Todeshunger / Nocturne City Bd.3
Roman. Deutsche Erstausgabe
Werwölfe aus dem ältesten Rudel von Nocturne City werden erschossen aufgefunden. Ein Fall für die Polizistin und Werwölfin Luna Wilder. Alle Spuren deuten darauf hin, dass eine Bande sagenumwobener Gestaltwandler, die das Blut ihrer Opfer trinken, hinter...
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Produktinformationen zu „Todeshunger / Nocturne City Bd.3 “
Klappentext zu „Todeshunger / Nocturne City Bd.3 “
Werwölfe aus dem ältesten Rudel von Nocturne City werden erschossen aufgefunden. Ein Fall für die Polizistin und Werwölfin Luna Wilder. Alle Spuren deuten darauf hin, dass eine Bande sagenumwobener Gestaltwandler, die das Blut ihrer Opfer trinken, hinter den Morden stecken könnte. Deren Anführer, der gut aussehende Lucas Kennuka, hat es offenbar darauf angelegt, Luna mit seinem Charme zu verführen. Lunas Herz gehört jedoch dem Werwolf Dmitri, der in großer Gefahr schwebt: Der Biss eines Dämons hat ihn mit einer todbringenden Krankheit infiziert ...
Lese-Probe zu „Todeshunger / Nocturne City Bd.3 “
Todeshunger von Caitlin Kittredge1
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Dem Mann auf dem Gebäudevorsprung war nicht mehr zu helfen. Noch balancierte er zwar vorsichtig auf dem schmalen Sims im achten Stockwerk, als läge ihm etwas an seinem Leben, aber seine Entscheidung schien er bereits getroffen zu haben. Wenn man oft genug mit Leuten zu tun hat, die unentwegt »Ich springe!« und »Ich tu's wirklich!« brüllen, erkennt man die, die sich tatsächlich in die Tiefe stürzen, irgendwann automatisch. Die meisten meinen es nicht ernst. Zu meinem Pech gehörte der Mann da oben nicht zu dieser Gruppe.
»Alles klar, Wilder?«, erkundigte sich Fitzpatrick. Ich klappte das Visier meines Helms hoch und tat, als steckte ich mir den Finger in den Hals.
»Selbst bei den miesesten Tränendrüsen-Talkshows kriege ich nicht so sehr das Kotzen wie beim Gestammel dieses Vermittlers.« Der Vermittler war Lieutenant Brady vom Raubdezernat, der gerade versuchte, den Mann vom Springen abzuhalten. Allerdings wirkte er mit der Situation maßlos überfordert. Er brüllte fortwährend abgedroschene Floskeln in das Mikrofon der Lautsprecheranlage auf dem Einsatzfahrzeug:
»Denken Sie noch mal darüber nach, Sir. Ich bin sicher, auch für Sie gibt es etwas, wofür es sich zu leben lohnt.«
»Verdammt, um acht beginnt der Elternabend in der Schule meines Kleinen«, murmelte Fitzpatrick. »Können wir den Quatsch nicht langsam hinter uns bringen?«
Ich blickte wieder durch das Zielfernrohr meines M4-Sturmgewehrs und nahm das Gesicht des Mannes ins Fadenkreuz.
Er wirkte immer noch entschlossen und hatte seine Position nicht verändert. Mittlerweile war ein Polizeischeinwerfer auf ihn gerichtet, was ihn sichtlich nervös machte, denn er scharrte unentwegt mit den Sohlen seiner Turnschuhe auf dem bröckeligen Granitsims hin und her. Das Wohngebäude, von dem er sich stürzen wollte, lag dem Garden-Hill-Friedhof direkt gegenüber, und die ganze Szenerie war in das unwirkliche, fast grelle Licht eines beinahe vollen Mondes getaucht.
Der Mann hatte ein kantiges Gesicht, einen eckigen Oberkörper und kurz geschnittenes schwarzes Haar. Abgesehen von der Tatsache, dass gerade die Besatzungen eines Krankenwagens und eines Löschfahrzeugs sowie meine SWAT-Einheit TAC-3 darauf warteten, dass er seinem Leben mit einem Sprung aus knapp dreißig Metern Höhe ein Ende setzte, gab es nichts Besonderes an ihm.
»Kommen Sie herunter, dann können wir zusammen Ihre Probleme angehen!«, hallte das Echo von Bradys Stimme zu uns herüber.
»Der kommt nicht runter, zumindest nicht über die Treppe«, flüsterte ich und visierte dabei weiter das Gesicht des Mannes durch die Zieloptik an.
