Türkeireise
Türkeireise von Christian Schüle
LESEPROBE
Wo ist Ara Güler?
Ohne zu wissen, was dies für Konsequenzen haben würde, erwähntean einem ungewöhnlichen Septemberabend des Jahres 2005 der weitgehend haarloseMusiker Erol Arslan zumersten Mal den Namen jenes Mannes, dessen Spur ich wenig später für vieleWochen folgen würde. Ich hatte Erol um ein Treffengebeten, weil er den Chor der türkischen Gemeinde in Hamburg-Altona leitete undich auf meiner Suche nach der türkischen Seele zumindest Verständnis, wennnicht erste Antworten von ihm erhoffte.
In einer neben der Wohnzimmertür stehenden Vitrine lagen, alswären sie Reliquien in einem Schrein, zwei dickbäuchige Saiteninstrumente, dieman Saz nannte, und am Bauch der oberen lehnte einePostkarte in Schwarzweiß, worauf folgende Abendszene im Istanbuler Stadtteil Beyoˇglu aus dem Jahr 1962 zu sehen war: Zweiwohlgenährte Frauen in kurzärmeligen schwarzen Kleidern saßen leichteingesunken auf einem Stuhl, die eine mit Doppelkinn, die andere mitprominenter Perlenkette im Dekolleté. Beide, sie mochten nicht jünger alsfünfzig sein, warteten geduldig auf ihren Einsatz, während zwei robuste Männerdie Saz zupften, ein jüngerer Gentleman die Geigestrich und ein älterer Signor mit Hornbrille und Krawatte vornübergebeugtdas Tamburin schlug. Das musikalische Kammerspiel fand vor einer Gruppe teilsglatzköpfiger, teils rauchender Männer in einem kleinen, theaterähnlichen Raummit schön geschwungenem, nach oben gezogenem Vorhang statt. Es war, als hätteder Fotograf die Menschen bei einer unstatthaften Ausgelassenheit ertappt, unddoch schien für sie die Welt in Ordnung zu sein. Am rechten unteren Bildrand,im tiefen Schwarz eines unbelichteten Körpers, duckte sich in Weiß eineschlecht zu entziffernde Signatur.
Ich stand vor der Vitrine und starrte auf die Postkarte. Es warnicht zu sagen, was mich an diesem Bild festhielt, erst zwei Monate später kamich mit mir überein, daß es mit Magie und Melancholiezu tun haben mußte.
»Es ist von Ara Güler«, sagte Erol.
»Ara Güler?«
»Er ist der berühmteste Fotograf der Türkei. Jeder kennt ihn, sowie man nur noch den Schauspieler Yilmaz Güney kennt.«
»Was macht ihn so berühmt?«
»Das Bild von Istanbul und der Türkei in der Welt ist geprägtvon seinen Fotografien. Er ist der Chronist des Alltags und hat die Verwandlungdes Landes seit fünfzig Jahren fotografiert.«
»Wie alt ist er heute?«
»Er müßte um die achtzig sein.«
Niemand, so schien mir in diesem Augenblick, konnte die Fragenach der türkischen Seele und danach, ob die Türkei reif für Europa oder obEuropa reif für die Türkei sei, besser beantworten als dieser Chronist derWandlung, dieser Ikonograf der Republik, der selbstzu einer nationalen Ikone geworden war.
»Wo könnte er sein?«
»Wenn er noch lebt, dann in Istanbul.«
Istanbul-Tableaux
Das schallende Gelächter der Möwen amMorgen
Um das türkisfarbene Eisengeländer geknotet waren ihre dreckigenHandtücher, an denen sie sich die Finger abrieben, wenn sie wieder kleineKöderfische zerschnitten und die Teile auf die Haken geschoben hatten. Immerneue Männer in Mänteln und Mützen kamen hinzu und banden die kurzen Tüchernebeneinander fest, und einer der kleinsten unter den Neuankömmlingen zoggleich aufgeregt ein Algenknäuel aus dem Bosporus. Was war das für einGelächter, was war das für ein vergnüglicher Morgen!
Auf dem Boden standen Plastikeimer mit dem Aufdruck »Yogurt«, in denen Meeräschen, Bastardmakrelen undBlaubarsche japsten, und während eine tuckernde Jollebeinahe in den Bugwellen einer Fähre kenterte, gingen mehrere Angler auf der Galata-Brücke zugleich in die Hocke und blickten nach Eminönü auf die Neue Moschee, wo in Kürze der Muezzin dieGläubigen auf Allah einstimmen würde.
