurote Punkte. Von Weitem sah es aus, als trüge sie eine dunkle Halbmaske. Letzte Woche hatte er sie in einem unbedachten Moment sinnlosen Zorns kräftig gewürgt. Dabei mussten diese Petechien entstanden sein. Auch die Zunge sah nicht mehr schön aus, aber sie ließ sich einfach nicht wieder in die Mundhöhle hineindrücken. Im Nachhinein hatte ihn seine Unbeherrschtheit heftig geärgert, aber die Male hatten sich nicht mehr beseitigen lassen.
Er berührte ihren kalten Fuß und drückte das Bein gerade. Die Starre hatte sich fast gelöst. Um sie zwischenlagern zu können, hatte er ihre Beine anwinkeln müssen. Wenn die Frau der Öffentlichkeit präsentiert wurde, musste sie ausgestreckt liegen. Sie sperrte sich noch ein wenig, aber dann hatte er es geschafft. Gemächlich saugte er die Wasserlachen mithilfe von Frotteetüchern, die er anschließend in einen blauen Plastikmüllsack warf, auf und begann dann, sie in die feste Folie einzuwickeln.
Aufschneiden würde er sie erst an Ort und Stelle. Er stellte es sich faszinierend vor, wie ihr Blut - das hoffentlich noch flüssig war - in Zeitlupe herabtropfte, während sie sich den Leuten präsentierte. Der Cutter schnitt durch das Packband. Jetzt kam der schwierige Teil. Er musste sie an Ort und Stelle bringen, ohne dass es jemandem auffiel. Im Keller wartete schon die nächste.
1
»Tu Buße!«
Die Stimme klang barsch und mitleidslos. Nina Bernstein fror. Ihre Augen schmerzten hinter dem kratzigen Stoff, der fest um ihr Gesicht gewickelt war und nur Mund und Nase freiließ. Sie schniefte leise. Die eingeatmete Luft roch modrig. War der Stoff verschimmelt? Oder kam der Geruch aus dem Raum, in dem sie sich befand?
»Du hörst mir gar nicht zu?« Ein Stoß traf Ninas Schläfe, und sie spürte, wie ihr Hinterkopf an etwas Hartes prallte. »Du sollst büßen!« Der Ton hatte sich verschärft, Worte hallten wider, die Gedanken sprangen wie Flipperkugeln durch Ninas Kopf. Was erwartete die Stimme von ihr, welche Antworten wären die richtigen? Und wofür sollte sie büßen?
»Denk nach!« Noch ein Stoß, fester jetzt. »Ich gebe dir ein bisschen Zeit dazu.« Der Mann mit der barschen Stimme räusperte sich und fuhr fort. »Du hast gesündigt. Und dafür wirst du bestraft werden. Wenn du einsichtig bist, kannst du dir viel Leid ersparen.«
Etwas quietschte, und Nina dachte, dass es sich wie ein rostiges Scharnier anhörte. Gleich darauf hörte sie etwas klicken - ein Schloss? - und danach Schritte, die sich entfernten. Dann war alles still. Zu still.
Nina Bernstein zwang sich, noch ein paar Augenblicke zu warten. Womöglich war der Typ noch im Raum und machte sich einen Spaß daraus, sie zu beobachten. Ihre übrigen Sinne schienen durch die Augenbinde, die das Sehen verhinderte, sensibler geworden zu sein. Schnüffelnd sog sie die Luft ein und versuchte, den Geruch zu analysieren. Kälte, Feuchtigkeit, ein Hauch von Schimmel mit einer Beimengung von Salpeter. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie sich in einer sitzenden Position befand, die Beine gerade ausgestreckt, den Rücken an eine Wand gelehnt. Ihre Hände waren hinter dem Rücken fixiert. Dünne, harte Streifen schnürten die Gelenke ab.
Handschellen waren das nicht. Nina wusste, wie sich Handschellen anfühlten. Schließlich war sie nicht zum ersten Mal in ihrem Leben gefesselt.
Vorsichtig bewegte sie die Hände. Sie konnte mit den Fingerspitzen kalten Stein ertasten. Oder zumindest glaubte sie, dass es Stein war. Auch die Füße waren verschnürt.
Nina fühlte, wie sie wütend wurde. Was hatte dieser Typ eigentlich mit ihr vor? Ob es Sinn hatte, um Hilfe zu rufen? Aber hätte er ihr dann nicht zusätzlich einen Knebel verpasst? Wahrscheinlicher war, dass niemand sie würde hören können. Stattdessen sollte sie lieber darüber nachdenken, was sie tun konnte, um sich zu befreien, oder was der Mann von ihr als »Buße« erwartete. Sie kramte in ihrem Gedächtnis nach längst vergessenen Liturgien, suchte nach Floskeln, die reumütige Kinder vor einem gestrengen Pfarrer verwenden würden, aber ihr Kopf gab nichts frei.
Wie war sie eigentlich hierhergekommen? Nina kniff die Lider hinter dem derben Stoff fest zusammen, so als sei es nicht sowieso schon stockfinster, und versuchte, Erinnerungen heraufzubeschwören.
Das letzte Ereignis, welches ihr einfiel, war der Besuch im Nachtwerk. Samstagabend. Nina ging jeden Samstag ins Nacht- werk. Die riesige Diskothek im Süden Leipzigs war ein beliebter Treffpunkt für Leute, die sich amüsieren wollten. Sie war also im Nachtwerk gewesen, so viel war sicher.
Wie lange mochte das her sein? Wenn sie ihren Körper prüfte, ihr Durstgefühl, den Drang, pinkeln zu müssen, konnte es nicht länger als einen halben Tag zurückliegen. Es sei denn, zwischen dem Besuch in der Disco und Dem Hier lag eine Zeit, die ihr Gedächtnis nicht gespeichert hatte. Nina sah im Moment keine Möglichkeit, das herauszufinden. Also weiter: War der Abend in der Disco wie immer verlaufen?
In ihrem Kopf tauchte ein unscharfes Bild auf. Dieser gutaussehende Bursche mit den blauen Augen, die im Dunkeln geleuchtet hatten wie die Xenonscheinwerfer einer Nobelkarosse. Er war ihr sofort aufgefallen, und Nina hatte sich behutsam an ihn he rangepirscht. Bloß nicht zu aufdringlich wirken! Das mochten die begehrten Typen nämlich gar nicht. Man musste es so aussehen lassen, als seien sie von selbst auf einen aufmerksam geworden. Und Nina Bernstein beherrschte das Spiel perfekt. Wenn man die Kerle einmal an der Angel hatte, konnte man mit ihnen machen, was man wollte.
Und Nina wollte nur eins: richtig guten Sex. Danach konnte der Typ sich schleichen. Manche checkten das nicht und wollten hinterher ihre Telefonnummer oder am nächsten Tag mit ihr essen gehen. Nina fand das spaßig. Was bildeten sich diese Typen eigentlich ein? Sie wollte keine Beziehung, sie wollte Sex. Harten Sex. Manche von den One-Night-Stands sah sie später im Nacht- werk oder in irgendeiner anderen Disco wieder. Wenn sie richtig gut gewesen waren - aber nur dann -, gab Nina ihnen eine zweite Chance. Oft war das jedoch noch nicht geschehen. Die, die am attraktivsten aussahen, brachten es oft nicht. Es war wie mit holländischem Obst: sah super aus, schmeckte nach nichts. Die besten waren die Unscheinbaren, die kleinen dürren oder auch die untersetzten. Und doch fiel sie immer wieder auf diese Strahlemänner herein, die mit den gutgebauten Körpern und den blauen Augen. Nina lächelte kurz, bis ihr einfiel, in welcher Lage sie sich befand. Schnell zwang sie ihre Gedanken wieder zurück zu dem Typen mit den Xenonaugen. Sie hatte ihn gesehen und sich angeschlichen.
Nicht lange, nachdem sie ihn wie zufällig angerempelt und sich dafür entschuldigt hatte, hatte er schon mit ihr getanzt und ihr einen Drink spendiert. Einen Gimlet. Und eine halbe Stunde später einen zweiten. Gimlets trank Nina am liebsten. Schön trocken, mit reichlich Gin. Beim vierten oder fünften Tanz hatte er ihre Hand ergriffen und sie auf seine Hüfte gelegt. Nina hatte nichts dagegen gehabt. So lief es immer. Die Typen taten irgendwas, aber sie steuerte das Ganze unbemerkt.
Ninas Unterleib erinnerte sich noch daran, wie scharf sie geworden war, als sich Körper an Körper schmiegte. Geil auf diesen blauäugigen Casanova und seinen festen kleinen Hintern unter ihren Händen. »Ich heiße Timo«, hatte der Typ zu ihr gesagt.
Sie wollte ihre Namen gar nicht wissen, aber meist ließ es sich nicht vermeiden. »Timo« hatte gut gerochen. Dann hatte er ihr ins Ohr geflüstert, ob sie Lust hätte, etwas zu rauchen, und sie waren auf den Parkplatz gegangen, auf dem sich schon viele junge Leute herumdrückten. Seit man in den Discos keine Zigaretten mehr rauchen durfte, hielt sich die Hälfte der Besucher draußen auf.
Nina hatte ihn in eine unbeleuchtete Ecke gelotst und dabei gehofft, er würde es ihr gleich hier besorgen, auf diesem riesigen asphaltierten Platz - sie an die Rückwand des Gebäudes gepresst, die Beine um ihn geklammert, er vor ihr, der feste kleine Hintern heftig stoßend -, aber er machte keine Anstalten dazu. Sie musste wohl noch weiter an ihm graben. Manche von den Typen waren aber auch zu tugendhaft. Vielleicht würde es ihm die Sache erleichtern, wenn sie zuerst ein bisschen Gras mit ihm rauchte. Timo hatte ewig gebraucht, um zwei Joints zu drehen. Oft hatte er das anscheinend noch nicht gemacht.
