Tödliche Fluten
Im Jahre 1923 verschwinden ein Vater und seine beiden Söhne spurlos in den Everglades. Für den Bau der ersten Straße durch die Sümpfe hatten sie sich als Arbeiter verpflichtet - ein Höllenjob. Jahrzehnte später findet ein Enkel Briefe der drei Männer, in...
Im Jahre 1923 verschwinden ein Vater und seine beiden Söhne spurlos in den Everglades. Für den Bau der ersten Straße durch die Sümpfe hatten sie sich als Arbeiter verpflichtet - ein Höllenjob. Jahrzehnte später findet ein Enkel Briefe der drei Männer, in denen sie die unmenschlichen Arbeitsbedingungen schildern. Privatdetektiv Max Freeman soll Licht in die Sache bringen.
Alles fängt mit einem uralten Fall an: 1923 verschwinden ein Vater und seine beiden Söhne spurlos in den Everglades. Für den Bau der ersten Straße durch die Sümpfe hatten sie sich als Arbeiter verpflichtet - ein Höllenjob. Jahrzehnte später findet ihr Enkel in einer verstaubten Kiste bisher unentdeckte Briefe der drei Männer. Sie schildern brutale Arbeitsbedingungen und unmenschliche Schinderei, ein Dasein als Sklaven. Die Nachforschungen der Angehörigen stoßen auf eine Mauer des Schweigens. Privatdetektiv Max Freeman soll Licht in die Sache bringen ...
Tödliche Fluten von JonathanKing
LESEPROBE
Sie wählten fürihre Flucht eine Nacht, in der der Mondhell leuchtend am Himmel stand. Eineandere Möglichkeit hatten sie nicht. Und jetzt würde der Mond an ihrem Todschuld sein.
Der erste Schusszischte durch die feuchte Luft, als würde die Kugel durch Wasser auf siezurasen. Er hörte ihn eine Millisekunde, bevor die Kugel mit einem hässlichen,dumpfen Klatschen die Schulter seines Sohnes durchbohrte.
Der Junge keuchteund strauchelte, und bevor er zusammenbrach, packte sein Vater ihn unter demArm.
»Papa?«, fragte sein anderer Sohn, vor Angst fast schreiend ,einpaar Schritte vor ihnen. Als der Vater im Mondlicht das blasse Gesicht seinesjüngeren Sohnes und seine Umrisse gegen den Himmel vor dem Horizont sah, wurdeihm klar, dass er seine Söhne zu Zielscheiben gemacht hatte.
»Runter, Steven!«, rief er. »Runter in den Graben!«
Alle drei rutschtenvon dem aufgeschütteten Hügel, der aus Erde der Everglades und Kalksteinmergelbestand, die Böschung bis zur Wasserlinie hinunter. Zwei von ihnen keuchtenschwer, beim Dritten gurgelten feuchte Luft und Blut durch die frische Wunde inder Lunge.
Worte warenüberflüssig. Sie hatten am Knall erkannt, von wem sie gejagt wurden, und siewussten, welche
Überlebenschancesie hatten.
»Robert?«, flüsterte der Vater und drückte seinen siebzehnjährigenSohn an sich. Die eine Hand presste er auf die Austrittswunde in der Brust desJungen, um das abgehackte Keuchen zu stoppen, das als Vorbote des Todes durchdas schweißnasse Hemd drang. »O Gott, Robert,verzeih mir, was du wegen mir erleiden musst.«
Sein anderer Sohnrutschte über den schmutzigen Boden zu ihnen, bis er auf seiner Wange den Atemseines Vaters spürte.
»Papa? Ist mitRobert alles in Ordnung?«, fragte er. Sein Vater hörtedie Tränen in der Stimme, doch er konnte nicht antworten. Nie hatte er seineKinder angelogen, und auch jetzt, so nahe am Ende, wollte er seinen Schwurnicht brechen.
