Turin
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Turin - Eine literarische Einladung herausgegebenvon Margit Knapp und Maria Carmen Morese
LESEPROBE
CarloLevi
Alleenund Arkaden
Turinist die alte, unvergessene Stadt meiner Jugend, in der die Ideen undFreundschaften mit Hingabe gepflegt werden und die baumbestandenen Alleen solang, weit und leer sind, daß man glaubt, die Worte könnten fliegen und sichungehindert entfalten. Zu jeder Tageszeit warten diese Alleen auf jungeMenschen, die sich Wichtiges zu sagen haben, Dinge, die so groß und erhabensind wie die weißen Berge im Hintergrund. Des Nachts wird die ganze Stadt vonden barocken Bogengängen bis zu den Brücken des Pos zu einer einzigen, vonfloralen, mütterlichen Figuren gesäumten Arkade. In diesen jugendlichen Arkadenschlenderten wir in den aufregenden Zeiten der ersten Freundschaften auf undab, und unsere Stimmen hallten die dunklen Straßenfluchten entlang, bis sie weithinter den Stämmen der Platanen auf andere erregte und begeisterte Stimmentrafen. Jene endlosen Straßen schienen wie gemacht für diesen peripatetischen,juvenilen Überschwang voll grenzenloser, ungerichteter Kraft. Auch heute noch treffeich jedes Mal, wenn ich wieder dort bin, auf junge Leute, die Herren derStraße, die zu nächt licher Stunde im Schattengeflechtder Bäume auf den Straßen zusammenstehen und sich unterhalten. Dann fordern siesich plötzlich zum Wettlauf heraus, stieben wie die Spatzen auseinander, um gleichdarauf atemlos die Unterhaltung wieder aufzunehmen, ohne auf den einsamenRadfahrer zu achten, der, die Schirmmütze in die gesenkte Stirn gezogen,lautlos an ihnen vorüberzieht.
CesarePavese
Der Sommer
Von dem ganzen Sommer, den ich in der halbleeren Stadtverbrachte, weiß ich kaum etwas zu sagen. Ich brauchte nur die Augen zuschließen, da hat der Schatten wieder seine Funktion angenommen, Frische zuverbreiten, und die Straßen sind ebendies: Schatten und Licht, die einanderabwechseln, so daß es einen überfällt und verschlingt. Wir liebten den Abend,die heißen Wolken, die auf den Häusern lasten, die stille Zeit. Die Nachtwirkte dann auf uns etwa, wie wenn das kurze Halbdunkel den einschluckt, deraus der grellen Sonne wieder ins Haus tritt. Wir trafen uns, wenn der Abend hereinbrach- und schon war es Morgen, war ein weiterer ruhiger Tag. Ich erinnere mich, daßdie Stadt ganz uns gehörte - Häuser, Bäume, Cafétische, Läden. In den Läden,auf den Auslagetischen sehe ich Berge von Früchten vor mir. Ich erinnere mich anden warmen Duft und die Stimmen in den Straßen. Ich weiß, wohin in einerbestimmten Stunde das Sonnenviereck auf den Backsteinboden fällt. Von unshingegen und von unseren Worten finde ich so gut wie nichts wieder. Ich weiß,daß ich eine MengeObst aß; daß ich viele Male umarmt und umarmend einschlief; daß ich am Abend unterwegströdelte, mich an den Vorübergehenden, den Farben, an jedem Augenblick freute,weil ich wußte, ich wurde erwartet. Ich weiß, daß meine Hände und mein Körper etwasZärtliches, Lebendiges geworden waren, genauso wie damals an den Sommerabendendie Wolken, die Luft und die Hügel. All das war mir vertraut, ich möchte fast sagenalltäglich, wenn mir die Folge jener Tage nicht noch jetzt wie eine Täuschungerschiene, so sehr, daß mir manchmal, wenn ich darüber nachdenke, die ganzeJahreszeit wie ein einziger gemeinsam verlebter Tag vorkommt. Dieser Tag war inmir, und die Gemeinsamkeit, die mit dem Sommer endete, gab ihm einen Sinn undeine Stimme. Wenn wir einander verließen, schien es uns nicht, als trennten wiruns, sondern als warteten wir anderswo aufeinander - so, wie hinten in denStraßen, wenn man sich trifft, der Hügel entschwindet und wiedererscheint. Wirsahen