»Sag nicht so was! Ich habe nämlich keine Lust, nachher den Dreck vom Gehweg zu fegen«, brummte Fitzpatrick. »Wenn dieser Spinner nicht wäre, hätten wir schon seit einer Stunde Feierabend, verdammt!« Fitzpatrick war ein notorischer Griesgram - die Sorte Mann, die sich sogar bei einem Empfang in der Playboy Mansion über die Temperatur des kostenlosen Champagners beklagt -, und meistens fand ich seine Nörgeleien sogar amüsant. Diesmal allerdings ging er mir gehörig auf die Nerven. Verärgert stieß ich ihn in die Seite seiner Schutzweste.
»Fitzy, jetzt halt endlich die Klappe! Der arme Kerl ist auch ohne dein Gequatsche schon schlimm genug dran.«
»Der springt sowieso nicht«, brummte Fitzpatrick zurück. »Solche Typen springen nie. Die wollen nur eine gottverdammte Viertelstunde unserer Aufmerksamkeit.«
Mit gelassenem Gesichtsausdruck ließ der Mann seinen Blick von den rot-weiß blinkenden Lichtern der Streifenwagen zum Scheinwerfer des Feuerwehrfahrzeugs und anschließend zu Lieutenant Brady wandern, der sich hinter seinem Dienstwagen verkrochen hatte. Er weinte nicht und sah auch nicht sonderlich wütend aus. Lediglich sein Kinn verzog sich etwas, weil er in seiner Anspannung die Zähne aufeinanderpresste.
»Da wäre ich mir nicht so sicher ... «, flüsterte ich.
»Sie haben doch noch Ihr ganzes Leben vor sich!«, brüllte Brady ins Mikrofon. »Da draußen wartet eine wunderschöne Welt auf Sie!«
Der Mann sah nun direkt zu mir herüber - zumindest kam es mir durch das Zielfernrohr so vor. Dann hob er zögerlich eine Hand zu einem schwachen Winken. Als ich begriff, dass er sich gerade verabschiedete, erstarrte ich. Dann sprang er.
Für die Dauer des Falls - die wenigen Augenblicke, in denen sein Körper wie ein kleiner schwarzer Punkt vor der weißen Granitfassade des Gebäudes in die Tiefe stürzte - herrschte absolute Stille um mich herum. Erst Fitzpatricks Hand auf meiner Schulter riss mich aus meiner Lähmung. »Weg da!«, brüllte er. Kurz bevor der Körper des Mannes auf den Boden prallte, zerrte mich mein Kollege mit einem gewaltigen Ruck hinter seinen Schutzschild. Wütend starrte ich ihn durch das Visier meines Helms an. »Was soll der Scheiß, Fitzy? Hast du etwa gedacht, der Typ hätte eine Bombe um den Bauch?«
Unwirsch stieß ich ihn zurück und ging zu Eckstrom und Batista hinüber, die neben dem leblosen Körper kauerten. Die beiden gehörten auch zu meinem fünfköpfigen TAC-3-Team. Eckstrom tastete den verdrehten Hals des Mannes ab, schüttelte aber schon kurz darauf den Kopf, da er keinen Puls finden konnte: »Der ist hinüber.«
Batista wies mit dem Daumen über die Schulter auf die überschaubare Menschenmenge hinter dem Absperrband. »Wilder, hilf doch den Kollegen mit den Schaulustigen.«
»Hilf ihnen doch selbst!«, erwiderte ich und hockte mich neben Eckstrom, um den Mann näher zu betrachten, der mich aus seinen toten, offenen Augen anstarrte. Sein Gesicht hatte jede Form verloren, und auch seine inneren Organe dürften sich durch die Wucht des Aufpralls verflüssigt haben.
