Tödliche Passion
Ein Preußen-Krimi
1750: Beim königlichen Bankett bricht ein Gast mit heftigen Koliken zusammen. Die Adjudanten vermuten dahinter einen missglückten Anschlag auf Friedrich II. Wenig später wird jener Gast tot in einem zweifelhaften Berliner Etablissement gefunden. Der König...
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Produktinformationen zu „Tödliche Passion “
1750: Beim königlichen Bankett bricht ein Gast mit heftigen Koliken zusammen. Die Adjudanten vermuten dahinter einen missglückten Anschlag auf Friedrich II. Wenig später wird jener Gast tot in einem zweifelhaften Berliner Etablissement gefunden. Der König beauftragt seinen Küchenmeister Honoré Langustier mit den Ermittlungen.
Klappentext zu „Tödliche Passion “
Ostern 1750: Bei einem königlichen Bankett bricht ein Gast unter heftigen Koliken zusammen. Die Adjutanten vermuten einen missglückten Anschlag auf Friedrich II. Als jener Gast etwas später in einem zweifelhaften Etablissement in Berlin tot aufgefunden wird, beauftragt Friedrich der II. seinen Hofküchenmeister Honoré Langustier mit den Ermittlungen. Der weiß sich schon bald auf der richtigen Fährte jemand trachtet nämlich plötzlich auch ihm nach dem Leben.
Lese-Probe zu „Tödliche Passion “
Mittwoch, der 1. April 1750"Die Schlächter", erläuterte der König und fasste sein Opfer fester ins Auge, "morten nicht dem Spaße halber, sondern für der Leiber Gemeinwohl - dagegen die Jägers morten bloß aus alleiniger Lust, und das dünkt mich eine rechte Schande zu seindt, Messieurs. Was nun aber folgert mir daraus? N'est ce pas: dass die Jägers in puncto der Moral seindt weit unter den Bouchers einzurangieren!"
Aus dem Kreise der zwölf prunkvoll kostümierten, von Straßenstaub überpuderten Herren tönte Glucksen. An einem runden Eichentisch saßen sie - in einem eiskalten Renaissancesaal unter einem Kandelaber aus zwanzig miteinander verflochtenen Hirschgeweihschaufeln - und waren mit der Verdauung eines sehr scharfen, viel zu fetten und üppigen Mittagsmahles beschäftigt. Friedrich II. von Preußen, den man nach zwei siegreich beendeten Kriegen um Schlesien allseits als "den Großen" apostrophierte, hatte es ihnen gnädigst verabreichen lassen. Während es in den Schlünden gehörig brannte, kümmerte das Feuer im verstopften Kamin glumsend dahin, und jetzt, da die Tafel kurz davor stand, aufgehoben zu werden, beendeten die Kammerlakaien ihre Mühen, es lodernd zu entfachen.
Einige schadenfrohe Blicke trafen den gerade ernannten Ober-Hof-Jägermeister Karl Gustav Graf von Randow, der sich bemühte, zum majestätischen Extempore eine aufgeräumte Miene zu machen. Letztlich war ihm bereits so reiche Gnade zuteil geworden an diesem Vormittag, dass ein wenig Hohn und Spott kaum in Rechnung gestellt zu werden verdienten.
Der König hatte mit seinem Tross auf halbem Wege zwischen Berlin und Potsdam, nur wenige Meilen abseits der Chaussee an einem verwunschenen Waldsee, Station gemacht und das Mittagessen mit von Randows Amtseinsetzung verbunden. Dem treuen Kampfgenossen, der in der Schlacht von Kesselsdorf überragende Standhaftigkeit sowie unvergleichlichen Mut bewiesen, in den Friedensjahren dagegen durch interessante Ideen für neue, die Wirtschaft Preußens hebende
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Projekte geglänzt hatte, war mit dem wenig arbeitsreichen Hofamt auch das Jagdschloss "Zum Grünen Wald" zugefallen.
Der König war jedoch mit seinen Gedanken nicht bei der Sache. Er konnte es kaum mehr erwarten, wieder nach Potsdam zurückzukehren, und hatte für den nächsten Tag - obwohl das Wetter noch keineswegs warm genannt werden konnte - den Umzug aus dem dortigen Stadtschloss ins drei Jahre junge Sommerschlösschen Sans Souci anberaumt.
Die beiden Hofküchenmeister Joyard und Langustier waren verabschiedet worden, nachdem der König höchstselbst den vorbereiteten Speisezettel für die kommende Mittagsmahlzeit aufs Genaueste besehen und einen der vorgeschlagenen Gänge durch seine Lieblingsspeise Knoblauchpolenta ersetzt hatte. Nun warteten die Kammerlakaien darauf, das Abräumen besorgen zu dürfen und sich um das Übriggebliebene zu streiten, doch der König hielt noch einen privaten Nachtisch, eine frugale Überraschung, für seinen schmächtigen, schwarzhaarigen Ober-Hof-Jägermeister parat: Leicht blasphemisch wurde ihm die Naturerscheinung als "Frucht von Christi Leiden" angekündigt, was einige Teilnehmer der unterkühlten Tafelrunde, die das Geschehen verfolgten, mit von Hüstelgeräuschen nur notdürftig überdecktem Kichern quittierten. Zwei Jahre der Pflege hatten verstreichen müssen, um die nach langer Ozeanüberquerung reichlich gebeutelten Exemplare der Passionsfrucht im neuen Potsdamer Orangenhaus zur Blüte und zum Tragen zu animieren, in schönster Gesellschaft von Kirschen, Datteln, Feigen, Pfirsichen, Melonen, Ananas, Orangen, Zitronen, Granatäpfeln und violettschaligen chinesischen Pisang.