jeden Abend mit an, wie er sich in Schatten hüllte, und er war uns so liebin seiner Stille, daß er sozusagen zum Zimmer gehörte, er wurde ein Teil desFensters und der Straße. In der kurzen Nacht entschwand er nicht - so nahe warer. Der Tag begann und endete mit ihm. Wir aßen Früchte und betrachteten ihn.Jetzt bleibt mir nichts als der Hügel und die Früchte. Die halbleere Stadtschien mir verlassen. Das Spiel des Schattens und der Sonne belebte sie sehr; eswar schön, an einem Fenster zu stehen und auf den Himmel, auf ein StückPflaster zu schauen. Das Bewußtsein, daß es außer Licht und kühlem Schattenetwas gab, was mir am Herzen lag und mit der Sonne wiederaufging und die Nacht schneller herbeiführte, gab jederBegegnung, die auf diesen Straßen geschah, einen Sinn. Da waren die Bäume, diedie Sonne tranken, da waren die Rufe der Frauen, da war eine große Stille. Wennich mein Zimmer verließ, fühlte ich andere Empfindungen und die Kühle desAbends voraus. Ich konnte schauen und jedes Ding lieben. Manchmal war da, ineinem ganz anderen Stadtteil, eine Piazza, die mich mit ihren Wolken und ihrerstillen Wärme erwartete. Keiner überquerte sie, kein Fenster tat sich auf, aberes taten sich die Tiefen der verlassenen Straßen auf, die auf eine Stimme oderauf einen Schritt warteten. Es war heller Tag. Später, am Abend, dachte ich ansie zurück und fand sie unverändert wieder. An jenen Abenden verlor der Sommernicht an Kraft, denn wir wußten, daß jeder von uns an den anderen dachte. Jedegewohnte Bewegung berührte in meinem Herzen die Gewißheit, bewegte sie einwenig und brachte sie zum Überfließen. Dann kräuselte sich das Licht - ich sahes wie eine ganz frische Erinnerung -, als träte ich plötzlich in einen anderenSommer ein, jenseits der Körper und Stimmen, als hätte mir das Zimmer, das ichverlassen hatte, als ein Schatten gedient, der mich verschwiegen aufnahm. Alleswurde im gleichen Augenblick, da es geschah, zur Erinnerung, denn es geschahfrüher in mir als außerhalb. Es war, als würde der lange Tag von mir selbstgeschaffen, und darum war mir nichts an dem Zimmer und dem Abend fremd; nichteinmal der Körper, der den meinen aufnahm, und die leise Stimme. Eines Abendswurden die Wolken dichter, es regnete die ganze Nacht. Ich wartete an einem Fenster- nicht dem unseren -, und die Spritzer und Tropfen kamen mir ins Gesicht. Ich wußte, am nächstenTag würde das Licht lebhafter und der Schatten kühler sein, und ich hatte keineEile, dort einzutreten, wo ich erwartet wurde. Es war der letzte Sommerregen,er veränderte die Farbe der Stadt. Ich hätte an dem geschützten Fenster warten können,aber ich ging hinunter in den Regen und lief durch andere Straßen. Ich dachte intensiv an unserFenster, dachte daran und entfernte mich davon. Hinten in den Straßen war derHügel, finster geworden, von dem zunehmenden Dunkel näher gerückt. Ich sah imRegen Fensterbretter und Haustore, die ich immer in der Sonne gesehen hatte.Alles war frisch und nah, und diesmal war meine Stadt wirklich verlassen. Als ich zurückkam, verliebtund mit den Gedanken bei den Straßen des nächsten Tages, fand ich das Zimmerleer, und das blieb es bis zur Nacht. Da stellte ich mich ans Fenster. Wirwaren noch viele Tage zusammen, solange die Jahreszeit dauerte; aber wir wußtenbeide, alles würde im Herbst zu Ende sein. So war es wirklich.
© VerlagKlaus Wagenbach
- Autoren: MARGIT KNAPP (HG.) , Maria Carmen Morese (Hg.)
- 2005, 2. Aufl., 120 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 11,5 x 20,9 cm, Leinen, Deutsch
- Herausgegeben: Margit Knapp, Maria C. Morese
- Verlag: Wagenbach
- ISBN-10: 380311232X
- ISBN-13: 9783803112323
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