»Warte mal, Wilder«, raunte Eckstrom, als ich mich über den Leichnam beugte. »Du bist nicht mehr bei der Mordkommission. Also Hände weg von dem Toten, bis die Schlipsträger hier sind, klar?! Ich lass mich nicht noch mal zur Schnecke machen, nur weil eine gewisse Person aus unserem Team ihre Finger nicht von der Leiche lassen konnte.«
»Schon gut«, brummte ich. Mittlerweile war auch Fitzpatrick hinter seinem Schutzschild hervorgekrochen und zu uns gestoßen. »Was für eine Sauerei. Hätte nicht gedacht, dass dieser durchgeknallte Typ tatsächlich springt. Warum hat er das nur getan?«
»Du hast es doch gerade selbst gesagt: Der Mann war un poco loco«, antwortete Batista. »Da gibt es keine Gründe oder Erklärungen.«
Mein Funkgerät meldete sich mit einem Knistern: »Von hier oben sieht's so aus, als wäre die Show vorbei, Jungs und Mädchen ... oder Lady, oder so ...«
Ich drückte die Sprechtaste. »Wilder wäre völlig ausreichend.« Der Mann am anderen Funkgerät war Greg Allen - als altgedienter Kriegsveteran hatte er die Position des Scharfschützen im TAC-3 inne. Bis auf Allens offensichtliche Defizite im Umgang mit Mitarbeiterinnen hatte ich es eigentlich ganz gut erwischt mit meinem Team. Fitzpatrick war zwar ein unsensibler Stoffel, der alle Kollegen gleichermaßen ruppig behandelte, aber dafür kam ich mit Batista und Eckstrom ziemlich gut aus. Angesichts der Tatsache, dass ich als ehemaliger Detective, Werwölfin und Frau eine ziemlich große Angriffsfläche bot, wunderte ich mich selbst immer wieder über das gute Klima im TAC-3-Team.
»Okay«, funkte Greg noch einmal. »Dann würde ich vorschlagen, wir packen ein, Kollegen ... und Kolleginnen.«
»Ich melde uns beim Diensthabenden ab«, schlug ich vor. Nachdem ich Batista das M4 und den schweren Einsatzgürtel in die Hand gedrückt hatte, streifte ich den Helm vom Kopf und duckte mich unter dem Absperrband hindurch. Ich fand Lieutenant Brady in seinem Wagen. Er saß gedankenversunken auf der Beifahrerseite.
»Entschuldigen Sie, Sir«, sprach ich ihn an. »Ich wollte fragen, ob das SWAT-Team abrücken kann.«
»Ich verstehe nicht, warum er gesprungen ist«, murmelte er. Bradys Haar war äußerst dünn, aber selbst mit voller Mähne wäre er mit seiner Adlernase kein Topmodel geworden. Ich vermutete, er hatte die Kurse für Polizeipsychologie in Konfliktsituationen belegt, um einen gemütlichen Schreibtischjob zu ergattern, aber statt befördert zu werden, musste er sich nun ständig mit Selbstmördern und Geiselnehmern herumschlagen.
Der Mann auf dem Sims hat dich angesehen, Luna, hallte eine Stimme in meinem Kopf. Er hat dir zugewinkt. Zum Abschied, verstehst du, Luna?
»Hör auf!«, ermahnte ich mich verärgert, um die dunklen Gedanken zu vertreiben. Genauso wenig, wie mich der Mann in der Menge ausgemacht hatte, hatte ich mich bewusst dafür entschieden, seinem Ableben beizuwohnen. Unser Zusammentreffen, der Blickkontakt und sein Winken waren Zufall gewesen, sonst nichts.
»Sir«, sprach ich Brady etwas lauter an. »Wir sind alle ziemlich erschöpft. Es war eine verdammt lange Schicht, und ehrlich gesagt kann kein Überstundenlohn der Welt einen gesunden Schlaf aufwiegen. Das mag vielleicht nicht für Allen gelten, weil der keinen Schlaf braucht, aber für den Rest des Teams schon.«
»Dieses Geräusch ...«, murmelte Brady abwesend, und ich ahnte, dass er vom Aufprall des Körpers sprach.
»Wissen Sie, wie er hieß?«, fragte ich aus alter Gewohnheit. Es war nämlich noch gar nicht so lange her, dass ich den Großteil meiner Zeit damit verbracht hatte, nach den Namen kürzlich Verstorbener zu fragen, statt mit schusssicherer Ganzkörpermontur, Helm und Sturmgewehr durch die Gegend zu robben.
»Jason«, antwortete Brady. »Er hat es mir gesagt, bevor Ihr Team ankam.«
»Nun, Sir, so wie ich das sehe, müssen Sie sich jetzt um Jasons Überreste kümmern. Danach sollten Sie nach Hause gehen und die ganze Sache hinter sich lassen. Ich denke, das wäre für uns alle das Beste. Meinen Sie, Sie kriegen das hin?«
Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und sah mir zum ersten Mal, seitdem ich ihn angesprochen hatte, in die Augen. »Sind Sie nicht ... dieser Detective vom 24. Revier?«
Herrlich! Noch ein Beamter, der alles glaubte, was in den Zeitungen mit den großen Buchstaben stand.