Von Randow besah sich die gelb-bräunlich und purpurrot gefleckte, pflaumenförmige und gänseeigroße Frucht auf seinem Teller mit der standesgemäßen Neugier eines ordentlichen Mitglieds der Physikalischen Klasse der Königlichen Akademie der Wissenschaften (zu der auch die Chemie, Botanik, Anatomie und Mineralogie gehörten) und musterte nicht minder aufmerksam ihr wenig ansehnliches, grünlich-gräuliches, von vielen schwarzen Samenkörnern durchsetztes Fleisch, das nach dem Aufschneiden zu Tage trat. Die Samen wirkten wie zu klein geratene Sonnenblumenkerne und bildeten mit dem gallertartigen Fleisch eine zusammenhängende, sich sauber von der beinahe gewichtslosen, watteartig ausgepolsterten Hülle scheidende Masse, die im Munde einen durchaus angenehmen Geschmack entfaltete. Der einzige Schwachpunkt beim Genuss dieser Frucht schien dem Grafen das laute Knirschen zu sein, das beim Zerbeißen der Kerne bemerkbar wurde, die wahrlich zu groß waren, als dass man sie einfach ungekaut verschlucken mochte.
Sämtliche Herren empfanden die kleine Verschnaufpause nach dem anstrengenden, holperigen Vormittag in den unkomfortablen Kutschen, nach den fünf schwer verdaulichen Gängen und nach der boshaft stacheligen Konversation des Königs als sehr wohltuend. Erleichtert schnatterte jetzt alles durcheinander. Die braunschweigischen Prinzen links vom König tauschten sich angeregt mit dem weiter links sitzenden Prinzen Friedrich Eugen von Württemberg und Bruder des regierenden Herzogs Carl Eugen über Probleme der überseeischen Handelsschifffahrt aus, während sich der architektonische Berater Sr. Königlichen Majestät, der venezianische Patriziersohn Francesco Graf Algarotti, der nicht nur die Vorliebe für Kunst und Architektur, sondern auch das Lebensalter mit dem Monarchen teilte, gegen den Direktor der frisch gegründeten Preußisch-Asiatischen Seehandlung, den Grafen Georg Casimir von Hattstein, in Mutmaßungen erging über die künftige Rentabilität des Brauereiwesens in Preußen.
Von Hattsteins Nachbar auf der linken Seite und wie dieser dem König in etwa vis à vis platziert, war der königliche Leibarzt und Vorleser Julien Offray de La Mettrie, der allenthalben nur "der Maschinenmensch" genannt wurde. Zu diesem Spitznamen trug vor allem seine Abhandlung "L'homme machine" bei, in der er den Menschen als einen in sich geschlossenen, wechselwirkend funktionierenden Organismus aus Seele und Körper darstellte, der seiner Ansicht nach keinerlei metaphysischer Ergänzung durch einen außerhalb befindlichen Gott bedurfte. Der Materialist, von unentwegtem Frohsinn beseelt, neigte bisweilen zu tumultuöser Ausgelassenheit. Nie konnten ihn der Alkohol oder das ausschweifende Essen ermüden, und er schaufelte bei den Mahlzeiten so viel in sich hinein wie das Hebelgestänge einer Wasserkunst oder das Mahlwerk einer Bockwindmühle. La Mettrie schrieb für gewöhnlich an mehreren seiner meist kurzen Bücher gleichzeitig. Momentan arbeitete er an den Titeln "Der Mensch eine Pflanze", "Der Mensch ein Tier" und "Die zu Boden gestürzte Maschine - Glaubwürdige Nachricht von dem Leben und sonderbaren Ende des berühmten Arztes de La Mettrie" sowie der merkwürdigen Schrift "Der kleine Mann mit dem großen Stock".
Zum Verwundern für jeden, der mit den heiklen Beziehungen zwischen den königlichen Dauergästen vertraut war, richtete er das gelehrte Wort an den links neben ihm sitzenden ehrwürdigen Pierre Louis Moreau de Maupertuis, den Präsidenten der Königlichen Akademie der Wissenschaften und Direktor der Physikalischen Klasse derselben, dessen Perücke bis weit über die Schultern wallte. Maupertuis, vor einem Jahrzehnt wegen seiner Lapplandexpedition zur Nachmessung der Erdabplattung weltweit gefeiert, lehnte La Mettries Ansichten im Ganzen ab und konnte vor allem seine Leugnung Gottes nicht akzeptieren. Seit drei Jahren lebte La Mettrie in Potsdam, doch so recht glücklich war der Exilfranzose in Preußen nicht geworden. Die philosophische Tafelrunde des Preußenkönigs hatte sich als eine Akademie ganz besonderer, nicht für jeden Teilnehmer gleichermaßen erfreulicher Art erwiesen.
