Traumpfade
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Es folgten mit "Der Vizekönig von Ouidah" (1980) und "Auf dem schwarzen Berg" (1982) weitere Reiseberichte. Dank "Traumpfade" errang Chatwin 1987 Weltruhm. Schon während seines Studiums verfolgte Chatwin den Plan, eine Theorie des Nomadentums zu formulieren. Er war überzeugt, dass der Mensch im Laufe der Evolution mit dem aufrechten Gang einen Drang zur Wanderschaft entwickelt habe. In Folge des Sesshaftwerdens jedoch sei dieser unterdrückt worden. Diesen Prozess machte Chatwin für viele Zivilisationskrankheiten verantwortlich; nur der wandernde Mensch sei wirklich frei. Wissenschaftlich blieb ihm der Nachweis seiner These verwehrt, mit "Traumpfade" jedoch gelang es ihm, sich literarisch dem Nomadentum einfühlsam anzunähern.
Traumpfade von Bruce Chatwin
LESEPROBE
In Alice Springs, einem Netz verbrannter Wege, woMänner in langen weißen Socken unaufhörlich in Landcruiser einstiegen oder ausLandcruisern ausstiegen, begegnete ich einem Russen, der damit beschäftigt war,eine Karte von den heiligen Stätten der Aborigines anzulegen. Sein Name warArkady Wolschok. Er war australischer Staatsbürger. Er war dreiunddreißig Jahrealt. Sein Vater, Iwan Wolschok, ein Kosake aus einem Dorf in der Nähe vonRostow am Don, war 1942 geschnappt und zusammen mit einer Zugladung weiterer»Ostarbeiter« zum Dienst in eine deutsche Fabrik geschickt worden. Eines Nachts,irgendwo in der Ukraine, sprang er aus dem Viehwaggon in ein Sonnenblumenfeld.Soldaten in grauen Uniformen jagten ihn die langen Reihen von Sonnenblumen aufund ab, aber er entkam ihnen. Irgendwo anders, verirrt zwischen modernenArmeen, traf er ein Mädchen aus Kiew und heiratete sie. Gemeinsam verschlug essie in einen verschlafenen Vorort von Adelaide, wo er eine Wodkabrennereiaufzog und drei kräftige Söhne zeugte. Der jüngste von ihnen war Arkady.
Arkady war von seinem Temperament her keineswegs für einLeben in der Abgeschiedenheit eines angelsächsischen Vororts oder für einenkonventionellen Beruf bestimmt. Er hatte ein flaches Gesicht und ein sanftesLächeln, und er durchquerte die hellen Weiten Australiens mit derUnbeschwertheit seiner rastlosen Vorfahren. Er hatte dichtes, glattes Haar vonstrohblonder Farbe. Seine Lippen waren in der Hitze aufgesprungen. Er hattenicht den verkniffenen Mund so vieler weißer Australier aus dem Busch; auchverschluckte er seine Wörter nicht. Er rollte das R auf eine sehr russischeArt. Nur aus nächster Nähe erkannte man, wie grobknochig er war. Er warverheiratet, erzählte er mir, und hatte eine sechs- 8 jährigeTochter. Doch da er die Einsamkeit dem häuslichen Chaos vorzog, lebte er nichtmehr mit seiner Frau zusammen. Er besaß, abgesehen von einem Cembalo und einemRegal mit Büchern, kaum etwas. Er war ein unermüdlicher Buschwanderer. Esmachte ihm nichts aus, mit einer Feldflasche Wasser und ein paar Bissen Proviantzu einem Marsch von hundert Meilen längs der MacDonnell-Berge aufzubrechen.Wenn er danach aus der Hitze und der Helligkeit nach Hause kam, zog er dieVorhänge zu und spielte Musik von Buxtehude und Bach auf dem Cembalo. Ihreregelmäßig fortschreitenden Sequenzen, sagte er, entsprächen den Umrissen derzentralaustralischen Landschaft.