»Ich arbeite nicht mehr als Detective, Sir. Ich bin jetzt SWATOfficer bei TAC-3.«
»Gute Entscheidung. Als Detective wären Sie sowieso nicht mehr weitergekommen, nachdem Sie dafür gesorgt haben, dass ein Unternehmen schließen musste, bei dem die halbe Stadt beschäftigt war.«
»Sir, bitte verstehen Sie mich jetzt nicht falsch - ich persönlich würde ja noch bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag mit Ihnen plaudern, aber wenn Sie uns nicht bald die Erlaubnis geben, hier abzurücken, werden die Leute aus meinem Team sauer werden. Mächtig sauer sogar, und dann könnte es verdammt unangenehm werden.«
»Okay, verschwinden Sie endlich. Ich kann Sie hier sowieso nicht gebrauchen«, erwiderte Brady schroff und wandte sich von mir ab.
Obwohl ich den Verdacht hegte, dass er mit dem zweiten Satz nicht das Team, sondern mich persönlich gemeint hatte, riss ich mich zusammen. Mein Temperament hatte mir in den vergangenen sechs Monaten weiß Gott schon genügend Probleme eingebracht. Leicht reizbar zu sein war eine Sache, aber dazu noch die unberechenbare Raserei einer Werwölfin im Zaum halten zu müssen, eine ganz andere. Eigentlich konnte sich Brady glücklich schätzen, denn vor nicht allzu langer Zeit hätte ich ihm schon wegen weitaus geringerer Provokationen die Finger gebrochen.
Als ich zurückkam, saß unser Team schon zur Abfahrt bereit im Van. Nur Batista stand noch draußen. »Alles okay?«, fragte er.
»Abgesehen davon, dass Lieutenant Brady ein fieser alter Bastard ist, ist alles okay. Jedenfalls können wir jetzt fahren.«
»Wurde auch verdammt Zeit«, maulte Fitzpatrick. »Wenn wir weiter so rumtrödeln, muss ich noch in voller Montur beim Elternabend aufschlagen.«
»Hör bloß auf, hier über deinen Elternabend rumzuheulen«, meldete sich Eckstrom zu Wort. »Ich hatte heute ein Date, und zwar vor zwei Stunden!«
»Fick dich doch ins Knie!«, fuhr ihn Fitzpatrick an.
»Lustig, genau dasselbe hat deine Schwester letzte Woche auch gesagt, als ich mir keinen von ihr blasen lassen wollte«, konterte Eckstrom.
»Leute, es ist eine Dame an Bord!«, mahnte Batista.
»Ach, macht ruhig weiter«, erwiderte ich. »Oralverkehr und Elternabende machen das Leben doch erst lebenswert.«
»Wie sieht's aus, Wilder, hast du schon Pläne fürs Wochenende?«, fragte mich Batista, als Allen langsam in die Garden Street einbog. »Marisol plant nämlich eine Grillparty mit Nachbarn und Freunden. Vielleicht möchtest du ja mit deinem Lover vorbeikommen?«
Ich nuschelte etwas Unverbindliches vor mich hin, denn das erschien mir allemal freundlicher, als die Wahrheit zu sagen: Sorry, Javier, aber mein Freund würde sich lieber eine Plastikgabel ins Auge rammen, als seine Zeit mit gewöhnlichen Menschen zu verbringen.
»Na ja, sag mir einfach Bescheid, wenn du es dir anders überlegst«, beendete Batista leicht enttäuscht unser Gespräch. Eckstrom und Fitzy beleidigten sich noch eine ganze Weile gegenseitig mit kindischen Kommentaren, bis wir endlich auf dem Fuhrpark vor der Justice Plaza zum Stehen kamen. In diesem Gebäudekomplex hinter dem Gericht hatten früher die Verurteilten auf ihre Hinrichtung gewartet. Inzwischen waren in der Plaza verschiedene Büros sowie die Zentrale der SWAT-Einheiten Nocturne Citys untergebracht.
»Süße Träume, Prinzessin!«, verabschiedete sich Allen, als ich mich vor den Umkleideräumen für Frauen vom Team trennte.
»Ich träume immer nur von dir, Greg«, versicherte ich ihm mit einem Augenzwinkern.