Der König und Besitzer dieser beiden Gelehrten fand es äußerst ergötzlich, den unaufhörlichen Zermürbungskrieg zwischen ihnen zu beobachten.
"Der Grund, warum einen wahren, echten Philosophen nichts verwundert und erschrecken kann," sagte der Maschinenmensch zu Maupertuis, "liegt darin, dass er weiß, wie eng beim Menschen Wahn und Weisheit, Trieb und Vernunft, Größe und Gemeinheit, Unreife und Urteilskraft, Laster und Tugend beieinander liegen - nämlich so nahe wie Jugendalter und Kindheit oder wie der reine und der unreine Bereich der Fossilien. Den strengen Gerechten vergleicht er mit einer Kutsche, die luxuriös ausstaffiert, aber schlecht gefedert ist. Der Geck ist in seinen Augen ein Pfau, der seine prächtigen Schwanzfedern bewundert, der Labile und Willensschwache ein Fähnlein im Sturm, der Draufgänger eine Rakete, die losgeht, sobald sie Feuer gefangen hat - oder überkochende Milch - und der enttarnte Aufschneider ein hohles Gefäß, mit dessen Inhalt ein Feuer gelöscht werden soll."
Noch bevor jedoch Maupertuis eine Bemerkung über die Philosophie Epikurs machen konnte, die er sich bereits zurechtgelegt hatte, geschah etwas, das alle Gespräche ebenso abrupt wie endgültig zerschnitt.
Karl Gustav Graf von Randow, drei Plätze rechts vom König sitzend, stöhnte vernehmlich. Er rollte die Augen, führte den Kopf in drehender Bewegung um eine schwer zu bestimmende zentrale Achse und drohte samt Stuhl nach hinten umzukippen. Bei dem verzweifelten Bemühen, sich festzuhalten, beförderte er mit maulwurfshaften Armbewegungen das ihm erreichbare Tafelgeschirr auf den nicht sehr reinlichen Steinfußboden. Ein abgenagtes Rebhuhnbein landete im Schoße des zu seiner Rechten sitzenden Marquis d'Argens, welcher erschrak und leise fluchend aufsprang.
Mit erwartungsfroher Miene hatte der König von Randows vorsichtige Verkostung der Frucht mitangesehen. Er gedachte sich ebenfalls eine jener grazilen, federleichten Purpurgranadillen zu Gemüte zu führen, die vor ihm in einer kleinen Schale aus geschliffenem Rubinglas lagen, wollte jedoch erst das Urteil des Ober-Hof-Jägermeisters abwarten. Jetzt hielt er im Aufschnupfen einer Prise Spaniol inne, den eine brillantenbesetzte Tabatière von apfelgrünem schlesischem Chrysopras spendete. Sie war ein Geschenk von Randows und zeigte in feinster Intarsie einen Chinesen und eine Chinesin, die eine Porzellanvase und eine Opiumkapsel präsentierten.
Kaum hatte der Graf von der Frucht gekostet, als sie samt Löffel eklatant von ihm abgefallen und unsanft auf dem von blauen Ranken überzogenen Desserttellerchen des königlichen Reiseporzellans mit dem hübschen Stachelschwein in der Mitte gelandet war. Die gräflichen Gesichtszüge hatten sich auf eine abscheuliche Weise verzerrt und der Graf sich denkbar exaltiert zu produzieren begonnen.
Der König stutzte, da er diese gänzlich überraschende Fruchtwirkung wahrnahm, und führte den Schnupftabak an der Nase vorbei, weshalb die Krümel wie feiner, schwarzer Schnürlregen auf seinen abgescheuerten blauen Uniformrock herabfielen. Er vollführte eine ruckartige Leibesbewegung, die den Tisch erzittern ließ, so dass der Deckel der Heleborusdose mit hellem Klappen zufiel und die Passionsfrüchte in der Rubinglasschale hüpften. Mit echtem Anteil in der hellen, fordernden Stimme fragte er den sprachlosen Abbé Bastian neben sich:
"Pour l'amour de Dieu! Was geschieht Ihn denn? Hat Er eine faule erwischt?"
Der links neben dem rudernden und zappelnden Grafen sitzende Capitain von Diercke klopfte dem Gepeinigten entschlossen auf den Rücken und bemühte sich, den Grund für seine Verkrümmungen mit Worten aus ihm herauszulocken.
Graf von Randow jedoch sah sich zu keiner verständlichen Lautäußerung in der Lage. Er wusste absolut nicht, wie ihm geschah; in seinem Schlund schwelte ein Feuer, seine Stimme versagte, das Herz begann zu rasen, Schwindel stellte sich ein. Tisch, Teller, Decke und Boden schienen ineinander verschwimmen zu wollen. Als einziger von den Umsitzenden die Brisanz der Situation erfassend, sprang jetzt La Mettrie von seinem Sitz und beförderte den sich heftig windenden Ober-Hof-Jägermeister mit Hilfe zweier stützender Pagen hinaus an die frische Luft. Am Ufer des nahen Waldsees konnte der neue Hausherr des Jagdschlösschens dann, ohne dass sich die zurückbleibende Gesellschaft durch den wenig erfreulichen Anblick stören lassen musste, von dem Anlass seines Unwohlseins befreit werden. La Mettrie, der Arzt und erfahrene Teilnehmer der königlichen Tafelrunden, führte zu solchem Zweck stets etwas gutes Senfpulver mit sich.
