Teuflisches Genie
Teuflisches Genie von Catherine Jinks
LESEPROBE
Als Cadel zu seinem nächsten Termin erschien, bemerkte er einen sonderbaren kleinen Bildschirm auf Dr. Roths Schreibtisch. Er war an ein sehr kleines Elektronikgehäuse angeschlossen, aus dem mehrere dünne Drähte hingen. Thaddeus führte Cadel zu einem Stuhl vor dem Gerät und begann, mit Anschlüssen zu hantieren und Frequenzen einzustellen. Cadel beobachtete ihn mit der reglosen Aufmerksamkeit eines sprungbereiten Leoparden.
Nach etwa fünf Minuten drang ein knackendes Geräusch aus dem Plastikgehäuse. »Ah«, sagte Thaddeus und rieb sich die Hände. Der Bildschirm vor Cadel leuchtete auf.
Ein Gesicht erschien, um sofort wieder in seine Einzelteile zu zerfallen. Statisches Rauschen war zu hören.
»Verdammt«, knurrte Thaddeus.
»Kommt das über Relaisstationen?«, erkundigte sich
Es war ein ziemlicher Schock.
»Gütiger Himmel!«, krächzte eine körperlose Stimme.
»Hören Sie uns?«, fragte Thaddeus. »Dr. Darkkon?«
»Ich sehe ihn«, antwortete die undeutliche Stimme. »Das ist Cadel, nicht wahr?«
»Genau«, sagte Thaddeus und versetzte Cadel einen leichten Stoß in die Seite. »Sag was, Cadel.«
Doch Cadel war sprachlos. Der Empfang war nicht gerade einwandfrei, und die Farben stimmten nicht; das Gesicht seines Vaters sah bläulich aus. Es klebte wie ein großer Luftballon am Bildschirm und bewegte sich unkontrolliert bei jedem Atemzug. Erst sah Cadel das eine Auge, dann das andere, beide von einem Netz tiefer Falten umgeben. Dr. Darkkon hatte ein Froschmaul und zahlreiche Leber. ecke. Sein Gesichtsausdruck wirkte hungrig, sein Atem ging schnaufend. »Cadel«, gurrte er. »Cadel. Ich kann es kaum glauben. Du bist deiner Mutter wirklich wie aus dem Gesicht geschnitten. Thad, ist das nicht unglaublich? Er ist fast ihr Doppelgänger.«
»Mh-hm«, machte Thaddeus.
»Wie geht es dir, Cadel? Thad meinte, dass du in letzter Zeit viel Spaß hattest.« Er grinste durchtrieben. »Dass du mit U-Bahnen gespielt hast.«
Cadel schluckte. Dann nickte er und befeuchtete sich die Lippen. Er wusste nicht, was er sagen sollte. (Dieser Mann war sein Vater!) »Und mit Computern«, fügte Dr. Darkkon hinzu. »Du magst Computer, nicht wahr?«
Cadel räusperte sich. »Ich … ich darf eigentlich keine Computer benutzen«, stammelte er. »Nicht so, wie ich es gerne würde.« »Ich weiß. Das tut mir leid.«
»Sie haben mir sogar meinen eigenen Computer weggenommen!« Dr. Darkkon schüttelte den Kopf und schnalzte mit der Zunge. »Eine Schande«, murmelte er.
Cadel beschloss, nicht weiter herumzudrucksen. »Kannst du mir einen neuen kaufen?«, fragte er mit brüchiger Stimme. Nach so vielen verpassten Geburtstagen war sein Vater ihm einen Computer schuldig. Das war das Mindeste. »Ich habe gehört, dass du sehr reich bist.«
»Das bin ich, aber …«
»Kann ich einen mit DNS-Schaltkreisen haben?«
»Cadel, so einfach ist das nicht«, unterbrach ihn Dr. Darkkon behutsam. Sein Gesicht ruckte auf dem Bildschirm umher. »Ich wünschte, ich könnte dir einen Computer schenken, aber wenn ich das täte, würden die Piggotts sich fragen, wo er plötzlich herkommt.«
»Ich könnte ihn verstecken. Wenn er klein genug wäre. Wenn er DNS-Schaltkreise hätte.«
Dr. Darkkon lachte.
