Tricks
Als Mängelexemplar
Tricks, acht meisterliche Erzählungen von Alice Munro: Geschichten über Ausreißer, Entscheidungen, Leidenschaften und Verfehlungen.
Wieder beweist Alice Munro besonderes Gespür für das Geheimnis ihrer Figuren, jenen rätselhaften Bereich, wo Selbstbetrug auf Hoffnungen, gefährliche Illusionen auf die kleinen Tricksereien des Alltags treffen. Der Leser kommt in ihren Geschichten seinem eigenen Leben so nah, dass er schwindlig wird vor Herzleid und Glück.
Tricks von Alice Munro
LESEPROBE
Tricks
I
»Ich sterbe«, sagte Robin, an einemAbend vor Jahren. »Ich sterbe, wenn das Kleid nicht fertig ist.«
Sie befanden sich auf der Verandades mit dunkelgrünen Schindeln verkleideten Hauses in der Isaac Street. WillardGreig, der nebenan wohnte, spielte am Kartentisch mitRobins Schwester Joanne Komme. Robin saß auf dem Sofa und schaute stirnrunzelnd in eine Zeitschrift. Der Duft des Ziertabakskämpfte mit dem Geruch von köchelndem Ketchup aus derKüche irgendeines Nachbarhauses.
Willard sah, wie Joanne fastunmerklich lächelte, bevor sie sich in neutralem Tonfall erkundigte: »Was hastdu gesagt?«
»Ich habe gesagt, ich sterbe.« Robin war trotzig. »Ich sterbe, wenn das Kleid morgennicht fertig ist. In der Reinigung.«
»Dann habe ich richtig gehört. Duwirst sterben?«
Man konnte Joanne bei Bemerkungendieser Art nie etwas nachweisen. So sanft war ihr Ton, so unendlich leise ihrHohn, und ihr - inzwischen wieder verschwundenes - Lächeln bestandnur aus dem winzigen Heben eines Mundwinkels.
»Ja, werd ich«, sagte Robin trotzig.»Ich brauche es.«
»Sie braucht es, sie wird sterben,sie geht ins Theater«, sagte Joanne in vertraulichem Ton zuWillard.
Willard sagte: »Also, Joanne.« Seine Eltern wie auch er selbst waren mit den Eltern derMädchen befreundet gewesen - für ihn waren die beiden immer noch die Mädchen-, und jetzt, da alle Eltern tot waren, empfand er es als seine Pflicht,die Töchter, so weit es ihm möglich war, davon abzuhalten, sich in den Haarenzu liegen.
Joanne war jetzt dreißig Jahre alt,Robin sechsundzwanzig. Joanne hatte einen kindlichen Körper, eine schmale Brust,ein langes, fahles Gesicht und glatte dünne braune Haare. Sie versuchte nievorzutäuschen, sie sei alles andere als ein unglücklicher Mensch, stehengeblieben auf halbem Wege zwischen Kindheit undweiblicher Reife. Stehengeblieben, behindert durchstarkes und hartnäckiges Astluna, das einsetzte, alssie noch ein kleines Kind war. Vota einem Menschen, der so aussah, einemMenschen, der im Winter nicht vor die Tür konnte und den man nachts nichtallein lassen durfte, erwartete man nicht die Neigung, Torheiten anderer,glücklicherer Menschen so gnadenlos bloßzustellen. Auch keinen so unerschöpflichenVorrat an Verachtung. Sein ganzes Leben lang, so kam es Willard vor, hatte ergesehen, wie Robins Augen sich mit Zornestränen füllten, und gehört, wie Joannefragte: »Was hast du denn jetzt schon wieder?«
Heute Abend verspürte Robin nureinen leichten Stich. Morgen, das war ihr Tag drüben in Stratford, und siefühlte sich schon außerhalb von Joannes Reichweite.
»Welches Stück gibt es. Robin?«, fragte Willard, um die Wogen zu glätten, so gut erkonnte. »Ist es von Shakespeare?«
»Ja. Wie es euch gefällt.«
»Und verstehst du ihn völlig?Shakespeare?« Robin bejahte.
»Du bist ein Wunder.«
Seit fünf Jahren machte Robin das.Ein Stück jeden Sommer. Es hatte angefangen, als sie wegen ihrer Ausbildung zurKrankenschwester in Stratford wohnte. Sie ging mit einer Mitschülerin hin, diezwei Freikarten von ihrer Tante bekommen hatte, die in der Kostümabteilungarbeitete. Das Mädchen mit den Karten hatte sich zu Tode gelangweilt - es gab KönigLear -, deshalb hatte Robin über das, was sie empfand, geschwiegen. Siehätte es sowieso nicht ausdrücken können - am liebsten hätte sie das Theaterallein verlassen und anschließend mindestens vierundzwanzig Stunden lang mitniemandem geredet. Sie entschloss sich wiederzukommen. Und zwar auf eigeneFaust.
Das konnte nicht so schwer sein. DieStadt. in der sie aufgewachsen war und in der sie später wegen Joanne Arbeitfinden musste, lag nur dreißig Meilen weit entfernt. Die Leute dort wussten,dass Shakespeares Stücke in Stratford aufgeführt wurden, aber Robin hatte nochnie von jemandem gehört, der hingefahren war, um sich eins anzuschauen. Leutewie Willard hatten Angst, von den Leuten im Zuschauerraum scheel angesehen zuwerden, zusätzlich zu dem Problem, der Sprache nicht folgen zu können. UndLeute wie Joanne waren überzeugt, dass niemand je wirklich Gefallen anShakespeare finden konnte, und wenn also jemand von hier hinfuhr, dann nur. weiler oder sie sich unter die feinen Herrschaften mischen wollte, die sich nichtamüsierten, sondern nur so taten, als ob. Die wenigen Leute in der Stadt, diedie Gewohnheit hatten, sich Theateraufführungen anzusehen, fuhren lieber nachToronto ins Royal Alex, wenn ein Broadway-Musical auf seiner Tournee dortStation machte.