Als Nina spürte, wie ihre Gedanken begannen, Karussell zu fahren, hatte sie ihn ein bisschen angeheizt. Daran erinnerte sie sich noch zu gut. Er war allmählich munter geworden und hatte mitgemacht, sodass ihre Hoffnung, den Richtigen für diese Nacht ausgewählt zu haben, wuchs. Schließlich wollte sie nicht das ganze Wochenende hier zubringen.
Nina rutschte ein bisschen an der Wand nach unten und zog die Beine an. Ihr Rücken schmerzte. Und es war bitterkalt. Fast genauso kalt, wie auf diesem dämlichen Parkplatz vor dem Nacht- werk am Sonnabend. Nachdem sie eine ewige Viertelstunde an dem Typen herumgemacht hatte, gab Nina ihre Hoffnung, er würde gleich hier über sie herfallen, auf. Der Kerl war anscheinend zu feige dazu. Allmählich kroch ihr die Kälte auch unter die Klamotten. Aber einen Versuch hatte er noch. Sie würde ihm das Auto anbieten. Wie immer hatte Nina in einer abgelegenen Ecke geparkt, wo es schön dunkel war. Und wenn jemand ihr beim Ficken zusehen wollte - auch gut. Das törnte sie an. Sie nahm die Typen nie mit zu sich nach Hause, nie seit mindestens zwei Jahren. Schlechte Erfahrungen. Wenn sie erst wussten, wo sie wohnte, klebten manche von ihnen an ihr wie Kletten. Der Parkplatz, eine von den Toiletten im Nachtwerk oder das Auto taten es genauso gut.
Aber zuerst hatte sie dringend pinkeln gemusst, und weil sie trotz der Kälte zu faul gewesen war zurückzugehen, hatte sie beschlossen, sich gleich in das dunkle Gestrüpp des Wäldchens am Rande des Parkplatzes zu begeben. In der Finsternis konnte sie eh keiner sehen. Und den Rest Schamgefühl erledigte der Joint, den sie vor ein paar Minuten geraucht hatte. »Ich komme gleich wieder, lauf nicht weg«, hatte sie mit ihrer heiseren Stimme zu dem Typen gesagt und war über den glatten Asphalt in Richtung der Sträucher getaumelt. Sie war nicht weit in das Wäldchen hineingelaufen, nur ein paar Meter, und hatte sich dann umgedreht, sodass sie den Parkplatz und die dunkelgelben Lichtkreise der Bogenlampen sehen konnte. Nachdem sie vor dem Herunterlassen der Hose die Hosenbeine bis zu den Waden hochgewurstelt hatte, damit sie nicht aus Versehen nass wurden, hatte Nina sich hingehockt. Ihr »Date« stand brav an der seitlichen Ecke und wartete. Ab und zu hob er eine Zigarette - oder war es ein neuer Joint? - und sog daran.
Nina erinnerte sich an das Geräusch ihres Urinstrahls auf den vertrockneten Blättern. Gleichzeitig hatte sie gesehen, wie der Typ einer Dampflok gleich weiße Wölkchen in die Nacht blies. Sie erinnerte sich auch noch daran, wie sie sich mit zwei Tempotaschentüchern abgewischt hatte und dass sie zwei Schritte nach vorn gegangen war, ehe sie die Hose hochgezogen hatte. Das war alles.
Danach war nichts als Schwärze. Weder fiel ihr ein, wie sie auf den Parkplatz zurückgelangt war; noch, ob sie ihr Vorhaben wahr gemacht und sich im Auto von diesem Timo hatte ficken lassen. Leer, leer, leer war ihr Kopf, nichts als eine hohle Nussschale voller Luft.
Nina dachte noch ein paar Sekunden lang über den Abend nach, aber sosehr sie sich auch bemühte, mehr wollte ihr nicht einfallen. Sie schob sich wieder ein bisschen nach oben. Inzwischen brannte nicht nur ihr Rücken, sondern auch ihr Hintern vom Sitzen auf dem harten Boden.
Sie war im Nachtwerk gewesen und hatte einen Typen kennengelernt. Und dann hatte irgendjemand sie gefesselt und eingesperrt. Und nun sollte sie Buße tun, wofür auch immer.
Ob irgendein verschmähter Liebhaber sie hier gefangen hielt? Zur Strafe, weil sie nach einem Fick nichts mehr von ihm hatte wissen wollen? Sollte sie etwa das bereuen? Dieser Timo war jedenfalls nicht ihr Entführer, da war sie sich ziemlich sicher.
Die Stimme hatte gesagt, sie habe gesündigt und wenn sie einsichtig sei, könne sie sich viel Leid ersparen. Nina beschloss, sich darauf einzurichten. Wenn der Typ mit der barschen Stimme wiederkam, würde sie ihn als Erstes um Entschuldigung bitten. Mal sehen, wie er reagierte. Nina Bernstein hatte nicht wirklich Angst vor dem, was kommen würde. Bis jetzt war sie noch jeder Situation gewachsen gewesen. Sie atmete die modrige Luft tief ein und stieß sie mit einem Pfeifen wieder aus. Die Stimme hatte nicht verkündet, wann ihr Besitzer wieder auftauchen würde. Es konnte Minuten oder Stunden dauern, wer wusste das schon. Aber sie musste ja nicht regungslos hier sitzen bleiben und darauf warten, dass ihre Muskeln komplett einrosteten. Nina beschloss, ihre Umgebung zu erkunden. Auch mit den Fesseln war sie nicht völlig bewegungslos. Sie konnte umherkriechen und alles abtasten.
Langsam zog sie die Beine an und wartete kurz, bis der Schmerz sich etwas verflüchtigt hatte. Dann rollte sie sich zur Seite, verlagerte das Gewicht auf die Knie und ließ den Körper sich stabilisieren. Es war gar nicht so einfach aufzustehen, wenn einem die Hände auf dem Rücken festgebunden waren, aber sie schaffte es. Auch das Vorwärtskommen gestaltete sich schwieriger als Nina gedacht hatte. Mit winzigen Schritten schob sie sich in den Raum hinein. Eigentlich glich es mehr einem wackligen Hüpfen denn einem Laufen. Normalerweise hätte sie die Arme nach vorn ausgestreckt, um Hindernisse rechtzeitig zu ertasten. Die Gefahr, dass sie sich den Kopf anstoßen würde, war groß, und Nina beschloss rückwärtszutrippeln, die gefesselten Arme ein paar Zentimeter vom Rücken weggestreckt.
Die Kälte kniff in Gesicht und Hals. Wenn sie richtig fühlte, trug sie lediglich ihre Jeans und das Top, darunter war nur nackte Haut. Wie immer samstags. Auf Unterwäsche verzichtete Nina beim Ausgehen konsequent - sie störte nur. Ihre wattierte Jacke, der Schal und die Handschuhe fehlten. Vielleicht hingen sie noch immer an der Garderobe im Nachtwerk. Was dafür sprach, dass sie direkt vom Parkplatz der Disco aus hierhergekommen war. Jetzt berührte ihre rechte Handfläche etwas Festes und sie rückte noch ein wenig dichter an die Wand heran. Vorsichtig rutschten die Finger über feuchtkalte Steine, ertasteten eine schmale Fuge, fuhren die unregelmäßige Einkerbung nach. Eine Natursteinmauer. Nina lehnte sich an und öffnete den Mund. Ihr »Ist da jemand? « hallte wider. Was war das hier, eine Gruft? Sie beschloss, sich seitwärts an der Wand entlang zu bewegen. Es musste einen Ausgang geben, irgendwo befand sich eine Tür. Die Stimme mitsamt dem dazugehörigen Körper musste ja schließlich an irgendeiner Stelle hereingekommen sein. Behutsam schob sie sich weiter nach rechts. Nach vierzehn Schrittchen war Schluss. Ninas Schulter stieß an eine weitere Wand. Eine Ecke des Raumes? Sie wollte sich gerade in Position bringen, um den Winkel zu überwinden, als ein leises Geräusch über ihre Haut fuhr wie eine Klinge. Das feine Klicken ließ Nina die Luft anhalten, und als das gleiche Quietschen wie vorhin ertönte, wusste sie, dass die Stimme zurückgekommen war.
»Hoppla! Was haben wir denn da?«
Nina vermeinte, einen ironischen Unterton herauszuhören, aber es konnte genauso gut sein, dass sie sich das nur einbildete. Wenigstens hatte er nicht zornig geklungen. War das ein gutes Zeichen?
»Du brauchtest wohl Bewegung?« Die Stimme kam näher, säuselte. Nina konnte Pfefferminz riechen.
»Ich ... ich ... ich möchte mich entschuldigen.« Sie versuchte ein verlegenes Lächeln, hoffte, dass es echt aussah, und bedauerte gleichzeitig, nichts sehen zu können.
»Du willst dich entschuldigen?« Jetzt klang er überrascht. »Wofür? « Die Stimme war jetzt ganz dicht vor ihr, und Nina fühlte, wie sich die kleinen Härchen an ihren Armen aufrichteten.
»Falls ich Sie gekränkt habe.« Reichte das?
