Über den Fluss nach Afrika
Benita Steinach wurde von der englischen Familie Forrester adoptiert, nachdem sie als kleines Mädchen in Südafrika ein traumatisches Erlebnis hatte: Sie war Zeugin, wie ihre Mutter von Schergen des Apartheidregimes zu Tode gefoltert wurde. Seitdem leidet...
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Benita Steinach wurde von der englischen Familie Forrester adoptiert, nachdem sie als kleines Mädchen in Südafrika ein traumatisches Erlebnis hatte: Sie war Zeugin, wie ihre Mutter von Schergen des Apartheidregimes zu Tode gefoltert wurde. Seitdem leidet sie unter einer Teilamnesie, bis sie achtzehn Jahre später in London ein geheimnisvolles Päckchen erhält, in dem sich die kleine Figur eines Flusspferds befindet. Das Wissen, dass dieser Talisman nur von ihrer Mutter stammen kann, setzt bei Benita blitzlichtartige Erinnerungsstücke frei. Da kommt ihr eine Geschäftsreise nach Südafrika sehr gelegen, um dort endlich die Mörder zu finden. Oder hat ihre Mutter gar überlebt? Die Suche beginnt auf Inqaba, der Farm der Familie Steinach in KwaZulu-Natal, wo sich ihr allmählich eine Wahrheit offenbart, die sie nie geahnt hätte.
Benita ist erfolgreiche Investmentbankerin in London. Ein geheimnisvoller Talisman zwingt sie, sich in ihrem Geburtsland S dafrika endlich auf die Suche nach der Wahrheit zu machen. Wer hat ihre Mutter zur Zeit der politischen Verfolgung umgebracht?
Benita Steinach wurde von der englischen Familie Forrester adoptiert, nachdem sie als kleines M dchen in S dafrika ein traumatisches Erlebnis hatte: Sie war Zeugin, wie ihre Mutter von Schergen des Apartheidregimes zu Tode gefoltert wurde. Seitdem leidet sie unter einer Teilamnesie, bis sie achtzehn Jahre sp ter in London ein geheimnisvolles P ckchen erh lt, in dem sich die kleine Figur eines Flusspferds befindet. Das Wissen, dass dieser Talisman nur von ihrer Mutter stammen kann, setzt bei Benita blitzlichtartige Erinnerungsst cke frei. Da kommt ihr eine Gesch ftsreise nach S dafrika sehr gelegen, um dort endlich die M rder zu finden. Oder hat ihre Mutter gar berlebt? Die Suche beginnt auf Inqaba, der Farm der Familie Steinach in KwaZulu-Natal, wo sich ihr allm hlich eine Wahrheit offenbart, die sie nie geahnt h tte ...
"Herrliches Lesefutter!" L becker Nachrichten ber "Feuerwind"
"Nehmen Sie die Emotionen von 'Vom Winde verweht' und die Landschaftsbilder von 'Jenseits von Afrika', und Sie bekommen eine Vorstellung von Gerckes Roman: richtig sch nes Breitwandkino im Buchformat." Brigitte ber "Schatten im Wasser"
Über den Fluss nach Afrika von Stefanie Gercke
LESEPROBE
Beauty Makuba war das erste Opfer. Am Morgen des 4. Novembers fielsie mit ausgestreckten Armen kopfüber in ein dreißig Meter tiefes Loch in ihremGarten, das sich über Nacht aufgetan hatte, brach sich erst beide Arme, gleichdarauf den Schädel und zum Schluss das Genick. Schmerzen spürteBeauty nicht. Sie war sofort tot.
An diesem Tag fanden ihre Nachbarn in dem kleinen Ort Promise,der vom Bergbau lebte, nicht weniger als sechshundert solcher Löcher in ihrenGärten. Das tiefste war so tief, dass es dem Hausbesitzer bodenlos erschien under fürchtete, in seinem Vorgarten einen direkten Zugang zur Hölle zu haben. Dasregte ihn sehr auf, aber niemand konnte ihm die Frage beantworten, woher dieseLöcher wirklich kamen und wohin sie führten.
Die Minengesellschaft wandte sich an ihre Geologen. Da alles am Guy-Fawkes-Day geschah, an dem die Engländer mitFreudenfeuern und dem Abbrennen von spektakulären Feuerwerkskörpern feierten,dass besagter Guy Fawkes und seine Mitverschwörer imJahr 1605 mit ihrem Plan scheiterten, das englische Parlament in die Luft zujagen, unterlief dem Geologen vom Dienst, der obendrein an jenem Tag Geburtstaghatte, eine Nachlässigkeit. Er übersah einige ungewöhnliche, verhältnismäßigflache Zacken auf dem Seismographen. In seiner langatmigen Erklärung hieß es,dass es sich um einen Kaverneneinbruch handele, der ja vor Ort keineBesonderheit sei.