Da holte einer aus und schleuderte, wie ein antiker Speerwerfer,unter Einsatz seines ganzen Körpers die davoneilende Schnur aufs Wasser, beugtedie Knie, sprang auf und kurbelte ein paar Meter wieder ein. Fische ließen sichvorerst nicht anlocken. In Tausenden Kimmen Tausender mit einem Gummi amGeländer befestigter Holzvorrichtungen lagen Tausende Ruten, und jedesmal wenn einer der Angler die Schnur ins Wasserschleuderte, plätscherte und ploppte es, und manhörte das Gurgeln des Bosporus, wenn man im Untergeschoß der Brücke stand undauf den Vorhang aus Nylonschnüren blickte. Entfernt, aber gut vernehmbar sangein junger Mann türkische Poplieder, bevor die Brücke vor einem wie üblichhemmungslos fahrenden Lastwagen erzitterte und das Röhren der Dieselmotorenjener alten Fähren, die den Bosporus hundertfach am Tag querten, die zarteStille des Augenblicks zunichte machte. Das schallende Gelächter der Möwen amMorgen verhöhnte den Irrsinn eines gerade beginnenden Tages, der keinerleiGewähr aufs große Glück hatte.
Die Brücke verband die Stadtteile Eminönüund Karaköy. Sie hatte ein oberes und ein unteresLeben. Oben war das Herrschaftsgebiet der Angler. Es gab keine Stunde, zu derkeiner da war; wer immer wollte, durfte seine Angel in den Flußwerfen, man brauchte keinen Erlaubnisschein und keine Konzession eines Beamten,der notfalls zu bestechen gewesen wäre. Die Angler der Galata-Brückewaren eine brüderliche Gemeinschaft, in der gesellschaftlicheKlassenunterschiede keine Rolle spielten. Sie kamen jeden Tag zusammen, um fürfünf Millionen Lira pro Kilogramm den verhetzten Passanten frischen Fisch zuverkaufen, direkt von der Angel, manche taten es, um sich ihren Lebensunterhaltzu verdienen oder der eigenen Familie ein kostenloses Abendessen ausunvorsichtigen Blaubarschen zu bereiten oder die eigene Frau, oder eine fremde,zu beeindrucken mit einem Plastikeimer voller Äschen. Die Angler hielten dieKälte des Morgens ohne weiteres aus, denn wenn es kalt ist, kommen die Fische,weil sie Hunger haben, und die Ruten biegen und die Eimer füllen sich und dasZappeln der Todgeweihten in der Luft ist so heftig wie die Freude der Angler.
Unten reihten sich Restaurants und Cafés und Teehäuseraneinander, mit Großbildschirmen und Übertragungen der Fußballspiele aus dertürkischen Süperlig, die so geschickt gelegt waren, daß jeden Tag ein Duell zu sehen war. Im Café Dersaadet saßen Männer und rauchten Wasserpfeife. Aus ihrenMündern quollen die dichten Dämpfe des mit dem Duft von roten Äpfeln aus Iranoder Dubai geschwängerten Rauchs. Selbstvergessen ließ ein Twen einen Stoß ausden Nasenlöchern entfleuchen, während er mit einem Freund Tavlaspielte und das Klacken der Steine auf dem Brett sich in den Rhythmusklatschender Zuhörer fügte, die jedes Lied einer fünfköpfigen Combo, aus derenKreis besonders ein schnauzbärtiger Mann mit seiner weinenden Geigeherausragte, mit großer Geste feierten. An den Wänden hingen vier gerahmteSchwarzweißfotografien von Melonenhändlern und Fischern am Ufer von Emi nönü. Sie hatten diegrobkörnige Patina einer verflossenen Zeit und das Versprechen einesunverdorbenen, von keinerlei Zoom und Zorn verstellten Blicks. Am unterenBildrand stand die Unterschrift des Fotografen. Sein Name war Ara Güler.
Überall roch es nach stark gegrilltem, leicht verkohltem Fischund herzhaft gebrannten Kastanien, deren Schale man sich, die Augen geschlossen, aufgesprungen vorstellte.Fliegende Händler knieten zwischen raubkopierten CDs, DVDs, Imitaten von Gucci-Taschen undNike-Sportschuhen, Geldbörsen mit seidenbestickten Bezügen und Lederjacken mitFellkragen auf quadratischen Decken am Boden und gingen mit den engagiertenVerkäufern von Taschentuchpaketen und Zigarettenpackungen in dissonantenWettstreit. Mobile Händler schoben ihre dreirädrigen Holzwagen mit Granatäpfeln,blauen Trauben, Erd-, Hasel- und Walnüssen frisch von der Schwarzmeerküste aufder Ladefläche durch die Massen, die in Begleitung einer hereinflatternden, während des Fluges verzweifelndenTaube der Unterführung zuströmten, und der hellblaugestricheneBeton der Brücke wirkte im Sonnenlicht unverschämt lieblich.