»Mich gekränkt?« Ein feines Prusten. Nina spürte, wie sich ein leichter Nebel auf ihre nackten Unterarme senkte. »Wie kommst du denn darauf?«
»Ich ... äh ... na ja. Kennen wir uns eigentlich?« Die ganze Zeit hatte Nina versucht herauszufinden, ob sie dem Mann, dem die Stimme gehörte, schon einmal begegnet war, aber ihr Gehirn hatte nichts zutage gefördert. Wenn er aber nicht zu den Verflossenen gehörte, die sich mehr von ihr erhofft hatten, woher kannte er sie dann? Oder schlimmer - kannte er Nina Bernstein womöglich gar nicht? War sie ein Zufallsopfer? Was sollte aber dann der Scheiß mit der »Buße«? Das setzte doch voraus, dass sie etwas getan hatte, das er der Sühne würdig fand. Und wie konnte er so etwas wissen, wenn er sie vorher noch nie getroffen hatte? Nina schüttelte ihren Kopf, um die Gedanken zu sortieren.
»Ich weiß nicht, was diese Fragen sollen. Hast du über deine Sünden nachgedacht?« Nina spürte seinen Pfefferminzatem über ihre Haut streichen und fror.
»Ich weiß wirklich nicht, was Sie meinen.« Sie musste ihrem Satz keinen kläglichen Unterton geben. Den hatte er von ganz allein.
»Jetzt ist es aber genug!« Mit einem Mal hatte sich die Stimme von einem sanften Wispern zu einem Grollen erhoben. »Treib keine Spielchen!«
Nina schwieg, während sie fieberhaft nachdachte. Der Inhaber der Stimme schien sie zu beobachten, schien auf etwas zu warten. Sie spürte alles gleichzeitig: die Steine in ihrem Rücken, den unebenen Boden unter ihren Schuhsohlen, das kratzige Gewebe der Augenbinde, die unnachgiebigen Fesseln an den Handgelenken.
Bis jetzt hatte ihr Kerkermeister nur Forderungen gestellt, ihr jedoch außer dem Stoß vorhin und den Fesseln keine Gewalt angetan. Vielleicht würde er sie wieder freilassen, wenn er mit ihr fertig war. Wenn sie das getan hatte, was er von ihr verlangte. Allerdings wusste Nina noch immer nicht, was das eigentlich sein sollte. Buße wofür? Noch immer schwieg die Stimme, und die Kälte kroch ihr allmählich in die Knochen. »Ich weiß wirklich nicht, was Sie erwarten. Bitte helfen Sie mir doch auf die Sprünge, dann mache ich, was Sie wollen.« Nina hasste sich für das Flehen in ihrer Stimme.
Sollte sie ihm Sex anbieten? War es das, auf das er scharf war? Er war ein Mann. Männer mochten Sex. Fesselspielchen, Sadomaso. Nichts einfacher als das. Darin war sie Spitze. Der Pfefferminzgeruch wurde wieder stärker, während Nina noch überlegte, ob es klug war, ihm ihren Körper anzubieten.
»Du stellst dich dumm an. Dümmer, als ich dachte.« Jetzt stand er direkt vor ihr. Sie konnte sein stoßweises Atmen im Gesicht spüren, wenn er redete.
»Wollen Sie mit mir schlafen?« Nina überlegte noch, warum sie das Wort »ficken« nicht herausbrachte, wo es doch sonst zu ihrem alltäglichen Sprachgebrauch gehörte; und warum sie den Typen mit »Sie« ansprach, als ein gackerndes Geräusch sie zurückzucken ließ. Es dauerte einige Sekunden, bis sie es einordnen konnte. Der Typ lachte.
»Nina, Nina ...« Er schien den Kopf zu schütteln. »Das ist ja gerade das Problem.« Sein meckerndes Lachen verebbte. Die Stimme entfernte sich jetzt wieder, wobei er vor sich hin murmelte. »Du begreifst es nicht. Wenn du ein bisschen nachgedacht hättest, wüsstest du vielleicht, was du falsch gemacht hast, aber anscheinend denkst du zu wenig.« Jetzt näherte er sich wieder. »Aber wir haben genug Zeit. Vielleicht fällt es dir noch ein.« Nun stand er wieder direkt vor ihr. »Ich öffne jetzt die Fesseln an deinen Handgelenken. Komm aber nicht auf dumme Gedanken. Dreh dich bitte um.« Nina gehorchte. Womöglich war das ihre Chance. Und er hatte »bitte« gesagt. Die Wand vor ihrem Gesicht dünstete klamme Steinluft aus. Der Typ fummelte hinter ihrem Rücken an den Fesseln herum. Seine Finger waren warm und weich. Nina konnte fühlen, wie die enge Schnürung an den Gelenken sich löste. Die Haut brannte ein bisschen, aber das würde vergehen. Hoffentlich ließ er ihr die Augenbinde. Solange sie ihn nicht sah, konnte sie sich an die Hoffnung klammern, dass er vorhatte, sie freizulassen. Nachdem er hatte, was er wollte. Was auch immer das sein mochte.
»Jetzt ziehst du das Oberteil aus.«
»Ausziehen?«
»Was ist daran nicht verständlich? Zieh das Shirt aus. Jetzt!« Er hob die Stimme ein wenig, und Nina beeilte sich zu tun, was er verlangte. Wenn er ihre Brüste sehen wollte - gut. Sie waren einen Blick wert. Nina streifte das Top über den Kopf, ließ es an der Augenbinde vorbeirutschen, doch die verschob sich um keinen Millimeter. Das Oberteil in der Rechten blieb sie mit dem Gesicht zur Wand stehen und atmete den Modergeruch ein, während sie auf weitere Anweisungen wartete. Ihr ganzer Körper erschauerte, als seine Fingerspitzen sich auf ihren nackten Rücken legten und dann sanft von oben nach unten glitten. »Sehr schön.«
Die Hände lösten sich. Nina zitterte ein bisschen. Jetzt spürte sie wieder, wie kalt es in diesem Raum wirklich war. Pfefferminzduft wogte heran.
»Hör mir zu. Links neben dir ist eine Matratze. Du legst dich jetzt bitte darauf. Mit dem Gesicht nach unten.«
Aha, jetzt kam es. Er wollte sie doch ficken. Nur dass er dauernd »bitte« sagte, machte Nina ein bisschen Angst. Sie trippelte ein wenig nach links, bis die Fußspitzen an ein Hindernis stießen, und kniete dann nieder. »Soll ich meine Hose auch ausziehen? « In der sie umgebenden Dunkelheit fand Nina, dass sie sich wie eine Dreijährige anhörte.
»Nein. Mach den Reißverschluss auf, das sollte reichen.«
Nina fragte sich, wie er es anstellen wollte, sie zu vögeln, wenn sie die Jeans noch anhatte, während sie an dem Metallknopf nestelte. Ihre Finger flatterten, es schien Stunden zu dauern, und doch wartete der Typ geduldig, bis sie endlich so weit war.
»Und nun leg dich auf den Bauch.« Sie bekam einen leichten Stüber und kippte nach vorn.
»Beine gerade, Arme an die Seiten.« Nina tat, wie ihr geheißen. Die Matratze roch auch muffig. Sie drehte den Kopf zur Seite, um besser atmen zu können. Als seine Hände ihren Hosenbund berührten, sog sie scharf die Luft ein.
»Halt schön still. Es wird nicht wehtun.« Er streichelte über ihren Rücken, und Nina unterdrückte ein Zähneklappern.
Neben ihr klimperte es, dann begann ein feines Surren. Das Geräusch war ihr völlig unbekannt. Was machte der Typ da? Als er sich mit einem Ächzen über sie schwang, hielt Nina für ein paar Sekunden die Luft an und wappnete sich gegen das, was jetzt gleich kommen würde. Aber er blieb einfach auf ihrem Hinterteil sitzen und machte keinerlei Anstalten, ihr die Hose abzustreifen. Lediglich den Bund schob er etwas nach unten. Das schwirrende Geräusch wurde lauter. Der Typ rutschte ein wenig nach oben und legte ihr eine warme Handfläche auf das linke Schulterblatt. »Es geht jetzt los. Nicht zappeln, Nina.«
»Ich verstehe nicht ...«
»Das musst du auch nicht. Halt einfach still, umso schneller ist es vorbei.«
Das Surren war jetzt ganz dicht über ihr, dann begann es unter ihrem linken Schulterblatt zu kribbeln, als liefen hunderte von Ameisen winzige Kreise. Nach einigen Minuten verstummte das Brummen für einen Moment und etwas wischte mit reibenden Bewegungen über die Haut. Dann begann es von neuem. Die Ameisenarmee arbeitete sich allmählich nach rechts vor. Nina war sich nicht ganz sicher, aber es hörte sich an, als würde das Surren von einem steten Raunen untermalt, als begleite ein gemurmelter Singsang das mechanische Geräusch wie eine Liturgie.
Die Prozedur schien sich über Stunden hinzuziehen. Aber vielleicht waren es auch nur Minuten, Nina verlor irgendwann jegliches Zeitgefühl. Als das Surren plötzlich verstummte, schien die Stille zu rauschen. Noch einmal wischte weicher Stoff in kreisenden Bewegungen über Ninas Rücken. Die Muskeln an ihrem Hintern, die Nina die ganze Zeit angespannt hatte, waren taub. Das Gewicht des Typen fühlte sie wie einen dumpfen Schmerz.
»Bleib liegen!« Er löste sich von ihr und erhob sich. Nina bewegte behutsam ihre Finger. Doch noch ehe sie dazu gekommen war, einen Plan zu schmieden, war er schon wieder über ihr.