Mittlerweile war es kurz nach neun Uhr abends, und die meisten Angestellten der Justice Plaza waren bereits nach Hause gegangen. Da ich als Mordermittlerin jahrelang Nachtschicht gearbeitet hatte, fiel es meinem Körper trotz einiger Monate SWAT-Dienst immer noch schwer, sich an die neuen Arbeitszeiten zu gewöhnen. Ich hatte das Gefühl, erst jetzt, kurz vor Dienstschluss, richtig in Schwung zu kommen.
© 2011 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH.
Dem Mann auf dem Gebäudevorsprung war nicht mehr zu helfen. Noch balancierte er zwar vorsichtig auf dem schmalen Sims im achten Stockwerk, als läge ihm etwas an seinem Leben, aber seine Entscheidung schien er bereits getroffen zu haben. Wenn man oft genug mit Leuten zu tun hat, die unentwegt »Ich springe!« und »Ich tu's wirklich!« brüllen, erkennt man die, die sich tatsächlich in die Tiefe stürzen, irgendwann automatisch. Die meisten meinen es nicht ernst. Zu meinem Pech gehörte der Mann da oben nicht zu dieser Gruppe.
»Alles klar, Wilder?«, erkundigte sich Fitzpatrick. Ich klappte das Visier meines Helms hoch und tat, als steckte ich mir den Finger in den Hals.
»Selbst bei den miesesten Tränendrüsen-Talkshows kriege ich nicht so sehr das Kotzen wie beim Gestammel dieses Vermittlers.« Der Vermittler war Lieutenant Brady vom Raubdezernat, der gerade versuchte, den Mann vom Springen abzuhalten. Allerdings wirkte er mit der Situation maßlos überfordert. Er brüllte fortwährend abgedroschene Floskeln in das Mikrofon der Lautsprecheranlage auf dem Einsatzfahrzeug:
»Denken Sie noch mal darüber nach, Sir. Ich bin sicher, auch für Sie gibt es etwas, wofür es sich zu leben lohnt.«
»Verdammt, um acht beginnt der Elternabend in der Schule meines Kleinen«, murmelte Fitzpatrick. »Können wir den Quatsch nicht langsam hinter uns bringen?«
Ich blickte wieder durch das Zielfernrohr meines M4-Sturmgewehrs und nahm das Gesicht des Mannes ins Fadenkreuz.
Er wirkte immer noch entschlossen und hatte seine Position nicht verändert. Mittlerweile war ein Polizeischeinwerfer auf ihn gerichtet, was ihn sichtlich nervös machte, denn er scharrte unentwegt mit den Sohlen seiner Turnschuhe auf dem bröckeligen Granitsims hin und her. Das Wohngebäude, von dem er sich stürzen wollte, lag dem Garden-Hill-Friedhof direkt gegenüber, und die ganze Szenerie war in das unwirkliche, fast grelle Licht eines beinahe vollen Mondes getaucht.
Der Mann hatte ein kantiges Gesicht, einen eckigen Oberkörper und kurz geschnittenes schwarzes Haar. Abgesehen von der Tatsache, dass gerade die Besatzungen eines Krankenwagens und eines Löschfahrzeugs sowie meine SWAT-Einheit TAC-3 darauf warteten, dass er seinem Leben mit einem Sprung aus knapp dreißig Metern Höhe ein Ende setzte, gab es nichts Besonderes an ihm.
»Kommen Sie herunter, dann können wir zusammen Ihre Probleme angehen!«, hallte das Echo von Bradys Stimme zu uns herüber.
»Der kommt nicht runter, zumindest nicht über die Treppe«, flüsterte ich und visierte dabei weiter das Gesicht des Mannes durch die Zieloptik an.
»Sag nicht so was! Ich habe nämlich keine Lust, nachher den Dreck vom Gehweg zu fegen«, brummte Fitzpatrick. »Wenn dieser Spinner nicht wäre, hätten wir schon seit einer Stunde Feierabend, verdammt!« Fitzpatrick war ein notorischer Griesgram - die Sorte Mann, die sich sogar bei einem Empfang in der Playboy Mansion über die Temperatur des kostenlosen Champagners beklagt -, und meistens fand ich seine Nörgeleien sogar amüsant. Diesmal allerdings ging er mir gehörig auf die Nerven. Verärgert stieß ich ihn in die Seite seiner Schutzweste.