Auf Postkarten der Jahrhundertwende konnteman sehen, daß sie, die den Namen »Neue Brücke«getragen hatte und das Zentrum Konstantinopels gewesen war, eine Flaniermeiledarstellte, auf der befrackte Bohemiens mit Gehstock und Sonnenschirm, anderemit weißem Umhang und Fez auf dem Kopf zur »Neuen Moschee« flanierten. Auf denKarten des Jahres 1930 sah man die Fortschritte der bourgeoisen Urbanisierung:Pavillons mit Holzdächern, die Trambahn mit je einem Waggon in beideRichtungen, Laternenmasten aus jugendstilhaftgeschwungenem Gußeisen, Männer in weißen Hemden mitHosenträgern, Pakete auf den Schultern tragend, Einspänner, die Parade dereleganten Autos ohne Verdeck und im Hintergrund, vor dem ausgespieenen Dampfeiner Ausflugsfähre, die Phalanx der Kuppeln und Minarette, die wie edleRaketen in den Himmel stießen.
In der Gegenwart standen, von Karaköy nach Eminönü gesehen,linker Hand die im Bosporus, rechter Hand die im Goldenen Horn fischenden Angler.Unter der Brücke war eine wie ein Schiffsbug sich ausbuchtende, asphaltierteFläche, an deren Geländer, neben der orangefarbenen Leuchtboje, schweigend einPaar stand: Sie, das Kopftuch in den Böen flatternd, sah über seine Schulteraufs Goldene Horn, er, sie umarmend, stierte auf den Bosporus und gähnte. Andieser Stelle schien alles nach oben zu streben, die Laternen-, Schiffs- undFlaggenmasten und die zigfach spitz zulaufenden Minarette, und wäre ein kleinerPlanet auf Istanbul gefallen, so hätten ihn diese Dolche in der Tat aufgespießtund die Bewohner vor dem ungebührlichen Tod beschützt. Da schaltete sich einLautsprecher ein, es knackte kurz, jemand holte bedeutungsvoll Luft undschmetterte in heldenhaftem Tenor: »Allahu ekber!«
Ich blieb stehen und wollte eigentlich aufdie Neue Moschee am Ufer von Eminönü schauen, abermein Blick verfing sich in einem Gesicht voller Freude, als hätte ich den Köderangenommen, den der Mann unbewußt ausgeworfen hatte.
»Woher kommst du?«fragte er.
»Aus Deutschland.«
»Wolfsburg!«
»Nein, Hamburg.«
»Hamburg, ah «
»Wieso Wolfsburg?«
»Mein Onkel lebt in Wolfsburg.«
Sein Handschlag war hart. Er steckte sicheine amerikanische Lark mild an.
»Bist du verheiratet?«fragte er.
»Nein. Auch keine Kinder.«
Er zeigte seinen Ehering und lachte. SeinName war Hasan Bozkir. Er hatte sechsunddreißig Jahreeinzubringen, noch mehr schwarze als bereits graue Haare und einen großgewachsenen, an manchen Stellen wuchtigen,grundsätzlich aber nicht üppigen Körper.
Ich hatte mir vorgenommen, mich auf meinergesamten Reise vollkommen dem Zufall zu überlassen, weil man nur durch denZufall der Wirklichkeit gerecht werden kann, wenn man das sich offenbarendeLeben als solches annimmt, so unvermittelt, unbelastet und unvoreingenommen,wie es einem in diesem und jenem Augenblick zufällt, was eine Form, vielleichtdie einzige, von Wahrhaftigkeit und Wahrheit ist.
Der Zufall - Hasan nannte es Allah, ichspreche lieber von der Magie des Augenblicks - hatte uns auf der Galata-Brücke zusammengeführt, und auch er fand Spaß an derspielerischen Neugier, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede sich zwischenuns offenbaren würden und ob wir die gleichen Ansichten über die Liebe und dasLeben vertraten und vielleicht dieselbe Schwäche für europäische Frauenteilten. Hasan besaß eine kleine Bäckerei und hatte seinen Angestellten dasBrot fertigen lassen, wofür er ihm die Miete zahlte. Seit kurzem war dieBäckerei verpachtet, und Hasan lebte nun vom Pachtgeld und zahlte demAngestellten keine Miete mehr.