Erst jetzt wurde es Nina bewusst, dass die Haut des Rückens heiß war, sie glühte wie bei einem leichten Sonnenbrand. Es knisterte, dann legte sich etwas Kaltes, Glattes auf ihren Rücken, wurde an den Seiten fest angedrückt. »So. Teil eins.« Die Stimme klang irgendwie erleichtert. »Setz dich und zieh dein Shirt wieder an.«
»Ich kann nicht.« Nina war paralysiert. Ihre Muskeln waren vom langen Liegen in der gleichen Position wie gelähmt.
»Stell dich nicht so an!« Dass der Typ nicht einmal die Stimme hob, jagte Nina ein bisschen Angst ein. Während sie auf das feine Kribbeln wartete, das anzeigte, dass das Leben in ihre Arme und Beine zurückkehrte, versuchte sie die Geräusche im Hintergrund zu analysieren. Er packte etwas ein, summte dabei eine Melodie. Als sie gerade dachte, dass es ihm egal zu sein schien, wie lange sie brauchte, kam er zurück, ließ sich direkt neben ihr niederplumpsen, griff nach ihren Schultern, drehte sie mit einem Ruck um und zerrte sie dann. »Hoch mit dir, Schlampe!«
Als sie saß, ließ er los und warf ihr das Top in den Schoß. »Anziehen! «
Nina gehorchte wortlos. Der Stoff rutschte über ihren Kopf nach unten und glitt über den Rücken, an dem eine Art Folie zu kleben schien.
»Hände auf den Rücken!«
»Aber ...«
»Diskutier nicht!«
Während er ihre Arme wie vorher auf dem Rücken fesselte, dachte Nina darüber nach, was er wohl als Nächstes mit ihr vorhatte, aber ihr Kopf gab nichts her.
»Du kannst hier sitzenbleiben oder dich hinlegen, wie du magst. Wenn ich wiederkomme, machen wir weiter.« Er drückte ihr mit dem Daumen gegen die Stirn und entfernte sich dann.
»Lassen Sie mich doch hier nicht allein!«
»Du hast eine Aufgabe. Ich habe es dir beim letzten Mal schon gesagt. Du sollst büßen. Und du musst aufrichtig sein, und nicht nur so tun. Ich erkenne den Unterschied.«
»Ich habe Durst! Und ich muss zur Toilette!«
»Daran kann ich momentan nichts ändern.« Das Scharnier quietschte. »Ich empfehle dir nachdrücklich, über meine Worte nachzudenken.« Es klickte, dann war es still.
Nina lauschte in die Finsternis. Sie hatte es eben nicht nur so dahingesagt. Sie war durstig und ihre Blase drückte. Und sie fror. Was hatte er mit ihrem Rücken angestellt? Wie lange würde der Typ wegbleiben? Und was würde er mit ihr machen, wenn er zurückkam?
2
»Lasst uns nun singen.« Der Mann mit dem weißen Umhang breitete die Arme aus und ließ seinen Blick über die Gemeinde gleiten. Er bemühte sich dabei, jeden Einzelnen anzusehen. Ehrfürchtig saßen seine Schäflein in ihren Stuhlreihen und blickten nach vorn. Aus ihrer Perspektive wirkte Romain Holländer wie die Christusstatue auf dem Corcovado in Rio de Janeiro, nur dass seine Haare nicht so lang waren. Konrad, der neue Altardiener, sang einen einzelnen klaren Ton in die Stille und stimmte so an.
Romain Holländer schloss die Augen. Sein sonorer Bass übertönte den Chorus, genau so, wie es sein sollte. Er wusste um seine Wirkung. Besonders eindrucksvoll war die Szenerie an einem Tag wie heute, wenn die Sonne hereinschien. Das Licht fiel durch das Ornamentfenster hinter ihm und zeichnete saphirblaue, flaschengrüne und granatrote Muster auf das weiße Gewand. Gleichzeitig fluteten die farbigen Strahlen um seinen Hinterkopf und verliehen ihm eine Art Heiligenschein. Die Markierung am Boden, auf die er sich stellen musste, um diesen Effekt zu erzielen, war fast unsichtbar, und Romain Holländer glaubte nicht, dass sie überhaupt schon einmal jemandem aufgefallen war. Eigentlich brauchte er das Kreuzchen auch gar nicht. Die Riten verliefen seit Jahren immer gleich, ob es nun Sonntags- oder Wochentreffen waren.
Er sang etwas lauter und schielte dabei durch die halbgeschlossenen Lider auf die Gemeinde; prüfte die Gesichter, forschte, ob alle dem Auf und Ab der Töne folgten. Ablenkung war Sünde. Meist beichteten die Betreffenden ihre Verfehlungen von selbst und suchten sich auch selbst eine Bestrafung aus, aber es konnte nichts schaden, sie trotzdem zu kontrollieren. Dieses Mal schien niemand unaufmerksam zu sein. Viele hatten wie ihr Führer die Augen geschlossen, manche wiegten sich im Takt hin und her.
Auch die Kinder bemühten sich. Die ganz kleinen, die Texte und Melodien noch nicht beherrschten, saßen andächtig auf dem Schoß von Mutter oder Vater, die größeren versuchten mitzusingen. Keines von ihnen zappelte, weinte oder plapperte dazwischen, obwohl die Sonntagsandacht manchmal von sechs Uhr früh bis zur Mittagsspeisung dauerte. Es schien Romain, als begriffen sie instinktiv die Bedeutung der Treffen und wollten ihren Eltern keine Schande machen.
Romain Holländer war zufrieden. Heute hatte keiner von ihnen Tadel verdient. Er ließ die letzten Töne verhallen und öffnete die Augen ganz langsam, als erwache er gerade aus einer tiefen Trance. Dann schenkte er der Gemeinde ein inniges Lächeln und senkte bedächtig die segnenden Arme. Den Blick auf die vertäfelte Wand hinter den Stuhlreihen gerichtet, zählte er bis zehn, ehe er sprach.
»Ich danke euch. Es ist ein wunderbares Gefühl, wenn sich alle im Gesang vereinen. Der heutige Sonntag ist ein gesegneter Tag für uns alle. Wir wollen nun voller Freude die Botschaft der Woche hören.« Die Menschen vor ihm falteten die Hände, die Kinder taten es ihnen nach. Romain Holländer gab Konrad ein Zeichen, und während er zu predigen begann, schritt der Junge durch die Reihen und schwenkte das silberne Gefäß von links nach rechts, darauf bedacht, den weißen Rauch gleichmäßig zu verteilen.
Insgeheim gab Romain Holländer zu, dass er das mit dem Räucherwerk von den Katholiken geklaut hatte. Angeblich hatte ja schon der reine Weihrauch einen leicht halluzinogenen Effekt, aber er verwendete zusätzlich noch andere Essenzen. Substanzen, die in Deutschland gar nicht erhältlich waren. Die Beimengungen hatten eine leicht narkotische Wirkung, beruhigten die Gedanken, machten den Kopf leer und schufen so Platz für seine Worte.
Seine Schäfchen wussten davon nichts. Sie fühlten lediglich, dass der Rauch sie beruhigte, dass er ihnen Wohlbehagen schenkte und sie ein wenig schläfrig zurückließ. Auch Romain Holländer spürte die Wirkung. Er liebte es, wenn sich die Gedanken in seinem Kopf zu machtvollen Gebilden formten, wenn die Sätze wie Perlenschnüre aus seinem Mund glitten und sich um die Köpfe der Gemeindemitglieder wanden. Manchmal überflutete ihn die Macht der Worte so stark, dass er Stunden um Stunden predigte, um danach wie eine hohle Spielzeugfigur in die glasigen Augen seiner Gemeinde zu starren.
Heute hatte er Konrad den Auftrag gegeben, die große Silberkugel nur in den Reihen der Zuhörer zu schwenken, denn heute durfte die Predigt nicht bis in die Nachmittagsstunden dauern. Romain Holländer hatte noch einiges vor an diesem wunderbaren Sonntag im Februar.
Nach einer guten Stunde beendete er seine Rede mit einigen metaphorischen Verweisen auf die Nützlichkeit ihres Tuns, wobei er die Stimme lauter und lauter werden ließ, um die Schäfchen sanft aus ihrer Entrückung zu erwecken. Nachdem alle die Augen wieder geöffnet hatten und nach vorn schauten, stimmte er die Schlusslitanei an. Das einsetzende Gemurmel rollte wie ein ferner Donner durch den Raum.
»Und nun gehet zur Sonntagsspeisung. Ich werde euch alsbald folgen.« Die erhobenen Arme winkten die Schäfchen hinaus. Romain Holländer lächelte sein sanftmütiges Lächeln. Er liebte diese schwülstigen Formeln. Sie hoben sich von der Alltagssprache ab und zeigten, dass es hier um etwas Besonderes ging.
Copyright © 2012 by Blanvalet Verlag
Mit einem Nicken rollte der Mann das Bild wieder zusammen und schob es in die Hülse. Es war Zeit, sich um die Frau zu kümmern.
Die Wasserpfützen unter dem Körper hatten sich ausgebreitet. Er berührte ihre Schulter und strich dann mit der Handfläche über den Arm. Auch ihr Kleid war durchfeuchtet. Die bleiche Schönheit war eine ganze Woche bei ihm gewesen und hatte dann noch eine weitere Woche im »Dornröschenschlaf« verbracht. Jetzt würde sie ihn verlassen und ihre letzte Aufgabe erfüllen.