Arkadys Elternhatten beide nie ein Buch in Englisch gelesen. Sie waren hocherfreut, als ersein Studium der Geschichte und der Philosophie an der Universität von Adelaidemit Auszeichnung abschloß. Sie waren traurig, als er fortging, um als Lehrer ineiner Aborigines-Siedlung im Warlpiri Country nördlich von Alice Springs zuarbeiten. Er mochte die Aborigines. Er mochte ihre Courage und ihre Zähigkeitund ihre geschickte Art im Umgang mit dem weißen Mann. Er hatte einige ihrerSprachen gelernt oder halb gelernt, und ihre intellektuelle Kraft, ihrfabelhaftes Gedächtnis und ihre Fähigkeit und ihr Wille zu überleben hatten ihnin Erstaunen gesetzt. Sie seien, betonte er, keine aussterbende Rasse - wennsie auch hin und wieder Hilfe brauchten, um sich die Regierung und dieBergbaugesellschaften vom Hals zu schaffen. Während seiner Zeit als Lehrerhörte Arkady zum erstenmal von dem Labyrinth unsichtbarer Wege, die sich durch ganzAustralien schlängeln und die Europäern als »Traumpfade « oder »Songlines« undden Aborigines als »Fußspuren der Ahnen« oder »Weg des Gesetzes« bekannt sind. Schöpfungsmythender Aborigines berichten von den legendären totemistischen Wesen, die einst inder Traumzeit über den Kontinent wanderten und singend alles benannten, wasihre Wege kreuzte - Vögel, Tiere, Pflanzen, Felsen, Wasserlöcher -, und so dieWelt ins Dasein sangen. Arkady war von der Schönheit dieser Vorstellung sobeeindruckt, daß er begann, alles aufzuschreiben, was er hörte oder sah, nichtum es zu veröffentlichen, sondern um seine eigene Neugier zu befriedigen.
Anfangs mißtrauten ihm die Ältesten der Warlpiri und gabenihm ausweichende Antworten auf seine Fragen. Mit der Zeit jedoch, als er ihrVertrauen gewonnen hatte, luden sie ihn ein, ihren streng geheimen Zeremonienbeizuwohnen, und ermutigten ihn, ihre Lieder zu lernen. Einmal kam einAnthropologe aus Canberra, um die Landbesitz-Ordnung der Warlpiri zuerforschen: ein neidischer Akademiker, der Arkady seine Freundschaft mit den Lieder-Menschenmißgönnte, Informationen aus ihm herausholte und prompt ein Geheimnis verriet,das zu bewahren er versprochen hatte. Angewidert von dem nachfolgenden Streitwarf der »Russe« seine Arbeit hin und ging ins Ausland. Er sah diebuddhistischen Tempel Javas, saß mit Sadhus an den Totenverbrennungsstätten inBenares, rauchte Haschisch in Kabul und arbeitete in einem Kibbuz. Auf derschneebestäubten Akropolis von Athen war nur ein einziger anderer Tourist: eingriechisches Mädchen aus Sydney. Sie reisten zusammen durch Italien, sieschliefen miteinander, und in Paris beschlossen sie zu heiraten. Da er in einemLand groß geworden war, in dem es »nichts« gab, hatte Arkady sich sein Lebenlang danach gesehnt, die Monumente der abendländischen Zivilisation zu sehen.Er war verliebt. Es war Frühling. Es hätte wunderbar sein sollen in Europa. Zuseiner Enttäuschung hinterließ es bei ihm einen schalen Geschmack. InAustralien hatte er die Aborigines oft gegen Leute verteidigen müssen, die sieals Trunkenbolde und unfähige Wilde abtaten; doch hatte es in dem Fliegendreckund Elend eines Warlpiri-Lagers Augenblicke gegeben, in denen ihm der Verdachtkam, daß sie recht haben könnten und daß seine Berufung, diesen Schwarzen zuhelfen, entweder eine vorsätzliche Selbsttäuschung oder aber Zeitverschwendungsei.
© Süddeutsche Zeitung / Bibliothek
Autoren-Porträtvon BruceChatwin
Bruce Chatwin, 1940 inSheffield geboren, arbeitete als Journalist bei der "Sunday Times",dann als Leiter der Abteilung für Impressionismus bei Sotheby's. AusgedehnteReisen seit 1962 führten ihn nach Afghanistan, in die Sowjetunion, nachOsteuropa, Westafrika, Lateinamerika, Australien. Neben Reisebüchern, hatChatwin Romane und Essays geschrieben. Bruce Chatwin starb 1989 in Nizza.
- Autor: Bruce Chatwin
- 2004, 368 Seiten, Maße: 12,7 x 21 cm, Geb. mit Su., Deutsch
- Aus d. Engl. v. Anna Kamp
- Verlag: Süddeutsche Zeitung / Bibliothek
- ISBN-10: 3937793283
- ISBN-13: 9783937793283
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