Interessiert verfolgte der Regent kurze Zeit später, wie sein "L'homme machine" den leichenblassen Grafen von der Stätte seiner zwangsweisen Entleerung wieder in den Saal geleitete. Mehr durch Gesten als durch Worte bat Graf von Randow um Absolution für einen sofortigen Rückzug, denn er war bestrebt, einem dringlichen La Mettrieschen Ratschlag folgend, sich umgehend in seinen neuen Privatgemächern im ersten Obergeschoss des festungsartigen Gemäuers niederzulegen und ausgiebigst zu rekreieren. Se. Königliche Majestät entschuldigten ihn mit dem gnädigen Ratschlag, sich inskünftig an den Geschmack exotischer Früchte besser zu gewöhnen.
Während ein aufgeregtes Gemurmel anhob und man sich halb erschreckt, halb amüsiert über das Faktum der gräflichen Unpässlichkeit austauschte, versank der König in eisernes Schweigen und setzte sein verschlossenes Gesicht auf. Kurz hatte er mit dem Gedanken gespielt, den "übelgewordenen" Grafen durch den Kakao zu ziehen, die Absicht aber dann fallen gelassen - ebenso den Vorsatz, selbst eine Kostprobe von den Früchten zu nehmen. Er rief seine über alles geliebten Hunde sowie die geschätzten Hofküchenmeister zu sich, während sein Blick von der saucenverschmierten Stelle des Tafellakens, wo mehrere den Windspielen zugedachte Bratenstücke lagen, auf den Passionszyklus des jüngeren Cranach schwenkte.
Die fein gemalten Bilder könnten vielleicht im neuen Berliner Dom, dessen Einweihung auf den 15. Sonntag nach Trinitatis anberaumt war (und in dem der König im Januar bereits die Gebeine seiner Vorväter hatte einlagern lassen), seinen Platz finden. Das düstere Werk hatte dem heutigen Mahl etwas Vorgestriges verliehen, dachte der Monarch. Ostern war schließlich gerade glücklich herumgebracht. Was brauchte er Wiedergeburt oder Nachleben? Im Hier und Jetzt galt es zu bestehen und zu glänzen. Bald wären alle im Orkus versunken, die in vermeintlicher Sicherheit in diesem Raum saßen und die Früchte ihres Lebens genossen, beziehungsweise wieder von sich gaben, will sagen: vomierten.
Der König sah zum Akademiepräsidenten Maupertuis hinüber, der zwar Oberhaupt einer völlig religionsfeindlichen Institution war, aber heimlich zum Christengott betete, wie der Marquis d'Argens einmal hatte beobachten können. Und der Marquis seinerseits? Der immer ruhige, höfliche, vornehme, geistreiche, aber zudem ein wenig seltsame Mensch mit seiner blonden Allonge hatte sich neuerdings ganz der Kabbala ergeben und wurde von kruder Zahlenmystik und Orakelsprecherei gebeutelt. Wer konnte ahnen, was er in dem Rebhuhnknöchelchen gelesen hatte, das so unverhofft in seinen Schoß gepurzelt war? Er selbst ließe niemals Christus, Fortuna und erst recht kein billiges Orakel über sein Schicksal bestimmen, weder die Alchemisten noch die Wunderdoktoren, denen sein Geheimer Kammerier Fredersdorf so zugetan war. In Schlesien hatten Se. Königliche Majestät das Glück selbst beim Schopf gepackt und würden es nicht wieder loslassen.
Enerviert drehte der König die silbernen, mit vielen Steinen besetzten Ringe über seine knackenden Fingergelenke: Chrysopras auch hier, steirischer Granat, böhmischer Heliotrop oder Blutjaspis, Türkis, Moosachat, Karneol, Glasopal, Mondstein, Saphir, Rubin, Turmalin, Onyx und Diamant.
Emile Joyard und Honoré Langustier betraten den Speisesaal mit gemischten Gefühlen. Gleichzeitig mit ihnen sprangen die Hunde kläffend herein, den Ersten Hofküchenmeister fast umwerfend, während der Zweite darüber fluchte und wütend "Couchez!" zischte.
"Seien Sie doch nicht so ungestüm, Alkyone!", schalt höflicher und mit vorgeschriebener Anrede einer der Kammerlakaien das erste der Tiere; "Alcmene, bellen und tollen Sie doch nicht so!", rügte er das nachfolgende. Das dritte konnte er gar nicht mehr anrufen, so schnell war es in den Raum geschossen. Des Königs geliebte Biche fiel sofort über die Bratenstücke her und riss im Zuschnappen einen Fetzen des Tischtuches ab, worüber der König entzückt auflachte.