Sein Blick wanderte über den Halsausschnitt zu ihrem Gesicht. Rund um die Augen befanden sich kleine blaurote Punkte. Von Weitem sah es aus, als trüge sie eine dunkle Halbmaske. Letzte Woche hatte er sie in einem unbedachten Moment sinnlosen Zorns kräftig gewürgt. Dabei mussten diese Petechien entstanden sein. Auch die Zunge sah nicht mehr schön aus, aber sie ließ sich einfach nicht wieder in die Mundhöhle hineindrücken. Im Nachhinein hatte ihn seine Unbeherrschtheit heftig geärgert, aber die Male hatten sich nicht mehr beseitigen lassen.
Er berührte ihren kalten Fuß und drückte das Bein gerade. Die Starre hatte sich fast gelöst. Um sie zwischenlagern zu können, hatte er ihre Beine anwinkeln müssen. Wenn die Frau der Öffentlichkeit präsentiert wurde, musste sie ausgestreckt liegen. Sie sperrte sich noch ein wenig, aber dann hatte er es geschafft. Gemächlich saugte er die Wasserlachen mithilfe von Frotteetüchern, die er anschließend in einen blauen Plastikmüllsack warf, auf und begann dann, sie in die feste Folie einzuwickeln.
Aufschneiden würde er sie erst an Ort und Stelle. Er stellte es sich faszinierend vor, wie ihr Blut - das hoffentlich noch flüssig war - in Zeitlupe herabtropfte, während sie sich den Leuten präsentierte. Der Cutter schnitt durch das Packband. Jetzt kam der schwierige Teil. Er musste sie an Ort und Stelle bringen, ohne dass es jemandem auffiel. Im Keller wartete schon die nächste.
1
»Tu Buße!«
Die Stimme klang barsch und mitleidslos. Nina Bernstein fror. Ihre Augen schmerzten hinter dem kratzigen Stoff, der fest um ihr Gesicht gewickelt war und nur Mund und Nase freiließ. Sie schniefte leise. Die eingeatmete Luft roch modrig. War der Stoff verschimmelt? Oder kam der Geruch aus dem Raum, in dem sie sich befand?
»Du hörst mir gar nicht zu?« Ein Stoß traf Ninas Schläfe, und sie spürte, wie ihr Hinterkopf an etwas Hartes prallte. »Du sollst büßen!« Der Ton hatte sich verschärft, Worte hallten wider, die Gedanken sprangen wie Flipperkugeln durch Ninas Kopf. Was erwartete die Stimme von ihr, welche Antworten wären die richtigen? Und wofür sollte sie büßen?
»Denk nach!« Noch ein Stoß, fester jetzt. »Ich gebe dir ein bisschen Zeit dazu.« Der Mann mit der barschen Stimme räusperte sich und fuhr fort. »Du hast gesündigt. Und dafür wirst du bestraft werden. Wenn du einsichtig bist, kannst du dir viel Leid ersparen.«
Etwas quietschte, und Nina dachte, dass es sich wie ein rostiges Scharnier anhörte. Gleich darauf hörte sie etwas klicken - ein Schloss? - und danach Schritte, die sich entfernten. Dann war alles still. Zu still.
Nina Bernstein zwang sich, noch ein paar Augenblicke zu warten. Womöglich war der Typ noch im Raum und machte sich einen Spaß daraus, sie zu beobachten. Ihre übrigen Sinne schienen durch die Augenbinde, die das Sehen verhinderte, sensibler geworden zu sein. Schnüffelnd sog sie die Luft ein und versuchte, den Geruch zu analysieren. Kälte, Feuchtigkeit, ein Hauch von Schimmel mit einer Beimengung von Salpeter. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie sich in einer sitzenden Position befand, die Beine gerade ausgestreckt, den Rücken an eine Wand gelehnt. Ihre Hände waren hinter dem Rücken fixiert. Dünne, harte Streifen schnürten die Gelenke ab.
Handschellen waren das nicht. Nina wusste, wie sich Handschellen anfühlten. Schließlich war sie nicht zum ersten Mal in ihrem Leben gefesselt.
Vorsichtig bewegte sie die Hände. Sie konnte mit den Fingerspitzen kalten Stein ertasten. Oder zumindest glaubte sie, dass es Stein war. Auch die Füße waren verschnürt.
Nina fühlte, wie sie wütend wurde. Was hatte dieser Typ eigentlich mit ihr vor? Ob es Sinn hatte, um Hilfe zu rufen? Aber hätte er ihr dann nicht zusätzlich einen Knebel verpasst? Wahrscheinlicher war, dass niemand sie würde hören können. Stattdessen sollte sie lieber darüber nachdenken, was sie tun konnte, um sich zu befreien, oder was der Mann von ihr als »Buße« erwartete. Sie kramte in ihrem Gedächtnis nach längst vergessenen Liturgien, suchte nach Floskeln, die reumütige Kinder vor einem gestrengen Pfarrer verwenden würden, aber ihr Kopf gab nichts frei.
Wie war sie eigentlich hierhergekommen? Nina kniff die Lider hinter dem derben Stoff fest zusammen, so als sei es nicht sowieso schon stockfinster, und versuchte, Erinnerungen heraufzubeschwören.
Das letzte Ereignis, welches ihr einfiel, war der Besuch im Nachtwerk. Samstagabend. Nina ging jeden Samstag ins Nacht- werk. Die riesige Diskothek im Süden Leipzigs war ein beliebter Treffpunkt für Leute, die sich amüsieren wollten. Sie war also im Nachtwerk gewesen, so viel war sicher.
Wie lange mochte das her sein? Wenn sie ihren Körper prüfte, ihr Durstgefühl, den Drang, pinkeln zu müssen, konnte es nicht länger als einen halben Tag zurückliegen. Es sei denn, zwischen dem Besuch in der Disco und Dem Hier lag eine Zeit, die ihr Gedächtnis nicht gespeichert hatte. Nina sah im Moment keine Möglichkeit, das herauszufinden. Also weiter: War der Abend in der Disco wie immer verlaufen?
In ihrem Kopf tauchte ein unscharfes Bild auf. Dieser gutaussehende Bursche mit den blauen Augen, die im Dunkeln geleuchtet hatten wie die Xenonscheinwerfer einer Nobelkarosse. Er war ihr sofort aufgefallen, und Nina hatte sich behutsam an ihn he rangepirscht. Bloß nicht zu aufdringlich wirken! Das mochten die begehrten Typen nämlich gar nicht. Man musste es so aussehen lassen, als seien sie von selbst auf einen aufmerksam geworden. Und Nina Bernstein beherrschte das Spiel perfekt. Wenn man die Kerle einmal an der Angel hatte, konnte man mit ihnen machen, was man wollte.
Und Nina wollte nur eins: richtig guten Sex. Danach konnte der Typ sich schleichen. Manche checkten das nicht und wollten hinterher ihre Telefonnummer oder am nächsten Tag mit ihr essen gehen. Nina fand das spaßig. Was bildeten sich diese Typen eigentlich ein? Sie wollte keine Beziehung, sie wollte Sex. Harten Sex. Manche von den One-Night-Stands sah sie später im Nacht- werk oder in irgendeiner anderen Disco wieder. Wenn sie richtig gut gewesen waren - aber nur dann -, gab Nina ihnen eine zweite Chance. Oft war das jedoch noch nicht geschehen. Die, die am attraktivsten aussahen, brachten es oft nicht. Es war wie mit holländischem Obst: sah super aus, schmeckte nach nichts. Die besten waren die Unscheinbaren, die kleinen dürren oder auch die untersetzten. Und doch fiel sie immer wieder auf diese Strahlemänner herein, die mit den gutgebauten Körpern und den blauen Augen. Nina lächelte kurz, bis ihr einfiel, in welcher Lage sie sich befand. Schnell zwang sie ihre Gedanken wieder zurück zu dem Typen mit den Xenonaugen. Sie hatte ihn gesehen und sich angeschlichen.
Nicht lange, nachdem sie ihn wie zufällig angerempelt und sich dafür entschuldigt hatte, hatte er schon mit ihr getanzt und ihr einen Drink spendiert. Einen Gimlet. Und eine halbe Stunde später einen zweiten. Gimlets trank Nina am liebsten. Schön trocken, mit reichlich Gin. Beim vierten oder fünften Tanz hatte er ihre Hand ergriffen und sie auf seine Hüfte gelegt. Nina hatte nichts dagegen gehabt. So lief es immer. Die Typen taten irgendwas, aber sie steuerte das Ganze unbemerkt.
Ninas Unterleib erinnerte sich noch daran, wie scharf sie geworden war, als sich Körper an Körper schmiegte. Geil auf diesen blauäugigen Casanova und seinen festen kleinen Hintern unter ihren Händen. »Ich heiße Timo«, hatte der Typ zu ihr gesagt.
Sie wollte ihre Namen gar nicht wissen, aber meist ließ es sich nicht vermeiden. »Timo« hatte gut gerochen. Dann hatte er ihr ins Ohr geflüstert, ob sie Lust hätte, etwas zu rauchen, und sie waren auf den Parkplatz gegangen, auf dem sich schon viele junge Leute herumdrückten. Seit man in den Discos keine Zigaretten mehr rauchen durfte, hielt sich die Hälfte der Besucher draußen auf.
Nina hatte ihn in eine unbeleuchtete Ecke gelotst und dabei gehofft, er würde es ihr gleich hier besorgen, auf diesem riesigen asphaltierten Platz - sie an die Rückwand des Gebäudes gepresst, die Beine um ihn geklammert, er vor ihr, der feste kleine Hintern heftig stoßend -, aber er machte keine Anstalten dazu. Sie musste wohl noch weiter an ihm graben. Manche von den Typen waren aber auch zu tugendhaft. Vielleicht würde es ihm die Sache erleichtern, wenn sie zuerst ein bisschen Gras mit ihm rauchte. Timo hatte ewig gebraucht, um zwei Joints zu drehen. Oft hatte er das anscheinend noch nicht gemacht.