Der Vater blicktehinauf zum Fundament einer Straße, bei deren Bau sie alle mitgeholfen hatten.Darüber erstreckte sich ein Sternenmeer, das sie in den ersten Nächten hierdraußen in den Everglades in Staunen versetzt und in den vielen Wochen danachgetröstet hatte, weil sie dachten, sie, die Sterne, seien Gott sehr nahe. Dochdie leuchtende Mondsichel hatte sie verraten. Das erhöhte Straßenbett war dereinzige Weg durch den Sumpf zurück in die Stadt. In einer mit Wolken verhangenen Nacht wäre er mit der Dunkelheit verschmolzenund hätte ihnen den Weg in die Freiheit unmöglich gemacht. Also wählten siediese Nacht, um sich von dem im Kanal spiegelnden Mond führen zu lassen und aufder schwarzen Straße zu marschieren, die sich als schmutziges Band durch dieEverglades zog.
»Wir müssenweiter, Steven. Jetzt gleich«, drängte der Vater. »Durch das Wasser. Du bistder beste Schwimmer von uns. Nimm deinen Bruder fest unter den Arm, ich packeihn am Gürtel, dann schwimmen wir rüber. Wenn wir es bis zu den Mangroven aufder anderen Seite schaffen, wird Gott uns Deckung geben.«
Er spürte, dasssein Sohn nickte. Er war der entschlossenere derbeiden; er war derjenige, für den nichts unmöglich war, er war derjenige, derdie Kraft und den Optimismus der Jugend besaß. Er würde an ihre Rettungglauben. Der Vater zog sein Hemd aus und machte in der Mitte einen Knoten, dener seinem Sohn auf die Austrittswunde legte. An der Eintrittswunde am Rückenschließlich verknotete er beide Enden miteinander. Auch er weinte jetzt.
»Mach dich bereit,Steven, wir müssen schnell weg hier«, drängte der Vater wieder, doch dannzögerte er noch einmal, um die goldene Uhr seines eigenen Vaters aus der Taschezu ziehen und tief in seine Lederstiefel zu schieben, wo sie, wie er hoffte,vor dem Wasser geschützt war. Langsam ließen sie sich ins warme Wasser gleitenund stießen sich ab. Ihre Umhängetaschen schwammen anfangs noch an derOberfläche. Trotz des verletzten Jungen fanden die beiden anderen rasch zu einemgemeinsamen Rhythmus und kamen mit kräftigen Zügen gut voran.
Der zweite Schusswurde aus der Nähe abgegeben und traf auf die Umhängetasche des Vaters, die imWasser auf und ab hüpfte. Der Schütze hatte sie mit dem eigentlichen Zielverwechselt. Sie hatten den Fluss schon zur Hälfte durchquert. Der unverletzteSohn holte stärker aus, woraufhin der Vater kräftiger mit den Beinen trat.
Wenige Sekundenspäter spürten sie Boden unter den Füßen. Noch ein Zug, dann packte der Vater die glitschige Wurzel einer Mangrove. »Wir habenes geschafft, Papa!«, jubelte der Junge leise. Derdritte Schuss drang durch sein Genick und hinterließ ein nasses Loch an seinerKehle, das aussah wie das Gähnen des Teufels. Der Vater drehte sich noch einmalum - vor dem Sternenhimmel zeigten sich die Umrisse des Gewehrschützen und seinschräg sitzender Hut. Er stand am Bug des flachen Skiffs,das er immer zur Jagd benutzte. Er war ihnen übers Wasser gefolgt, so dass erdie Umrisse der drei Fliehenden gegen den Himmel erkennen konnte, wie es derVater jetzt tat. Als der Vater das vertraute Klicken des großen Winchester-Unterhebelrepetierers hörte, legte er einletztes Mal schützend seinen Arm um seine Jungen und flüsterte ein Gebet in ihrOhr. Er weigerte sich zu glauben, dass er gesehen hatte, wie die Augen desMörders unter dem Hutrand rot hervorgeleuchtet hatten.
© DroemerKnaur Verlag
Übersetzung: HelmutSplinter
- Autor: Jonathon King
- 2005, 338 Seiten, Maße: 11,5 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Helmut Splinter
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426629070
- ISBN-13: 9783426629079
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