Joyard konnte sich den Vorfall mit den Früchten, von dem ihm der Kammerlakai Igel, der Sohn des Mundbäckers gleichen Namens, bereits kopfschüttelnd berichtet hatte, nicht erklären. Er musste, wollte er nicht lügen und sich grundlos selbst belasten, auf seinen Kollegen Langustier als den hierfür Hauptverantwortlichen verweisen. Es war kein Geheimnis, dass die Passionsgewächse auf dem gemeinschaftlichen Mist des Hofküchengärtners Sello und des Zweiten Hofküchenmeisters gediehen. Das herbe, säuerliche, rundweg erfrischende Aroma der Granadillen gab den Langustierschen Sorbets, Bowlen und Säften unbestreitbar eine gänzlich einzigartige Note, und schon allein aus diesem Grunde hütete er sie wie seine Augäpfel.
Der Zweite Hofküchenmeister schnaufte tief, denn die Hektik des Wiederankleidens hatte ihn echauffiert. Rasch war der tressenbesetzte Rock wieder aus dem Reisekasten geholt und übergestülpt worden, denn ohne dieses Kleidungsstück durften es sich die Küchenmeister nicht erlauben, an der Tafel zu erscheinen.Das königliche Verhör verlief glimpflicher als gedacht. Der Regent war zwar ernst, doch keineswegs ungnädig. Er fragte immerhin mit einiger Schärfe, wer die incommodierenden Prunes de passion vorbereitet und kontrolliert habe, wobei er den Greifenblick unerbittlich auf dem Zweiten Küchenchef ruhen ließ. Langustier nahm alles auf sich und bat, die Früchte genau untersuchen zu lassen.
Der König war jedoch mit seinen Gedanken nicht bei der Sache. Er konnte es kaum mehr erwarten, wieder nach Potsdam zurückzukehren, und hatte für den nächsten Tag - obwohl das Wetter noch keineswegs warm genannt werden konnte - den Umzug aus dem dortigen Stadtschloss ins drei Jahre junge Sommerschlösschen Sans Souci anberaumt.
Die beiden Hofküchenmeister Joyard und Langustier waren verabschiedet worden, nachdem der König höchstselbst den vorbereiteten Speisezettel für die kommende Mittagsmahlzeit aufs Genaueste besehen und einen der vorgeschlagenen Gänge durch seine Lieblingsspeise Knoblauchpolenta ersetzt hatte. Nun warteten die Kammerlakaien darauf, das Abräumen besorgen zu dürfen und sich um das Übriggebliebene zu streiten, doch der König hielt noch einen privaten Nachtisch, eine frugale Überraschung, für seinen schmächtigen, schwarzhaarigen Ober-Hof-Jägermeister parat: Leicht blasphemisch wurde ihm die Naturerscheinung als "Frucht von Christi Leiden" angekündigt, was einige Teilnehmer der unterkühlten Tafelrunde, die das Geschehen verfolgten, mit von Hüstelgeräuschen nur notdürftig überdecktem Kichern quittierten. Zwei Jahre der Pflege hatten verstreichen müssen, um die nach langer Ozeanüberquerung reichlich gebeutelten Exemplare der Passionsfrucht im neuen Potsdamer Orangenhaus zur Blüte und zum Tragen zu animieren, in schönster Gesellschaft von Kirschen, Datteln, Feigen, Pfirsichen, Melonen, Ananas, Orangen, Zitronen, Granatäpfeln und violettschaligen chinesischen Pisang.
Von Randow besah sich die gelb-bräunlich und purpurrot gefleckte, pflaumenförmige und gänseeigroße Frucht auf seinem Teller mit der standesgemäßen Neugier eines ordentlichen Mitglieds der Physikalischen Klasse der Königlichen Akademie der Wissenschaften (zu der auch die Chemie, Botanik, Anatomie und Mineralogie gehörten) und musterte nicht minder aufmerksam ihr wenig ansehnliches, grünlich-gräuliches, von vielen schwarzen Samenkörnern durchsetztes Fleisch, das nach dem Aufschneiden zu Tage trat. Die Samen wirkten wie zu klein geratene Sonnenblumenkerne und bildeten mit dem gallertartigen Fleisch eine zusammenhängende, sich sauber von der beinahe gewichtslosen, watteartig ausgepolsterten Hülle scheidende Masse, die im Munde einen durchaus angenehmen Geschmack entfaltete. Der einzige Schwachpunkt beim Genuss dieser Frucht schien dem Grafen das laute Knirschen zu sein, das beim Zerbeißen der Kerne bemerkbar wurde, die wahrlich zu groß waren, als dass man sie einfach ungekaut verschlucken mochte.
Sämtliche Herren empfanden die kleine Verschnaufpause nach dem anstrengenden, holperigen Vormittag in den unkomfortablen Kutschen, nach den fünf schwer verdaulichen Gängen und nach der boshaft stacheligen Konversation des Königs als sehr wohltuend. Erleichtert schnatterte jetzt alles durcheinander. Die braunschweigischen Prinzen links vom König tauschten sich angeregt mit dem weiter links sitzenden Prinzen Friedrich Eugen von Württemberg und Bruder des regierenden Herzogs Carl Eugen über Probleme der überseeischen Handelsschifffahrt aus, während sich der architektonische Berater Sr. Königlichen Majestät, der venezianische Patriziersohn Francesco Graf Algarotti, der nicht nur die Vorliebe für Kunst und Architektur, sondern auch das Lebensalter mit dem Monarchen teilte, gegen den Direktor der frisch gegründeten Preußisch-Asiatischen Seehandlung, den Grafen Georg Casimir von Hattstein, in Mutmaßungen erging über die künftige Rentabilität des Brauereiwesens in Preußen.