Als Nina spürte, wie ihre Gedanken begannen, Karussell zu fahren, hatte sie ihn ein bisschen angeheizt. Daran erinnerte sie sich noch zu gut. Er war allmählich munter geworden und hatte mitgemacht, sodass ihre Hoffnung, den Richtigen für diese Nacht ausgewählt zu haben, wuchs. Schließlich wollte sie nicht das ganze Wochenende hier zubringen.
Nina rutschte ein bisschen an der Wand nach unten und zog die Beine an. Ihr Rücken schmerzte. Und es war bitterkalt. Fast genauso kalt, wie auf diesem dämlichen Parkplatz vor dem Nacht- werk am Sonnabend. Nachdem sie eine ewige Viertelstunde an dem Typen herumgemacht hatte, gab Nina ihre Hoffnung, er würde gleich hier über sie herfallen, auf. Der Kerl war anscheinend zu feige dazu. Allmählich kroch ihr die Kälte auch unter die Klamotten. Aber einen Versuch hatte er noch. Sie würde ihm das Auto anbieten. Wie immer hatte Nina in einer abgelegenen Ecke geparkt, wo es schön dunkel war. Und wenn jemand ihr beim Ficken zusehen wollte - auch gut. Das törnte sie an. Sie nahm die Typen nie mit zu sich nach Hause, nie seit mindestens zwei Jahren. Schlechte Erfahrungen. Wenn sie erst wussten, wo sie wohnte, klebten manche von ihnen an ihr wie Kletten. Der Parkplatz, eine von den Toiletten im Nachtwerk oder das Auto taten es genauso gut.
Aber zuerst hatte sie dringend pinkeln gemusst, und weil sie trotz der Kälte zu faul gewesen war zurückzugehen, hatte sie beschlossen, sich gleich in das dunkle Gestrüpp des Wäldchens am Rande des Parkplatzes zu begeben. In der Finsternis konnte sie eh keiner sehen. Und den Rest Schamgefühl erledigte der Joint, den sie vor ein paar Minuten geraucht hatte. »Ich komme gleich wieder, lauf nicht weg«, hatte sie mit ihrer heiseren Stimme zu dem Typen gesagt und war über den glatten Asphalt in Richtung der Sträucher getaumelt. Sie war nicht weit in das Wäldchen hineingelaufen, nur ein paar Meter, und hatte sich dann umgedreht, sodass sie den Parkplatz und die dunkelgelben Lichtkreise der Bogenlampen sehen konnte. Nachdem sie vor dem Herunterlassen der Hose die Hosenbeine bis zu den Waden hochgewurstelt hatte, damit sie nicht aus Versehen nass wurden, hatte Nina sich hingehockt. Ihr »Date« stand brav an der seitlichen Ecke und wartete. Ab und zu hob er eine Zigarette - oder war es ein neuer Joint? - und sog daran.
Nina erinnerte sich an das Geräusch ihres Urinstrahls auf den vertrockneten Blättern. Gleichzeitig hatte sie gesehen, wie der Typ einer Dampflok gleich weiße Wölkchen in die Nacht blies. Sie erinnerte sich auch noch daran, wie sie sich mit zwei Tempotaschentüchern abgewischt hatte und dass sie zwei Schritte nach vorn gegangen war, ehe sie die Hose hochgezogen hatte. Das war alles.
Danach war nichts als Schwärze. Weder fiel ihr ein, wie sie auf den Parkplatz zurückgelangt war; noch, ob sie ihr Vorhaben wahr gemacht und sich im Auto von diesem Timo hatte ficken lassen. Leer, leer, leer war ihr Kopf, nichts als eine hohle Nussschale voller Luft.
Nina dachte noch ein paar Sekunden lang über den Abend nach, aber sosehr sie sich auch bemühte, mehr wollte ihr nicht einfallen. Sie schob sich wieder ein bisschen nach oben. Inzwischen brannte nicht nur ihr Rücken, sondern auch ihr Hintern vom Sitzen auf dem harten Boden.
Sie war im Nachtwerk gewesen und hatte einen Typen kennengelernt. Und dann hatte irgendjemand sie gefesselt und eingesperrt. Und nun sollte sie Buße tun, wofür auch immer.
Ob irgendein verschmähter Liebhaber sie hier gefangen hielt? Zur Strafe, weil sie nach einem Fick nichts mehr von ihm hatte wissen wollen? Sollte sie etwa das bereuen? Dieser Timo war jedenfalls nicht ihr Entführer, da war sie sich ziemlich sicher.
Die Stimme hatte gesagt, sie habe gesündigt und wenn sie einsichtig sei, könne sie sich viel Leid ersparen. Nina beschloss, sich darauf einzurichten. Wenn der Typ mit der barschen Stimme wiederkam, würde sie ihn als Erstes um Entschuldigung bitten. Mal sehen, wie er reagierte. Nina Bernstein hatte nicht wirklich Angst vor dem, was kommen würde. Bis jetzt war sie noch jeder Situation gewachsen gewesen. Sie atmete die modrige Luft tief ein und stieß sie mit einem Pfeifen wieder aus. Die Stimme hatte nicht verkündet, wann ihr Besitzer wieder auftauchen würde. Es konnte Minuten oder Stunden dauern, wer wusste das schon. Aber sie musste ja nicht regungslos hier sitzen bleiben und darauf warten, dass ihre Muskeln komplett einrosteten. Nina beschloss, ihre Umgebung zu erkunden. Auch mit den Fesseln war sie nicht völlig bewegungslos. Sie konnte umherkriechen und alles abtasten.
Langsam zog sie die Beine an und wartete kurz, bis der Schmerz sich etwas verflüchtigt hatte. Dann rollte sie sich zur Seite, verlagerte das Gewicht auf die Knie und ließ den Körper sich stabilisieren. Es war gar nicht so einfach aufzustehen, wenn einem die Hände auf dem Rücken festgebunden waren, aber sie schaffte es. Auch das Vorwärtskommen gestaltete sich schwieriger als Nina gedacht hatte. Mit winzigen Schritten schob sie sich in den Raum hinein. Eigentlich glich es mehr einem wackligen Hüpfen denn einem Laufen. Normalerweise hätte sie die Arme nach vorn ausgestreckt, um Hindernisse rechtzeitig zu ertasten. Die Gefahr, dass sie sich den Kopf anstoßen würde, war groß, und Nina beschloss rückwärtszutrippeln, die gefesselten Arme ein paar Zentimeter vom Rücken weggestreckt.
Die Kälte kniff in Gesicht und Hals. Wenn sie richtig fühlte, trug sie lediglich ihre Jeans und das Top, darunter war nur nackte Haut. Wie immer samstags. Auf Unterwäsche verzichtete Nina beim Ausgehen konsequent - sie störte nur. Ihre wattierte Jacke, der Schal und die Handschuhe fehlten. Vielleicht hingen sie noch immer an der Garderobe im Nachtwerk. Was dafür sprach, dass sie direkt vom Parkplatz der Disco aus hierhergekommen war. Jetzt berührte ihre rechte Handfläche etwas Festes und sie rückte noch ein wenig dichter an die Wand heran. Vorsichtig rutschten die Finger über feuchtkalte Steine, ertasteten eine schmale Fuge, fuhren die unregelmäßige Einkerbung nach. Eine Natursteinmauer. Nina lehnte sich an und öffnete den Mund. Ihr »Ist da jemand? « hallte wider. Was war das hier, eine Gruft? Sie beschloss, sich seitwärts an der Wand entlang zu bewegen. Es musste einen Ausgang geben, irgendwo befand sich eine Tür. Die Stimme mitsamt dem dazugehörigen Körper musste ja schließlich an irgendeiner Stelle hereingekommen sein. Behutsam schob sie sich weiter nach rechts. Nach vierzehn Schrittchen war Schluss. Ninas Schulter stieß an eine weitere Wand. Eine Ecke des Raumes? Sie wollte sich gerade in Position bringen, um den Winkel zu überwinden, als ein leises Geräusch über ihre Haut fuhr wie eine Klinge. Das feine Klicken ließ Nina die Luft anhalten, und als das gleiche Quietschen wie vorhin ertönte, wusste sie, dass die Stimme zurückgekommen war.
»Hoppla! Was haben wir denn da?«
Nina vermeinte, einen ironischen Unterton herauszuhören, aber es konnte genauso gut sein, dass sie sich das nur einbildete. Wenigstens hatte er nicht zornig geklungen. War das ein gutes Zeichen?
»Du brauchtest wohl Bewegung?« Die Stimme kam näher, säuselte. Nina konnte Pfefferminz riechen.
»Ich ... ich ... ich möchte mich entschuldigen.« Sie versuchte ein verlegenes Lächeln, hoffte, dass es echt aussah, und bedauerte gleichzeitig, nichts sehen zu können.
»Du willst dich entschuldigen?« Jetzt klang er überrascht. »Wofür? « Die Stimme war jetzt ganz dicht vor ihr, und Nina fühlte, wie sich die kleinen Härchen an ihren Armen aufrichteten.
»Falls ich Sie gekränkt habe.« Reichte das?