Hasan kam jeden Tag auf die Brücke, weiler sich entkommen wollte. Sein Leben langweilte ihn. Er war seit acht Jahrenmit einer Frau verheiratet, die er nicht liebte, und er hatte einen Sohn, dener nicht mochte. Als er achtundzwanzig war, hatten ihm seine Eltern einsiebzehnjähriges Mädchen aus dem Nachbardorf in der Region Konyapräsentiert und eine Hochzeit für angebracht befunden. An einem Sonntag warensie einander vorgestellt worden und fünf Tage später verheiratet. Warum erdamals zugestimmt hatte, stand auf dem Blatt einer Verwirrung im Affekt. Vielmehr als Liebe war es Trotz, seiner damals eifersüchtigen und besitzergreifenden Verlobten, die er hatte, bevor er seinejetzige Frau traf, zeigen zu wollen, daß er nicht vonihr abhängig war und es keiner göttlichen Intervention bedurfte, damit er, wenner es wollte, auf der Stelle eine andere Frau heiraten konnte. Der Sohn mußte noch in der Hochzeitsnacht gezeugt worden sein, erwar acht. Er liebte Computerspiele, Hasan Fußball. Worüber hätten Vater und Sohnreden sollen? Barsch war Hasans wegwerfende Handbewegung, wenn man ihn auf dieMöglichkeit von Glück ansprach.
Er holte seinen weißen Fiat Tipo, und wirfuhren den Bosporus auf Augenhöhe entlang ans Schwarze Meer in den Ausflugsort Kilyos, weil ein Ausflug für Hasan ein unerwartetesAbenteuer war. Den ganzen Fluß ostwärts standen undsaßen Angler am Ufer, manche lehnten auf ihren Motorrädern, hatten die Angelins Gelenk gesteckt und hielten ihr Gesicht in den betörend fröhlichen Himmel.In den kleinen Häfen der Stadtteile, die ausgebaute Buchten waren, schunkeltenFischkutter und Holzkähne, und wo immer hier Fischkutter und Holzkähneschunkeln, gibt es einen kleinen Fischmarkt, auf dessen Auslagen frischgefangene Exemplare des Palamut in Form einer Blütedrapiert liegen, und man kann eine Wette eingehen, daßan jedem noch so baufälligen Kutter und an jedem noch so verfallenden Kahn injedem noch so kleinen Hafen in leuchtendem Blutrot eine türkische Flaggeschwänzelt.
»Was machst du eigentlich in der Türkei?«
»Ich bin auf der Suche nach Ara Güler und der türkischen Seele.«
»Ara wer?«
Im Türfach steckte ein Flakon der Marke Himself, ein geradezu unmännlich süßer Duft, und inunbeobachteten Momenten schlug sich Hasan ein paar Schlucke daraus in die Handmulde,tatschte sie an Nacken und Hals und rieb sich ausführlich die Hände ein, bevorer sich eine Zigarette ansteckte. Wir fuhren über die Kuppe eines Hügels mitgrandioser Sicht auf den Bosporus, bestellt mit Häusern, die bereits keine mehrwaren, bevor sie je welche geworden wären. Sechzig, vielleicht mehrwiderrechtlich hingegossene Betonkubimit eingefallenen Ziegeldächern, deren traurige Gegenwart Hasan zu einerkleinen Wahrheit inspirierte.
»Das ist die Türkei. Einfach drauflosbauen, ohne Sinn und Verstand.«
»Alles andere wäre vielleicht zuvielOrdnung «
»Die Stadt hat gegen die Bauherrengeklagt. Der Bürgermeister will Grünflächen haben. Das kann jetzt hundert Jahreso häßlich hier stehen.«
DaßHasan die Schönheit liebte, war ein Verdacht, der sich ebenso erhärtete wieseine Leidenschaft für Volksmusik und Paranoia. Die Schuld für das schlechteVerhältnis der Türkei zu Griechenland lag für ihn eindeutig auf Seiten derGriechen, die den Türken jetzt Istanbul rauben wollten, weil sie glaubten, dasOsmanische Reich habe ihnen 1453 Konstantinopel geraubt. Und die Kurden warenes, die, in den Augen von Hasan Bozkir, demehemaligen Soldaten, der an der Grenze zum Iran Dienst getan und dortNachweise, genaugenommen Waffen und Bohnendosen made in USA gefunden hatte, mit den Amerikanern sein Landvon unten aushöhlten. Und die Armenier waren es, die der Türkei bis heute ewigeSchmach bereiteten, weil sie es gewesen seien, damals im Osmanischen Reich, diedie Türken zuerst beschossen und getötet hätten, daßsich die Türken natürlich hätten wehren müssen, und die Deportationen undMassaker also (die Hasan gar nicht leugnete) einzig die Reaktion der Türken aufdie Provokationen der Armenier gewesen seien, was mit historischerGerechtigkeit aber auch gar nichts zu tun habe. Denn angenommen, wie Hasansagte, die Türkei erklärte heute: Ja, wir haben damals Armenier umgebracht, eswar ein Genozid, so käme die armenische Regierung, die, so Hasan weiter, auslauter von Moskau gesteuerten Nationalisten bestehe, und würde der Türkei denöstlichen Landesteil nehmen und Städte wie Kars und Artvinund die sagenhaften Ruinen von Ani als ihr Eigentum reklamieren.