Von Hattsteins Nachbar auf der linken Seite und wie dieser dem König in etwa vis à vis platziert, war der königliche Leibarzt und Vorleser Julien Offray de La Mettrie, der allenthalben nur "der Maschinenmensch" genannt wurde. Zu diesem Spitznamen trug vor allem seine Abhandlung "L'homme machine" bei, in der er den Menschen als einen in sich geschlossenen, wechselwirkend funktionierenden Organismus aus Seele und Körper darstellte, der seiner Ansicht nach keinerlei metaphysischer Ergänzung durch einen außerhalb befindlichen Gott bedurfte. Der Materialist, von unentwegtem Frohsinn beseelt, neigte bisweilen zu tumultuöser Ausgelassenheit. Nie konnten ihn der Alkohol oder das ausschweifende Essen ermüden, und er schaufelte bei den Mahlzeiten so viel in sich hinein wie das Hebelgestänge einer Wasserkunst oder das Mahlwerk einer Bockwindmühle. La Mettrie schrieb für gewöhnlich an mehreren seiner meist kurzen Bücher gleichzeitig. Momentan arbeitete er an den Titeln "Der Mensch eine Pflanze", "Der Mensch ein Tier" und "Die zu Boden gestürzte Maschine - Glaubwürdige Nachricht von dem Leben und sonderbaren Ende des berühmten Arztes de La Mettrie" sowie der merkwürdigen Schrift "Der kleine Mann mit dem großen Stock".
Zum Verwundern für jeden, der mit den heiklen Beziehungen zwischen den königlichen Dauergästen vertraut war, richtete er das gelehrte Wort an den links neben ihm sitzenden ehrwürdigen Pierre Louis Moreau de Maupertuis, den Präsidenten der Königlichen Akademie der Wissenschaften und Direktor der Physikalischen Klasse derselben, dessen Perücke bis weit über die Schultern wallte. Maupertuis, vor einem Jahrzehnt wegen seiner Lapplandexpedition zur Nachmessung der Erdabplattung weltweit gefeiert, lehnte La Mettries Ansichten im Ganzen ab und konnte vor allem seine Leugnung Gottes nicht akzeptieren. Seit drei Jahren lebte La Mettrie in Potsdam, doch so recht glücklich war der Exilfranzose in Preußen nicht geworden. Die philosophische Tafelrunde des Preußenkönigs hatte sich als eine Akademie ganz besonderer, nicht für jeden Teilnehmer gleichermaßen erfreulicher Art erwiesen.
Der König und Besitzer dieser beiden Gelehrten fand es äußerst ergötzlich, den unaufhörlichen Zermürbungskrieg zwischen ihnen zu beobachten.
"Der Grund, warum einen wahren, echten Philosophen nichts verwundert und erschrecken kann," sagte der Maschinenmensch zu Maupertuis, "liegt darin, dass er weiß, wie eng beim Menschen Wahn und Weisheit, Trieb und Vernunft, Größe und Gemeinheit, Unreife und Urteilskraft, Laster und Tugend beieinander liegen - nämlich so nahe wie Jugendalter und Kindheit oder wie der reine und der unreine Bereich der Fossilien. Den strengen Gerechten vergleicht er mit einer Kutsche, die luxuriös ausstaffiert, aber schlecht gefedert ist. Der Geck ist in seinen Augen ein Pfau, der seine prächtigen Schwanzfedern bewundert, der Labile und Willensschwache ein Fähnlein im Sturm, der Draufgänger eine Rakete, die losgeht, sobald sie Feuer gefangen hat - oder überkochende Milch - und der enttarnte Aufschneider ein hohles Gefäß, mit dessen Inhalt ein Feuer gelöscht werden soll."
Noch bevor jedoch Maupertuis eine Bemerkung über die Philosophie Epikurs machen konnte, die er sich bereits zurechtgelegt hatte, geschah etwas, das alle Gespräche ebenso abrupt wie endgültig zerschnitt.
Karl Gustav Graf von Randow, drei Plätze rechts vom König sitzend, stöhnte vernehmlich. Er rollte die Augen, führte den Kopf in drehender Bewegung um eine schwer zu bestimmende zentrale Achse und drohte samt Stuhl nach hinten umzukippen. Bei dem verzweifelten Bemühen, sich festzuhalten, beförderte er mit maulwurfshaften Armbewegungen das ihm erreichbare Tafelgeschirr auf den nicht sehr reinlichen Steinfußboden. Ein abgenagtes Rebhuhnbein landete im Schoße des zu seiner Rechten sitzenden Marquis d'Argens, welcher erschrak und leise fluchend aufsprang.
Mit erwartungsfroher Miene hatte der König von Randows vorsichtige Verkostung der Frucht mitangesehen. Er gedachte sich ebenfalls eine jener grazilen, federleichten Purpurgranadillen zu Gemüte zu führen, die vor ihm in einer kleinen Schale aus geschliffenem Rubinglas lagen, wollte jedoch erst das Urteil des Ober-Hof-Jägermeisters abwarten. Jetzt hielt er im Aufschnupfen einer Prise Spaniol inne, den eine brillantenbesetzte Tabatière von apfelgrünem schlesischem Chrysopras spendete. Sie war ein Geschenk von Randows und zeigte in feinster Intarsie einen Chinesen und eine Chinesin, die eine Porzellanvase und eine Opiumkapsel präsentierten.