Robin saß gerne auf einem gutenPlatz, also konnte sie sich nur eine Samstagsmatinee leisten. Sie suchte sichein Stück aus, das an einem ihrer freien Wochenenden aufgeführt wurde. Sie lases nie im Voraus, und es war ihr egal, ob es eine Tragödie oder eine Komödiewar. Bisher war sie im Theater oder auch draußen auf den Straßen noch niejemandem begegnet, den sie kannte, und das passte ihr sehr gut. Eine derSchwestern, mit denen sie im Krankenhaus zusammenarbeitete, hatte zu ihr gesagt:»Ich hätte nie die Traute, so was ganz allein zu unternehmen«, und da warRobin klar geworden, wie sehr sie sich offenbar von den meisten Menschenunterschied. Sie fühlte sich nie so wohl wie bei diesen Anlässen, von lauterFremden umgeben. Nach dem Theater ging sie immer am Fluss entlang in die Innenstadt,suchte sich ein billiges Lokal, um etwas zu essen - meistens ein Sandwich -,und setzte sich dazu auf einen Hocker am Tresen. Dann, um zwanzig vor acht,nahm sie den Zug nach Hause. Das war alles. Doch diese paar Stunden erfülltensie mit der Zuversicht, dass das Leben, in das sie zurückkehrte und das fürsie nur ein unbefriedigender Notbehelf war, bestimmt nicht von Dauer sein würdeund deshalb leicht ertragen werden konnte. Und hinter diesem Leben, hinterallem, leuchtete es hell auf, ganz wie das Sonnenlicht, das durch die Zugfensterzu sehen war. Wie das Sonnenlicht mit den langen Schatten auf den Sommerwiesen,wie der Nachhall des Theaterstückes in ihrem Kopf.
Im letzten Jahr hatte sie Antoniusund Kleopatra gesehen. Als das Stück aus war, ging sie am Fluss entlang undbemerkte, dass da ein schwarzer Schwan schwamm - der erste, den sie je gesehenhatte -, ein sanfter Eindringling, der in kurzer Entfernung von den weißenSchwänen dahinglitt und Nahrung suchte. Vielleichtwar es der Glanz auf den Schwingen der weißen Schwäne, der sie auf den Gedankenbrachte, diesmal in einem richtigen Restaurant zu essen, nicht in einem Imbiss.Weiße Tischdecke, ein paar frische Blumen, ein Glas Wein und ein ungewöhnlichesGericht, wie Muscheln oder Perlhuhn. Sie griff nach ihrer Handtasche, umnachzuschauen, wie viel Geld sie noch hatte.
Und die Handtasche war nicht da. Dieselten benutzte Tasche aus Stoff mit Paisley-Muster hing nicht an dersilberfarbenen Kette über ihrer Schulter, sie war fort. Robin hatte fast den ganzenWeg vom Theater zur Innenstadt zurückgelegt, ohne zu merken, dass dieHandtasche fort war. Und natürlich besaß ihr Kleid keine Taschen. Sie hattekeinen Fahrschein, keinen Lippenstift, keinen Kamm und kein Geld. Keineneinzigen Cent.
Sie erinnerte sich daran, dass siewährend des ganzen Stückes die Tasche auf dem Schoß gehalten hatte, unter demProgrammheft. Das Programmheft war auch nicht mehr da. Vielleicht waren beidezu Boden geglitten? Doch nein - sie erinnerte sich, die Tasche in derToilettenzelle der Damentoilette noch gehabt zu haben. Sie hatte sie über denHaken an der Tür gehängt. Aber sie hatte sie nicht dagelassen. Nein. Sie hattesich im Spiegel über dem Waschbecken betrachtet, sie hatte den Kammherausgenommen, um ihre Frisur zu richten. Ihre Haare waren dunkel und dünn,und obwohl sie das Wunschbild hatte, sie toupiert zu tragen wie JackieKennedy, und sie deshalb jeden Abend auf Lockenwickler drehte, ließen sie nichtvon ihrer Neigung ab, glatt anzuliegen. Ansonsten hatte ihr gefallen, was siesah. Sie hatte graugrüne Augen, schwarze Augenbrauen und eine Haut, die sofortbraun wurde, ob sie wollte oder nicht, und all das kam gut zur Geltung in demeng taillierten Kleid aus dunkelgrünem glänzenden Baumwollstoff mit weitem Rockund vielen kleinen Biesen um die Hüften.
Da, da hatte sie die Taschegelassen. Auf der Ablage über dem Waschbecken. Als sie sich bewunderte, sichumdrehte und sich über die Schulter schaute, um den V-Ausschnitt hinten zusehen - sie war überzeugt davon, einen schönen Rücken zu haben -, undsichergehen wollte, dass nirgendwo ein BH-Träger hervorschaute.
Und auf einer Woge der Eitelkeit,der Selbstzufriedenheit war sie aus der Damentoilette hinausgeschwebt, ohneihre Handtasche.
Sie stieg die Stufen zur Straßehinauf und ging auf dem kürzesten Weg zum Theater zurück. Sie lief, so schnellsie konnte. ( )
© S. Fischer Verlag
Übersetzung: Heidi Zerning
- Autor: Alice Munro
- 2013, 5. Aufl., 384 Seiten, Maße: 13,5 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Zerning, Heidi
- Übersetzer: Heidi Zerning
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 3100488261
- ISBN-13: 9783100488268
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