»Mich gekränkt?« Ein feines Prusten. Nina spürte, wie sich ein leichter Nebel auf ihre nackten Unterarme senkte. »Wie kommst du denn darauf?«
»Ich ... äh ... na ja. Kennen wir uns eigentlich?« Die ganze Zeit hatte Nina versucht herauszufinden, ob sie dem Mann, dem die Stimme gehörte, schon einmal begegnet war, aber ihr Gehirn hatte nichts zutage gefördert. Wenn er aber nicht zu den Verflossenen gehörte, die sich mehr von ihr erhofft hatten, woher kannte er sie dann? Oder schlimmer - kannte er Nina Bernstein womöglich gar nicht? War sie ein Zufallsopfer? Was sollte aber dann der Scheiß mit der »Buße«? Das setzte doch voraus, dass sie etwas getan hatte, das er der Sühne würdig fand. Und wie konnte er so etwas wissen, wenn er sie vorher noch nie getroffen hatte? Nina schüttelte ihren Kopf, um die Gedanken zu sortieren.
»Ich weiß nicht, was diese Fragen sollen. Hast du über deine Sünden nachgedacht?« Nina spürte seinen Pfefferminzatem über ihre Haut streichen und fror.
»Ich weiß wirklich nicht, was Sie meinen.« Sie musste ihrem Satz keinen kläglichen Unterton geben. Den hatte er von ganz allein.
»Jetzt ist es aber genug!« Mit einem Mal hatte sich die Stimme von einem sanften Wispern zu einem Grollen erhoben. »Treib keine Spielchen!«
Nina schwieg, während sie fieberhaft nachdachte. Der Inhaber der Stimme schien sie zu beobachten, schien auf etwas zu warten. Sie spürte alles gleichzeitig: die Steine in ihrem Rücken, den unebenen Boden unter ihren Schuhsohlen, das kratzige Gewebe der Augenbinde, die unnachgiebigen Fesseln an den Handgelenken.
Bis jetzt hatte ihr Kerkermeister nur Forderungen gestellt, ihr jedoch außer dem Stoß vorhin und den Fesseln keine Gewalt angetan. Vielleicht würde er sie wieder freilassen, wenn er mit ihr fertig war. Wenn sie das getan hatte, was er von ihr verlangte. Allerdings wusste Nina noch immer nicht, was das eigentlich sein sollte. Buße wofür? Noch immer schwieg die Stimme, und die Kälte kroch ihr allmählich in die Knochen. »Ich weiß wirklich nicht, was Sie erwarten. Bitte helfen Sie mir doch auf die Sprünge, dann mache ich, was Sie wollen.« Nina hasste sich für das Flehen in ihrer Stimme.
Sollte sie ihm Sex anbieten? War es das, auf das er scharf war? Er war ein Mann. Männer mochten Sex. Fesselspielchen, Sadomaso. Nichts einfacher als das. Darin war sie Spitze. Der Pfefferminzgeruch wurde wieder stärker, während Nina noch überlegte, ob es klug war, ihm ihren Körper anzubieten.
»Du stellst dich dumm an. Dümmer, als ich dachte.« Jetzt stand er direkt vor ihr. Sie konnte sein stoßweises Atmen im Gesicht spüren, wenn er redete.
»Wollen Sie mit mir schlafen?« Nina überlegte noch, warum sie das Wort »ficken« nicht herausbrachte, wo es doch sonst zu ihrem alltäglichen Sprachgebrauch gehörte; und warum sie den Typen mit »Sie« ansprach, als ein gackerndes Geräusch sie zurückzucken ließ. Es dauerte einige Sekunden, bis sie es einordnen konnte. Der Typ lachte.
»Nina, Nina ...« Er schien den Kopf zu schütteln. »Das ist ja gerade das Problem.« Sein meckerndes Lachen verebbte. Die Stimme entfernte sich jetzt wieder, wobei er vor sich hin murmelte. »Du begreifst es nicht. Wenn du ein bisschen nachgedacht hättest, wüsstest du vielleicht, was du falsch gemacht hast, aber anscheinend denkst du zu wenig.« Jetzt näherte er sich wieder. »Aber wir haben genug Zeit. Vielleicht fällt es dir noch ein.« Nun stand er wieder direkt vor ihr. »Ich öffne jetzt die Fesseln an deinen Handgelenken. Komm aber nicht auf dumme Gedanken. Dreh dich bitte um.« Nina gehorchte. Womöglich war das ihre Chance. Und er hatte »bitte« gesagt. Die Wand vor ihrem Gesicht dünstete klamme Steinluft aus. Der Typ fummelte hinter ihrem Rücken an den Fesseln herum. Seine Finger waren warm und weich. Nina konnte fühlen, wie die enge Schnürung an den Gelenken sich löste. Die Haut brannte ein bisschen, aber das würde vergehen. Hoffentlich ließ er ihr die Augenbinde. Solange sie ihn nicht sah, konnte sie sich an die Hoffnung klammern, dass er vorhatte, sie freizulassen. Nachdem er hatte, was er wollte. Was auch immer das sein mochte.
»Jetzt ziehst du das Oberteil aus.«
»Ausziehen?«
»Was ist daran nicht verständlich? Zieh das Shirt aus. Jetzt!« Er hob die Stimme ein wenig, und Nina beeilte sich zu tun, was er verlangte. Wenn er ihre Brüste sehen wollte - gut. Sie waren einen Blick wert. Nina streifte das Top über den Kopf, ließ es an der Augenbinde vorbeirutschen, doch die verschob sich um keinen Millimeter. Das Oberteil in der Rechten blieb sie mit dem Gesicht zur Wand stehen und atmete den Modergeruch ein, während sie auf weitere Anweisungen wartete. Ihr ganzer Körper erschauerte, als seine Fingerspitzen sich auf ihren nackten Rücken legten und dann sanft von oben nach unten glitten. »Sehr schön.«
Die Hände lösten sich. Nina zitterte ein bisschen. Jetzt spürte sie wieder, wie kalt es in diesem Raum wirklich war. Pfefferminzduft wogte heran.
»Hör mir zu. Links neben dir ist eine Matratze. Du legst dich jetzt bitte darauf. Mit dem Gesicht nach unten.«
Aha, jetzt kam es. Er wollte sie doch ficken. Nur dass er dauernd »bitte« sagte, machte Nina ein bisschen Angst. Sie trippelte ein wenig nach links, bis die Fußspitzen an ein Hindernis stießen, und kniete dann nieder. »Soll ich meine Hose auch ausziehen? « In der sie umgebenden Dunkelheit fand Nina, dass sie sich wie eine Dreijährige anhörte.
»Nein. Mach den Reißverschluss auf, das sollte reichen.«
Nina fragte sich, wie er es anstellen wollte, sie zu vögeln, wenn sie die Jeans noch anhatte, während sie an dem Metallknopf nestelte. Ihre Finger flatterten, es schien Stunden zu dauern, und doch wartete der Typ geduldig, bis sie endlich so weit war.
»Und nun leg dich auf den Bauch.« Sie bekam einen leichten Stüber und kippte nach vorn.
»Beine gerade, Arme an die Seiten.« Nina tat, wie ihr geheißen. Die Matratze roch auch muffig. Sie drehte den Kopf zur Seite, um besser atmen zu können. Als seine Hände ihren Hosenbund berührten, sog sie scharf die Luft ein.
»Halt schön still. Es wird nicht wehtun.« Er streichelte über ihren Rücken, und Nina unterdrückte ein Zähneklappern.
Neben ihr klimperte es, dann begann ein feines Surren. Das Geräusch war ihr völlig unbekannt. Was machte der Typ da? Als er sich mit einem Ächzen über sie schwang, hielt Nina für ein paar Sekunden die Luft an und wappnete sich gegen das, was jetzt gleich kommen würde. Aber er blieb einfach auf ihrem Hinterteil sitzen und machte keinerlei Anstalten, ihr die Hose abzustreifen. Lediglich den Bund schob er etwas nach unten. Das schwirrende Geräusch wurde lauter. Der Typ rutschte ein wenig nach oben und legte ihr eine warme Handfläche auf das linke Schulterblatt. »Es geht jetzt los. Nicht zappeln, Nina.«
»Ich verstehe nicht ...«
»Das musst du auch nicht. Halt einfach still, umso schneller ist es vorbei.«
Das Surren war jetzt ganz dicht über ihr, dann begann es unter ihrem linken Schulterblatt zu kribbeln, als liefen hunderte von Ameisen winzige Kreise. Nach einigen Minuten verstummte das Brummen für einen Moment und etwas wischte mit reibenden Bewegungen über die Haut. Dann begann es von neuem. Die Ameisenarmee arbeitete sich allmählich nach rechts vor. Nina war sich nicht ganz sicher, aber es hörte sich an, als würde das Surren von einem steten Raunen untermalt, als begleite ein gemurmelter Singsang das mechanische Geräusch wie eine Liturgie.
Die Prozedur schien sich über Stunden hinzuziehen. Aber vielleicht waren es auch nur Minuten, Nina verlor irgendwann jegliches Zeitgefühl. Als das Surren plötzlich verstummte, schien die Stille zu rauschen. Noch einmal wischte weicher Stoff in kreisenden Bewegungen über Ninas Rücken. Die Muskeln an ihrem Hintern, die Nina die ganze Zeit angespannt hatte, waren taub. Das Gewicht des Typen fühlte sie wie einen dumpfen Schmerz.
»Bleib liegen!« Er löste sich von ihr und erhob sich. Nina bewegte behutsam ihre Finger. Doch noch ehe sie dazu gekommen war, einen Plan zu schmieden, war er schon wieder über ihr.