Kaum hatte der Graf von der Frucht gekostet, als sie samt Löffel eklatant von ihm abgefallen und unsanft auf dem von blauen Ranken überzogenen Desserttellerchen des königlichen Reiseporzellans mit dem hübschen Stachelschwein in der Mitte gelandet war. Die gräflichen Gesichtszüge hatten sich auf eine abscheuliche Weise verzerrt und der Graf sich denkbar exaltiert zu produzieren begonnen.
Der König stutzte, da er diese gänzlich überraschende Fruchtwirkung wahrnahm, und führte den Schnupftabak an der Nase vorbei, weshalb die Krümel wie feiner, schwarzer Schnürlregen auf seinen abgescheuerten blauen Uniformrock herabfielen. Er vollführte eine ruckartige Leibesbewegung, die den Tisch erzittern ließ, so dass der Deckel der Heleborusdose mit hellem Klappen zufiel und die Passionsfrüchte in der Rubinglasschale hüpften. Mit echtem Anteil in der hellen, fordernden Stimme fragte er den sprachlosen Abbé Bastian neben sich:
"Pour l'amour de Dieu! Was geschieht Ihn denn? Hat Er eine faule erwischt?"
Der links neben dem rudernden und zappelnden Grafen sitzende Capitain von Diercke klopfte dem Gepeinigten entschlossen auf den Rücken und bemühte sich, den Grund für seine Verkrümmungen mit Worten aus ihm herauszulocken.
Graf von Randow jedoch sah sich zu keiner verständlichen Lautäußerung in der Lage. Er wusste absolut nicht, wie ihm geschah; in seinem Schlund schwelte ein Feuer, seine Stimme versagte, das Herz begann zu rasen, Schwindel stellte sich ein. Tisch, Teller, Decke und Boden schienen ineinander verschwimmen zu wollen. Als einziger von den Umsitzenden die Brisanz der Situation erfassend, sprang jetzt La Mettrie von seinem Sitz und beförderte den sich heftig windenden Ober-Hof-Jägermeister mit Hilfe zweier stützender Pagen hinaus an die frische Luft. Am Ufer des nahen Waldsees konnte der neue Hausherr des Jagdschlösschens dann, ohne dass sich die zurückbleibende Gesellschaft durch den wenig erfreulichen Anblick stören lassen musste, von dem Anlass seines Unwohlseins befreit werden. La Mettrie, der Arzt und erfahrene Teilnehmer der königlichen Tafelrunden, führte zu solchem Zweck stets etwas gutes Senfpulver mit sich.
Interessiert verfolgte der Regent kurze Zeit später, wie sein "L'homme machine" den leichenblassen Grafen von der Stätte seiner zwangsweisen Entleerung wieder in den Saal geleitete. Mehr durch Gesten als durch Worte bat Graf von Randow um Absolution für einen sofortigen Rückzug, denn er war bestrebt, einem dringlichen La Mettrieschen Ratschlag folgend, sich umgehend in seinen neuen Privatgemächern im ersten Obergeschoss des festungsartigen Gemäuers niederzulegen und ausgiebigst zu rekreieren. Se. Königliche Majestät entschuldigten ihn mit dem gnädigen Ratschlag, sich inskünftig an den Geschmack exotischer Früchte besser zu gewöhnen.
Während ein aufgeregtes Gemurmel anhob und man sich halb erschreckt, halb amüsiert über das Faktum der gräflichen Unpässlichkeit austauschte, versank der König in eisernes Schweigen und setzte sein verschlossenes Gesicht auf. Kurz hatte er mit dem Gedanken gespielt, den "übelgewordenen" Grafen durch den Kakao zu ziehen, die Absicht aber dann fallen gelassen - ebenso den Vorsatz, selbst eine Kostprobe von den Früchten zu nehmen. Er rief seine über alles geliebten Hunde sowie die geschätzten Hofküchenmeister zu sich, während sein Blick von der saucenverschmierten Stelle des Tafellakens, wo mehrere den Windspielen zugedachte Bratenstücke lagen, auf den Passionszyklus des jüngeren Cranach schwenkte.
Die fein gemalten Bilder könnten vielleicht im neuen Berliner Dom, dessen Einweihung auf den 15. Sonntag nach Trinitatis anberaumt war (und in dem der König im Januar bereits die Gebeine seiner Vorväter hatte einlagern lassen), seinen Platz finden. Das düstere Werk hatte dem heutigen Mahl etwas Vorgestriges verliehen, dachte der Monarch. Ostern war schließlich gerade glücklich herumgebracht. Was brauchte er Wiedergeburt oder Nachleben? Im Hier und Jetzt galt es zu bestehen und zu glänzen. Bald wären alle im Orkus versunken, die in vermeintlicher Sicherheit in diesem Raum saßen und die Früchte ihres Lebens genossen, beziehungsweise wieder von sich gaben, will sagen: vomierten.