»Fitzy, jetzt halt endlich die Klappe! Der arme Kerl ist auch ohne dein Gequatsche schon schlimm genug dran.«
»Der springt sowieso nicht«, brummte Fitzpatrick zurück. »Solche Typen springen nie. Die wollen nur eine gottverdammte Viertelstunde unserer Aufmerksamkeit.«
Mit gelassenem Gesichtsausdruck ließ der Mann seinen Blick von den rot-weiß blinkenden Lichtern der Streifenwagen zum Scheinwerfer des Feuerwehrfahrzeugs und anschließend zu Lieutenant Brady wandern, der sich hinter seinem Dienstwagen verkrochen hatte. Er weinte nicht und sah auch nicht sonderlich wütend aus. Lediglich sein Kinn verzog sich etwas, weil er in seiner Anspannung die Zähne aufeinanderpresste.
»Da wäre ich mir nicht so sicher ... «, flüsterte ich.
»Sie haben doch noch Ihr ganzes Leben vor sich!«, brüllte Brady ins Mikrofon. »Da draußen wartet eine wunderschöne Welt auf Sie!«
Der Mann sah nun direkt zu mir herüber - zumindest kam es mir durch das Zielfernrohr so vor. Dann hob er zögerlich eine Hand zu einem schwachen Winken. Als ich begriff, dass er sich gerade verabschiedete, erstarrte ich. Dann sprang er.
Für die Dauer des Falls - die wenigen Augenblicke, in denen sein Körper wie ein kleiner schwarzer Punkt vor der weißen Granitfassade des Gebäudes in die Tiefe stürzte - herrschte absolute Stille um mich herum. Erst Fitzpatricks Hand auf meiner Schulter riss mich aus meiner Lähmung. »Weg da!«, brüllte er. Kurz bevor der Körper des Mannes auf den Boden prallte, zerrte mich mein Kollege mit einem gewaltigen Ruck hinter seinen Schutzschild. Wütend starrte ich ihn durch das Visier meines Helms an. »Was soll der Scheiß, Fitzy? Hast du etwa gedacht, der Typ hätte eine Bombe um den Bauch?«
Unwirsch stieß ich ihn zurück und ging zu Eckstrom und Batista hinüber, die neben dem leblosen Körper kauerten. Die beiden gehörten auch zu meinem fünfköpfigen TAC-3-Team. Eckstrom tastete den verdrehten Hals des Mannes ab, schüttelte aber schon kurz darauf den Kopf, da er keinen Puls finden konnte: »Der ist hinüber.«
Batista wies mit dem Daumen über die Schulter auf die überschaubare Menschenmenge hinter dem Absperrband. »Wilder, hilf doch den Kollegen mit den Schaulustigen.«
»Hilf ihnen doch selbst!«, erwiderte ich und hockte mich neben Eckstrom, um den Mann näher zu betrachten, der mich aus seinen toten, offenen Augen anstarrte. Sein Gesicht hatte jede Form verloren, und auch seine inneren Organe dürften sich durch die Wucht des Aufpralls verflüssigt haben.
»Warte mal, Wilder«, raunte Eckstrom, als ich mich über den Leichnam beugte. »Du bist nicht mehr bei der Mordkommission. Also Hände weg von dem Toten, bis die Schlipsträger hier sind, klar?! Ich lass mich nicht noch mal zur Schnecke machen, nur weil eine gewisse Person aus unserem Team ihre Finger nicht von der Leiche lassen konnte.«
»Schon gut«, brummte ich. Mittlerweile war auch Fitzpatrick hinter seinem Schutzschild hervorgekrochen und zu uns gestoßen. »Was für eine Sauerei. Hätte nicht gedacht, dass dieser durchgeknallte Typ tatsächlich springt. Warum hat er das nur getan?«
»Du hast es doch gerade selbst gesagt: Der Mann war un poco loco«, antwortete Batista. »Da gibt es keine Gründe oder Erklärungen.«
Mein Funkgerät meldete sich mit einem Knistern: »Von hier oben sieht's so aus, als wäre die Show vorbei, Jungs und Mädchen ... oder Lady, oder so ...«
Ich drückte die Sprechtaste. »Wilder wäre völlig ausreichend.« Der Mann am anderen Funkgerät war Greg Allen - als altgedienter Kriegsveteran hatte er die Position des Scharfschützen im TAC-3 inne. Bis auf Allens offensichtliche Defizite im Umgang mit Mitarbeiterinnen hatte ich es eigentlich ganz gut erwischt mit meinem Team. Fitzpatrick war zwar ein unsensibler Stoffel, der alle Kollegen gleichermaßen ruppig behandelte, aber dafür kam ich mit Batista und Eckstrom ziemlich gut aus. Angesichts der Tatsache, dass ich als ehemaliger Detective, Werwölfin und Frau eine ziemlich große Angriffsfläche bot, wunderte ich mich selbst immer wieder über das gute Klima im TAC-3-Team.