Erst jetzt wurde es Nina bewusst, dass die Haut des Rückens heiß war, sie glühte wie bei einem leichten Sonnenbrand. Es knisterte, dann legte sich etwas Kaltes, Glattes auf ihren Rücken, wurde an den Seiten fest angedrückt. »So. Teil eins.« Die Stimme klang irgendwie erleichtert. »Setz dich und zieh dein Shirt wieder an.«
»Ich kann nicht.« Nina war paralysiert. Ihre Muskeln waren vom langen Liegen in der gleichen Position wie gelähmt.
»Stell dich nicht so an!« Dass der Typ nicht einmal die Stimme hob, jagte Nina ein bisschen Angst ein. Während sie auf das feine Kribbeln wartete, das anzeigte, dass das Leben in ihre Arme und Beine zurückkehrte, versuchte sie die Geräusche im Hintergrund zu analysieren. Er packte etwas ein, summte dabei eine Melodie. Als sie gerade dachte, dass es ihm egal zu sein schien, wie lange sie brauchte, kam er zurück, ließ sich direkt neben ihr niederplumpsen, griff nach ihren Schultern, drehte sie mit einem Ruck um und zerrte sie dann. »Hoch mit dir, Schlampe!«
Als sie saß, ließ er los und warf ihr das Top in den Schoß. »Anziehen! «
Nina gehorchte wortlos. Der Stoff rutschte über ihren Kopf nach unten und glitt über den Rücken, an dem eine Art Folie zu kleben schien.
»Hände auf den Rücken!«
»Aber ...«
»Diskutier nicht!«
Während er ihre Arme wie vorher auf dem Rücken fesselte, dachte Nina darüber nach, was er wohl als Nächstes mit ihr vorhatte, aber ihr Kopf gab nichts her.
»Du kannst hier sitzenbleiben oder dich hinlegen, wie du magst. Wenn ich wiederkomme, machen wir weiter.« Er drückte ihr mit dem Daumen gegen die Stirn und entfernte sich dann.
»Lassen Sie mich doch hier nicht allein!«
»Du hast eine Aufgabe. Ich habe es dir beim letzten Mal schon gesagt. Du sollst büßen. Und du musst aufrichtig sein, und nicht nur so tun. Ich erkenne den Unterschied.«
»Ich habe Durst! Und ich muss zur Toilette!«
»Daran kann ich momentan nichts ändern.« Das Scharnier quietschte. »Ich empfehle dir nachdrücklich, über meine Worte nachzudenken.« Es klickte, dann war es still.
Nina lauschte in die Finsternis. Sie hatte es eben nicht nur so dahingesagt. Sie war durstig und ihre Blase drückte. Und sie fror. Was hatte er mit ihrem Rücken angestellt? Wie lange würde der Typ wegbleiben? Und was würde er mit ihr machen, wenn er zurückkam?
2
»Lasst uns nun singen.« Der Mann mit dem weißen Umhang breitete die Arme aus und ließ seinen Blick über die Gemeinde gleiten. Er bemühte sich dabei, jeden Einzelnen anzusehen. Ehrfürchtig saßen seine Schäflein in ihren Stuhlreihen und blickten nach vorn. Aus ihrer Perspektive wirkte Romain Holländer wie die Christusstatue auf dem Corcovado in Rio de Janeiro, nur dass seine Haare nicht so lang waren. Konrad, der neue Altardiener, sang einen einzelnen klaren Ton in die Stille und stimmte so an.
Romain Holländer schloss die Augen. Sein sonorer Bass übertönte den Chorus, genau so, wie es sein sollte. Er wusste um seine Wirkung. Besonders eindrucksvoll war die Szenerie an einem Tag wie heute, wenn die Sonne hereinschien. Das Licht fiel durch das Ornamentfenster hinter ihm und zeichnete saphirblaue, flaschengrüne und granatrote Muster auf das weiße Gewand. Gleichzeitig fluteten die farbigen Strahlen um seinen Hinterkopf und verliehen ihm eine Art Heiligenschein. Die Markierung am Boden, auf die er sich stellen musste, um diesen Effekt zu erzielen, war fast unsichtbar, und Romain Holländer glaubte nicht, dass sie überhaupt schon einmal jemandem aufgefallen war. Eigentlich brauchte er das Kreuzchen auch gar nicht. Die Riten verliefen seit Jahren immer gleich, ob es nun Sonntags- oder Wochentreffen waren.
Er sang etwas lauter und schielte dabei durch die halbgeschlossenen Lider auf die Gemeinde; prüfte die Gesichter, forschte, ob alle dem Auf und Ab der Töne folgten. Ablenkung war Sünde. Meist beichteten die Betreffenden ihre Verfehlungen von selbst und suchten sich auch selbst eine Bestrafung aus, aber es konnte nichts schaden, sie trotzdem zu kontrollieren. Dieses Mal schien niemand unaufmerksam zu sein. Viele hatten wie ihr Führer die Augen geschlossen, manche wiegten sich im Takt hin und her.
Auch die Kinder bemühten sich. Die ganz kleinen, die Texte und Melodien noch nicht beherrschten, saßen andächtig auf dem Schoß von Mutter oder Vater, die größeren versuchten mitzusingen. Keines von ihnen zappelte, weinte oder plapperte dazwischen, obwohl die Sonntagsandacht manchmal von sechs Uhr früh bis zur Mittagsspeisung dauerte. Es schien Romain, als begriffen sie instinktiv die Bedeutung der Treffen und wollten ihren Eltern keine Schande machen.
Romain Holländer war zufrieden. Heute hatte keiner von ihnen Tadel verdient. Er ließ die letzten Töne verhallen und öffnete die Augen ganz langsam, als erwache er gerade aus einer tiefen Trance. Dann schenkte er der Gemeinde ein inniges Lächeln und senkte bedächtig die segnenden Arme. Den Blick auf die vertäfelte Wand hinter den Stuhlreihen gerichtet, zählte er bis zehn, ehe er sprach.
»Ich danke euch. Es ist ein wunderbares Gefühl, wenn sich alle im Gesang vereinen. Der heutige Sonntag ist ein gesegneter Tag für uns alle. Wir wollen nun voller Freude die Botschaft der Woche hören.« Die Menschen vor ihm falteten die Hände, die Kinder taten es ihnen nach. Romain Holländer gab Konrad ein Zeichen, und während er zu predigen begann, schritt der Junge durch die Reihen und schwenkte das silberne Gefäß von links nach rechts, darauf bedacht, den weißen Rauch gleichmäßig zu verteilen.
Insgeheim gab Romain Holländer zu, dass er das mit dem Räucherwerk von den Katholiken geklaut hatte. Angeblich hatte ja schon der reine Weihrauch einen leicht halluzinogenen Effekt, aber er verwendete zusätzlich noch andere Essenzen. Substanzen, die in Deutschland gar nicht erhältlich waren. Die Beimengungen hatten eine leicht narkotische Wirkung, beruhigten die Gedanken, machten den Kopf leer und schufen so Platz für seine Worte.
Seine Schäfchen wussten davon nichts. Sie fühlten lediglich, dass der Rauch sie beruhigte, dass er ihnen Wohlbehagen schenkte und sie ein wenig schläfrig zurückließ. Auch Romain Holländer spürte die Wirkung. Er liebte es, wenn sich die Gedanken in seinem Kopf zu machtvollen Gebilden formten, wenn die Sätze wie Perlenschnüre aus seinem Mund glitten und sich um die Köpfe der Gemeindemitglieder wanden. Manchmal überflutete ihn die Macht der Worte so stark, dass er Stunden um Stunden predigte, um danach wie eine hohle Spielzeugfigur in die glasigen Augen seiner Gemeinde zu starren.
Heute hatte er Konrad den Auftrag gegeben, die große Silberkugel nur in den Reihen der Zuhörer zu schwenken, denn heute durfte die Predigt nicht bis in die Nachmittagsstunden dauern. Romain Holländer hatte noch einiges vor an diesem wunderbaren Sonntag im Februar.
Nach einer guten Stunde beendete er seine Rede mit einigen metaphorischen Verweisen auf die Nützlichkeit ihres Tuns, wobei er die Stimme lauter und lauter werden ließ, um die Schäfchen sanft aus ihrer Entrückung zu erwecken. Nachdem alle die Augen wieder geöffnet hatten und nach vorn schauten, stimmte er die Schlusslitanei an. Das einsetzende Gemurmel rollte wie ein ferner Donner durch den Raum.
»Und nun gehet zur Sonntagsspeisung. Ich werde euch alsbald folgen.« Die erhobenen Arme winkten die Schäfchen hinaus. Romain Holländer lächelte sein sanftmütiges Lächeln. Er liebte diese schwülstigen Formeln. Sie hoben sich von der Alltagssprache ab und zeigten, dass es hier um etwas Besonderes ging.
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Autoren-Porträt von Claudia Puhlfürst
Claudia Puhlfürst, Jahrgang 1963, stammt aus Zwickau, wo sie nach wie vor lebt. Das Spezialgebiet von Claudia Puhlfürst ist die Humanethologie (menschliches Verhalten), insbesondere die nonverbale Kommunikation. Wenn sie nicht gerade schreibt, arbeitet sie als Schulberaterin für den Duden Schulbuchverlag. Zudem ist sie Organisatorin der Ostdeutschen Krimitage, Mitglied im Syndikat und bei den Mörderischen Schwestern, dem deutschen Ableger der amerikanischen Sisters in Crime.
Bibliographische Angaben
- Autor: Claudia Puhlfürst
- 2012, 415 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442376971
- ISBN-13: 9783442376971
Rezension zu „Sündenkreis “
"Eine Autorin, die ihr Handwerk des Suspense seit ihrem Erstlingswerk vor zehn Jahren in bestem Hitchcockschem Sinne gelernt hat."
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