Noch vier Stunden blieben bis Iftar, wenn die Gläubigen im Ramadan nach Sonnenuntergangwieder essen, trinken, rauchen und lieben dürfen, jeden Tag ein bißchen früher, weil die Sonne jeden Tag ein bißchen früher untergeht. Wann das ist, merkt jeder, wenn,nach einem Kanonendonnerschlag, der Muezzin den Untergang besingt, und ich warüberrascht, daß Hasan, der Gott so ehrte wie seinenVater, am frühen Nachmittag gegen halb drei, im Zenit eines von Wärme und Lichtbehellten Tages, einen gegrillten Fisch mit mir aß.
»Du verstößt gegen das göttliche Gebot desFastens«, sagte ich.
»Ich darf das, weil ich ein Magenleidenhabe und regelmäßig essen muß.«
»Wer erlaubt es dir?«
»Ich zahle Geld an eine bedürftigeFamilie, der Vater ist tot und die Frau und die zwei Kinder leben das ganzeJahr von den Zuwendungen von Bekannten und den Gaben zu Ramadan.«
»Du kaufst dich frei.«
»Ja, wenn du so willst «
»Hat ein Imam es dir abgesegnet?«
»Nein.«
»Wer überwacht es? Du könntest dich ausder Pflicht stehlen «
»Ich mache es für mich und Gott.«
»Und wie hoch ist die Summe?«
»Man fragt sich, für wievielEuro am Tag man normalerweise ißt. In meinem Fallsind es etwa drei. Rechne das auf den Monat hoch, dann kommst du auf neunzig,und dann noch etwas drauf, dann sind es hundert.«
Wir saßen auf Plastikstühlen am Strand vonKilyos und sahen hinüber zu den Fischern des Dorfes,die auf ihren Kuttern standen, auf deren Ladeflächen sich leere Holzkistenstapelten und enttäuschte Netze lagen, die die Geschichte des Fischverlusts imSchwarzen Meer erzählten. Ein einsamer alter Mann saß auf einem Stuhl, drehtePerle für Perle seiner Gebetskette, und dem Wasser, das an die Kaimauerbrandete, entstieg der Geruch der Urtiefe. In vier weißen Eimern wurde der übriggebliebene Fang des Morgens aufbewahrt, eine traurigeAngelegenheit. So viel Traurigkeit über das Versiegen und Vergehen des Lebenswie im Gesicht des Fischverkäufers unter dem Coca-Cola-Sonnenschirm wohnte, derin Momenten, in denen er sich unbeobachtet glaubte, einen kleinen Handspiegelzu Rate zog, ob der Schnauzbart gehorsam und die Koteletten gleichauf waren undselbst bei einer so wenig adligen Tätigkeit wie dem Sitzen auf einem Schemeldarauf achtete, daß das beige Jackett und dieockerfarbene Wildlederweste, das weizengelbe Hemd und der aquamarinfarbeneSeidenschal ausreichend zur Geltung kamen. Sieben Finger bot er auf, als einRestaurantbesitzer Interesse an seinen Makrelen zeigte, sieben Finger undkeiner mehr zeigten auf die Fische, und dann nickte er, der Wortfaule, einemJüngeren zu, der acht Fische auf die Waage warf, bis das Kilo für siebenMillionen Lira ausgewogen war. Zum Abschied kein Wort, nur ein freundlichesLächeln seiner-, etwas Verstörung meinerseits, denn der Alte hatte keine Stimmemehr, und der schöne Seidenschal bedeckte den kaputten Kehlkopf, der vom Krebs durchwuchertwar.
© Malik Verlag
- Autor: Christian Schüle
- 2006, 299 Seiten, 24 farbige Abbildungen, 2 Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 13,4 x 21,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Malik
- ISBN-10: 3890293158
- ISBN-13: 9783890293158
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