»Zu riskant«, gab Thaddeus zu bedenken. »Was wäre, wenn sie ihn . nden? Die Sache würde bekannt werden. Computer. rmen würden sich dafür interessieren. Plötzlich würde die halbe Welt bei dir vor der Tür stehen, Cadel, und das willst du bestimmt nicht.«
»Nein, das willst du ganz sicher nicht«, stimmte Dr. Darkkon zu. »Wenn ich etwas gelernt habe, Cadel, ist es, dass man sich bedeckt halten muss. Du solltest niemals zu viel Aufmerksamkeit auf dich lenken. Nimm dir ein Beispiel an Thaddeus - er hat sich immer unauffällig verhalten.«
»Das ist eine ganz eigene Kunst«, gab Thaddeus bescheiden zu. »Aber ich will einen Computer!«, protestierte Cadel. Tränen schossen ihm in die Augen. Er hatte gehofft, dass das plötzliche Auftauchen seines Vaters all seine Probleme lösen würde. »Warum willst du mir keinen geben?«
»Weil das überhaupt nicht nötig ist«, erklärte Dr. Darkkon. Seine Stimme war nicht angenehm - ganz anders als die von Thaddeus. Dr. Darkkons Stimme war hoch, kratzig und nasal, und die Störgeräusche des Senders machten es nicht besser. »Jemand, der so intelligent ist wie du, mein Junge, sollte nicht alles auf dem Silbertablett serviert bekommen, selbst wenn es möglich wäre. Überleg mal. Denk nach. Finde eine Lösung. Es gibt nichts, was du nicht bekommen könntest, wenn du dich schlau genug anstellst.« Mit einer Handbewegung, die Farbblitze über den Bildschirm zucken ließ, fügte er hinzu: »Schau mich an! Sie haben versucht, mir meinen Sohn wegzunehmen, und es ist ihnen nicht gelungen. Ich bin zu schlau für sie. Warum sollte es bei dir anders sein?«
»Weil ich nicht erwachsen bin«, gab Cadel schmollend zurück. »Weil ich kein Milliardär bin. Weil ich kein internationales Finanzimperium kontrolliere.«
Dr. Darkkon gluckste. Es klang wie Wasser in einem Abflussrohr. »Mach dir keine Sorgen, mein Junge«, sagte er und grinste ihn über viele Meilen hinweg an. »Schon bald wirst du all das sein. Das garantiere ich dir.«
Und mit diesem Versprechen musste Cadel sich zufriedengeben. Dr. Darkkon weigerte sich standhaft, ihm einen Computer zu schenken. Mehr noch, obwohl Cadel sich die größte Mühe gab, gelang es ihm nicht, auch nur den bescheidensten Laptop für mehr als anderthalb Tage zu behalten, weil seine Zurückgezogenheit sofort die Piggotts alarmiert hätte. Es war, als könnten sie riechen, wie die Elektroden feuerten.
Aber dank der Ermutigung durch Thaddeus und Dr. Darkkon erreichte er eine ganze Menge anderer Sachen. Die beiden eröffneten Cadel eine neue Welt. Der ersten Unterhaltung folgten zahlreiche weitere. Cadel, Thaddeus und Dr. Darkkon besprachen alles Mögliche, vom Glücksspiel bis zu internationalen Zollbestimmungen. Cadels verschiedene Hobbys wurden ausgiebig erörtert. Seine Pläne fanden Zuspruch, und immer wieder steuerten die Erwachsenen hilfreiche Ideen bei. Tatsächlich war es Dr. Roths Rat zu verdanken gewesen, dass Cadel überhaupt Interesse für das Straßensystem von Sydney entwickelt hatte - angesichts seiner organisch gewachsenen und zufälligen Natur ein weitaus komplexeres und schwerer durchschaubares Netzwerk als die U-Bahn-Linien. Insbesondere Staus waren eine große Herausforderung für Cadel. Nach und nach wurde ihm klar, dass ein Verkehrsstau mehr war als die Summe der beteiligten Fahrzeuge. Im Gegenteil, genauso wie ein menschlicher Körper all seine Zellen durch neue ersetzen konnte und trotzdem der gleiche menschliche Körper blieb, so konnte sich auch die Zusammensetzung eines Staus durch abfahrende und hinzukommende Autos völlig ändern, ohne dass er dadurch zu einem grundlegend anderen Stau wurde.