»Okay«, funkte Greg noch einmal. »Dann würde ich vorschlagen, wir packen ein, Kollegen ... und Kolleginnen.«
»Ich melde uns beim Diensthabenden ab«, schlug ich vor. Nachdem ich Batista das M4 und den schweren Einsatzgürtel in die Hand gedrückt hatte, streifte ich den Helm vom Kopf und duckte mich unter dem Absperrband hindurch. Ich fand Lieutenant Brady in seinem Wagen. Er saß gedankenversunken auf der Beifahrerseite.
»Entschuldigen Sie, Sir«, sprach ich ihn an. »Ich wollte fragen, ob das SWAT-Team abrücken kann.«
»Ich verstehe nicht, warum er gesprungen ist«, murmelte er. Bradys Haar war äußerst dünn, aber selbst mit voller Mähne wäre er mit seiner Adlernase kein Topmodel geworden. Ich vermutete, er hatte die Kurse für Polizeipsychologie in Konfliktsituationen belegt, um einen gemütlichen Schreibtischjob zu ergattern, aber statt befördert zu werden, musste er sich nun ständig mit Selbstmördern und Geiselnehmern herumschlagen.
Der Mann auf dem Sims hat dich angesehen, Luna, hallte eine Stimme in meinem Kopf. Er hat dir zugewinkt. Zum Abschied, verstehst du, Luna?
»Hör auf!«, ermahnte ich mich verärgert, um die dunklen Gedanken zu vertreiben. Genauso wenig, wie mich der Mann in der Menge ausgemacht hatte, hatte ich mich bewusst dafür entschieden, seinem Ableben beizuwohnen. Unser Zusammentreffen, der Blickkontakt und sein Winken waren Zufall gewesen, sonst nichts.
»Sir«, sprach ich Brady etwas lauter an. »Wir sind alle ziemlich erschöpft. Es war eine verdammt lange Schicht, und ehrlich gesagt kann kein Überstundenlohn der Welt einen gesunden Schlaf aufwiegen. Das mag vielleicht nicht für Allen gelten, weil der keinen Schlaf braucht, aber für den Rest des Teams schon.«
»Dieses Geräusch ...«, murmelte Brady abwesend, und ich ahnte, dass er vom Aufprall des Körpers sprach.
»Wissen Sie, wie er hieß?«, fragte ich aus alter Gewohnheit. Es war nämlich noch gar nicht so lange her, dass ich den Großteil meiner Zeit damit verbracht hatte, nach den Namen kürzlich Verstorbener zu fragen, statt mit schusssicherer Ganzkörpermontur, Helm und Sturmgewehr durch die Gegend zu robben.
»Jason«, antwortete Brady. »Er hat es mir gesagt, bevor Ihr Team ankam.«
»Nun, Sir, so wie ich das sehe, müssen Sie sich jetzt um Jasons Überreste kümmern. Danach sollten Sie nach Hause gehen und die ganze Sache hinter sich lassen. Ich denke, das wäre für uns alle das Beste. Meinen Sie, Sie kriegen das hin?«
Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und sah mir zum ersten Mal, seitdem ich ihn angesprochen hatte, in die Augen. »Sind Sie nicht ... dieser Detective vom 24. Revier?«
Herrlich! Noch ein Beamter, der alles glaubte, was in den Zeitungen mit den großen Buchstaben stand.
»Ich arbeite nicht mehr als Detective, Sir. Ich bin jetzt SWATOfficer bei TAC-3.«
»Gute Entscheidung. Als Detective wären Sie sowieso nicht mehr weitergekommen, nachdem Sie dafür gesorgt haben, dass ein Unternehmen schließen musste, bei dem die halbe Stadt beschäftigt war.«
»Sir, bitte verstehen Sie mich jetzt nicht falsch - ich persönlich würde ja noch bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag mit Ihnen plaudern, aber wenn Sie uns nicht bald die Erlaubnis geben, hier abzurücken, werden die Leute aus meinem Team sauer werden. Mächtig sauer sogar, und dann könnte es verdammt unangenehm werden.«
»Okay, verschwinden Sie endlich. Ich kann Sie hier sowieso nicht gebrauchen«, erwiderte Brady schroff und wandte sich von mir ab.