Der König sah zum Akademiepräsidenten Maupertuis hinüber, der zwar Oberhaupt einer völlig religionsfeindlichen Institution war, aber heimlich zum Christengott betete, wie der Marquis d'Argens einmal hatte beobachten können. Und der Marquis seinerseits? Der immer ruhige, höfliche, vornehme, geistreiche, aber zudem ein wenig seltsame Mensch mit seiner blonden Allonge hatte sich neuerdings ganz der Kabbala ergeben und wurde von kruder Zahlenmystik und Orakelsprecherei gebeutelt. Wer konnte ahnen, was er in dem Rebhuhnknöchelchen gelesen hatte, das so unverhofft in seinen Schoß gepurzelt war? Er selbst ließe niemals Christus, Fortuna und erst recht kein billiges Orakel über sein Schicksal bestimmen, weder die Alchemisten noch die Wunderdoktoren, denen sein Geheimer Kammerier Fredersdorf so zugetan war. In Schlesien hatten Se. Königliche Majestät das Glück selbst beim Schopf gepackt und würden es nicht wieder loslassen.
Enerviert drehte der König die silbernen, mit vielen Steinen besetzten Ringe über seine knackenden Fingergelenke: Chrysopras auch hier, steirischer Granat, böhmischer Heliotrop oder Blutjaspis, Türkis, Moosachat, Karneol, Glasopal, Mondstein, Saphir, Rubin, Turmalin, Onyx und Diamant.
Emile Joyard und Honoré Langustier betraten den Speisesaal mit gemischten Gefühlen. Gleichzeitig mit ihnen sprangen die Hunde kläffend herein, den Ersten Hofküchenmeister fast umwerfend, während der Zweite darüber fluchte und wütend "Couchez!" zischte.
"Seien Sie doch nicht so ungestüm, Alkyone!", schalt höflicher und mit vorgeschriebener Anrede einer der Kammerlakaien das erste der Tiere; "Alcmene, bellen und tollen Sie doch nicht so!", rügte er das nachfolgende. Das dritte konnte er gar nicht mehr anrufen, so schnell war es in den Raum geschossen. Des Königs geliebte Biche fiel sofort über die Bratenstücke her und riss im Zuschnappen einen Fetzen des Tischtuches ab, worüber der König entzückt auflachte.
Joyard konnte sich den Vorfall mit den Früchten, von dem ihm der Kammerlakai Igel, der Sohn des Mundbäckers gleichen Namens, bereits kopfschüttelnd berichtet hatte, nicht erklären. Er musste, wollte er nicht lügen und sich grundlos selbst belasten, auf seinen Kollegen Langustier als den hierfür Hauptverantwortlichen verweisen. Es war kein Geheimnis, dass die Passionsgewächse auf dem gemeinschaftlichen Mist des Hofküchengärtners Sello und des Zweiten Hofküchenmeisters gediehen. Das herbe, säuerliche, rundweg erfrischende Aroma der Granadillen gab den Langustierschen Sorbets, Bowlen und Säften unbestreitbar eine gänzlich einzigartige Note, und schon allein aus diesem Grunde hütete er sie wie seine Augäpfel.
Der Zweite Hofküchenmeister schnaufte tief, denn die Hektik des Wiederankleidens hatte ihn echauffiert. Rasch war der tressenbesetzte Rock wieder aus dem Reisekasten geholt und übergestülpt worden, denn ohne dieses Kleidungsstück durften es sich die Küchenmeister nicht erlauben, an der Tafel zu erscheinen.Das königliche Verhör verlief glimpflicher als gedacht. Der Regent war zwar ernst, doch keineswegs ungnädig. Er fragte immerhin mit einiger Schärfe, wer die incommodierenden Prunes de passion vorbereitet und kontrolliert habe, wobei er den Greifenblick unerbittlich auf dem Zweiten Küchenchef ruhen ließ. Langustier nahm alles auf sich und bat, die Früchte genau untersuchen zu lassen.
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Autoren-Porträt von Tom Wolf
Tom Wolf, geboren 1964 in Bad Homburg, Studium der Neueren Deutschen Literatur, Älteren Deutschen Sprache und Literatur sowie der Philosophie (1999 Dr. phil.). Arbeitete von 2000-2001 als Lektor bei der Edition Vincent Klink in Stuttgart und redigierte die literarisch-kulinarische Vierteljahresschrift "Häuptling Eigener Herd". Er veröffentlichte zahlreiche Beiträge in Anthologien, Zeitschriften und Zeitungen und verfasste wissenschaftliche Bücher (u.a.: Pustkuchen und Goethe. Die Streitschrift als produktives Verwirrspiel. Tübingen, 1999; Brüder, Geister und Fossilien. Eduard Mörikes Erfahrungen der Umwelt, Tübingen, 2001).Als Krimiautor wurde Tom Wolf mit dem Berliner Literaturpreis "Krimifuchs 2005" ausgezeichnet.
Bibliographische Angaben
- Autor: Tom Wolf
- 2005, 248 Seiten, Maße: 12 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442730856
- ISBN-13: 9783442730858
Rezension zu „Tödliche Passion “
"Hier bahnt sich eine kleine Sensation an: Die Profilierung eines Berliner Geheimkommissärs von ganz eigenem Schlag."(BERLINER MORGENPOST)
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