»Genau wie meine Eltern«, bemerkte Cadel einmal gegenüber Thaddeus. »Man könnte sie durch zwei völlig andere Menschen ersetzen, und trotzdem wären sie meine Eltern.«
»Deine Adoptiveltern«, korrigierte Thaddeus ihn.
»Von mir aus.«
»Meinst du damit, dass sie nie für dich da waren?«
»Praktisch nie.«
»Aber daran ist doch eigentlich nichts auszusetzen, oder?«
»Wahrscheinlich nicht.«
»Wenn sie mehr für dich da wären, würde ihnen vielleicht auffallen, wie sehr du dich neuerdings für die Verkehrsmeldungen im Radio interessierst. Ganz abgesehen von deiner Beschäftigung mit Automobiltechnik.«
Cadel brummte nur. Obwohl er es gewohnt war, im riesigen Piggott- Haus mit den sechs Schlaf- und fünf Badezimmern herumzutoben und sich am Ende der langen, begrünten Auffahrt zu ver ste cken, wurde er dennoch nie das Gefühl los, dass er mehr Aufmerksamkeit verdient hatte. Nicht unbedingt von Seiten Mr. Piggotts - der ein Rädchen im Getriebe seiner Firma war und sich hauptsächlich für Anlagensicherung interessierte -, aber von Mrs. Piggott, die eigentlich Cadels Mutter hätte sein sollen. Manchmal fragte er sich, warum sie überhaupt ein Kind adoptiert hatte, doch dann fiel ihm ein, dass all ihre Freundinnen Kinder hatten (abscheuliche Kinder, wie Cadel hatte feststellen müssen). Es war durchaus denkbar, dass Mrs. Piggott, die Raumausstatterin war, sich einfach nur im eigenen Haus an einem Kinderzimmer versuchen wollte. Auf jeden Fall hatte sie Cadels neuestes Schlafzimmer verschwenderisch ausgestattet: An den Wänden hatte sie blaue und senffarbene Spielzeugkisten gestapelt, dazu hatte sie einen runden »Dartscheibenteppich« entworfen und ein kleines, altes Holzboot zu einem Kleiderschrank umgebaut. Offenbar interessierte sie sich mehr für Cadels Schlafzimmer als für den Jungen selbst.
Cadel, der sich in seinem Zimmer nicht besonders wohl fühlte, verbrachte die meiste Zeit in der Bibliothek und im kleinen Gästehaus an der Südseite des Swimmingpools. Dort war die Farbgebung zumindest halbwegs erwachsen, und die Anordnung der Möbel strahlte eine gewisse Ruhe aus. Von den bunten Farben in seinem Schlafzimmer tränten ihm die Augen, und all die Plüschbauklötze, das Lernspielzeug und die Bettwäsche mit den aufgedruckten Segelschiffen trieben ihn an den Rand des Wahnsinns. Cadel war in seinem ganzen Leben auf keinem Segelschiff gewesen. Er hatte auch nichts dergleichen vor. Es war, als würde er im Zimmer eines anderen Jungen schlafen.
Cadel hatte ausgefallenere Interessen.
© Knaur Verlag
Übersetzung: Jakob Schmidt u. Bernhard Kempen
- Autor: Catherine Jinks
- 2008, 556 Seiten, Maße: 13,5 x 21 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Jakob Schmidt, Bernhard Kempen
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426500418
- ISBN-13: 9783426500415
- Erscheinungsdatum: 31.03.2008
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