Obwohl ich den Verdacht hegte, dass er mit dem zweiten Satz nicht das Team, sondern mich persönlich gemeint hatte, riss ich mich zusammen. Mein Temperament hatte mir in den vergangenen sechs Monaten weiß Gott schon genügend Probleme eingebracht. Leicht reizbar zu sein war eine Sache, aber dazu noch die unberechenbare Raserei einer Werwölfin im Zaum halten zu müssen, eine ganz andere. Eigentlich konnte sich Brady glücklich schätzen, denn vor nicht allzu langer Zeit hätte ich ihm schon wegen weitaus geringerer Provokationen die Finger gebrochen.
Als ich zurückkam, saß unser Team schon zur Abfahrt bereit im Van. Nur Batista stand noch draußen. »Alles okay?«, fragte er.
»Abgesehen davon, dass Lieutenant Brady ein fieser alter Bastard ist, ist alles okay. Jedenfalls können wir jetzt fahren.«
»Wurde auch verdammt Zeit«, maulte Fitzpatrick. »Wenn wir weiter so rumtrödeln, muss ich noch in voller Montur beim Elternabend aufschlagen.«
»Hör bloß auf, hier über deinen Elternabend rumzuheulen«, meldete sich Eckstrom zu Wort. »Ich hatte heute ein Date, und zwar vor zwei Stunden!«
»Fick dich doch ins Knie!«, fuhr ihn Fitzpatrick an.
»Lustig, genau dasselbe hat deine Schwester letzte Woche auch gesagt, als ich mir keinen von ihr blasen lassen wollte«, konterte Eckstrom.
»Leute, es ist eine Dame an Bord!«, mahnte Batista.
»Ach, macht ruhig weiter«, erwiderte ich. »Oralverkehr und Elternabende machen das Leben doch erst lebenswert.«
»Wie sieht's aus, Wilder, hast du schon Pläne fürs Wochenende?«, fragte mich Batista, als Allen langsam in die Garden Street einbog. »Marisol plant nämlich eine Grillparty mit Nachbarn und Freunden. Vielleicht möchtest du ja mit deinem Lover vorbeikommen?«
Ich nuschelte etwas Unverbindliches vor mich hin, denn das erschien mir allemal freundlicher, als die Wahrheit zu sagen: Sorry, Javier, aber mein Freund würde sich lieber eine Plastikgabel ins Auge rammen, als seine Zeit mit gewöhnlichen Menschen zu verbringen.
»Na ja, sag mir einfach Bescheid, wenn du es dir anders überlegst«, beendete Batista leicht enttäuscht unser Gespräch. Eckstrom und Fitzy beleidigten sich noch eine ganze Weile gegenseitig mit kindischen Kommentaren, bis wir endlich auf dem Fuhrpark vor der Justice Plaza zum Stehen kamen. In diesem Gebäudekomplex hinter dem Gericht hatten früher die Verurteilten auf ihre Hinrichtung gewartet. Inzwischen waren in der Plaza verschiedene Büros sowie die Zentrale der SWAT-Einheiten Nocturne Citys untergebracht.
»Süße Träume, Prinzessin!«, verabschiedete sich Allen, als ich mich vor den Umkleideräumen für Frauen vom Team trennte.
»Ich träume immer nur von dir, Greg«, versicherte ich ihm mit einem Augenzwinkern.
Mittlerweile war es kurz nach neun Uhr abends, und die meisten Angestellten der Justice Plaza waren bereits nach Hause gegangen. Da ich als Mordermittlerin jahrelang Nachtschicht gearbeitet hatte, fiel es meinem Körper trotz einiger Monate SWAT-Dienst immer noch schwer, sich an die neuen Arbeitszeiten zu gewöhnen. Ich hatte das Gefühl, erst jetzt, kurz vor Dienstschluss, richtig in Schwung zu kommen.
© 2011 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH.
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Autoren-Porträt von Caitlin Kittredge
Caitlin Kittredge begann bereits mit 13 Jahren zu schreiben. Derzeit lebt sie in Olympia, Washington.Daniel Müller, geboren 1964 in Berlin, studierte an der Kunstgewerbeschule Luzern und an der Schule für Gestaltung Zürich.Seine Arbeiten sind in diversen Zeitschriften und Büchern zu finden.
Bibliographische Angaben
- Autor: Caitlin Kittredge
- 2011, 1. Aufl., 416 Seiten, Maße: 12,6 x 18,1 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Müller, Daniel
- Übersetzer: Daniel Müller
- Verlag: LYX
- ISBN-10: 3802582934
- ISBN-13: 9783802582936
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