Die hiesigen Minen waren ins Dolomitgestein getrieben, und durch die Schächtesickerte immerfort Oberflächenwasser nach, das von der Minengesellschaftständig abgepumpt werden musste. Langsam, aber stetig fraß das Wasser dasGestein, und es entstanden riesige Kavernen, bis irgendwann die Höhlendecke ausdem weichen Kalkgestein nicht mehr stark genug war und einbrach. Der Einbrucherzeugte ein dumpfes Grollen und einen kurzen Erdstoß. Dann war es vorüber. DieBosse der Minengesellschaft waren beruhigt und machten sich auf, um ebenfallsausgiebig den Festtag zu begehen.
Prudence Magubane aberhatte eine Erklärung, die den Bewohnern von Promise,die bis auf wenige Ausnahmen alle von dunkler Hautfarbe waren, mehreinleuchtete. Schon immer, so behauptete die alte Frau, der man nachsagte, dasssie in mondhellen Nächten allerlei geheimnisvolle Riten praktiziere, habe siedavor gewarnt, dass der Boden unter dem Ort durchlöchert sei wie ein Baumstammvon Termiten, weil da unten etwas lebe, das von unvorstellbarer Gefräßigkeitsei.
Viele der Anwohner glaubten ihr, kauften ihre Medizin und gossen sie in dieLöcher, um das unterirdische Biest zu füttern. Das Geschäft florierte, und Prudence Magubane zog bald vonihrer Wellblechhütte in ein Haus aus Stein, und in ihrem Wohnzimmer flimmertefortan Tag und Nacht ein Fernseher.
Aber das unterirdische Biest war unersättlich. Es lag auf der Lauer undwartete.
Am Abend des Guy-Fawkes-Day bebte die Erde erneut,ein Stollen brach ein, und zehn Minenarbeiter der King Midas Gold Mine wurdenverschüttet. Unerfahrene verwechselten das Geräusch gern mit dem einesvorbeifahrenden Zuges, aber jeder, der in dieser Gegend lebte, hielt es füreinen Kaverneneinbruch, jede Frau, deren Mann in den Minen arbeitete, schickteein Stoßgebet zum Himmel und hoffte, dass es nicht den ihren getroffen hatte.
Dieses Mal jedoch war es anders. Was die Höhlen zusammenbrechen ließ, war nichtein Kaverneneinbruch, sondern ein tektonisches Beben. Die Geologen wiesenschnellstens darauf hin, dass Derartiges in dieser Gegend außerordentlichungewöhnlich sei und sich wohl kaum wiederholen könne.
Aber das Biest hatte die Zähne gefletscht.
Die zehn Minenarbeiter konnten nach einigen Tagen nur noch tot geborgen werden.Das Begräbnis wurde vom Fernsehen übertragen, und die Frauen warfen sich überdie Särge ihrer Männer und schrien und klagten, wasdie Stimmbänder hergaben, damit ihre Ahnen die Toten mit offenen Armenempfingen.
Es war eine sehr würdige Zeremonie.
Linnie merkte von alledem nichts. Das Weltgescheheninteressierte sie schon lange nicht mehr. Außerdem lebte sie weit weg an dersüdöstlichen Küste des Indischen Ozeans, hatte weder je von dem Ort Promise noch von den mysteriösen Erdlöchern gehört. Siebesaß weder Radio noch Fernsehen, und die Zeitungen, die sie las, waren die,die andere Leute weggeworfen hatten, denn der Busch war ihr Heim, der Himmelihr Dach und der warme Sand ihr Bett. Sie war zu einem Nachtwesen geworden, einflüchtiger Schatten zwischen den Büschen, ein trockenes Rascheln im Ried,nichts mehr. Seit achtzehn Jahren war sie nichts als ein Schatten. Unsichtbar.Nicht vorhanden.
Das war gut so, denn niemals durfte einer von denen erfahren, dass es sie nochgab, durfte nicht ahnen, dass sie noch atmete. Ob sie noch lebte, war eineFrage, auf die sie die Antwort selbst nicht geben konnte. Die, die sie einstwar, existierte nicht mehr, und mit jedem Tag entfernte sich ihr früheres Lebenweiter von ihr. Als schaute sie durch das falsche Ende eines Fernrohrs,erkannte sie jetzt nur noch einen schwach leuchtenden Punkt, und auch der würdebald erloschen sein. Dann blieb nur noch Finsternis. Und der Hass. Denn solangenicht vollbracht war, was sie sich damals geschworen hatte, musste sie atmen.Ein und aus. Ein und aus.
War es vorbei, würde sie sich fallen lassen, sich auflösen, einfach aufhören zusein. Von ihr würde nichts bleiben, nur tanzende Stäubchen in denSonnenstrahlen. Manchmal, wenn die Schmerzen zu schlimm wurden, wünschte siediesen Augenblick herbei, mehr als alles andere auf der Welt. Dann stieg sie impflaumenfarbenen Morgengrauen nackt in die Wellen, dort, wo keine Felsen unterder Oberfläche lauerten, legte sich auf den Rücken und ließ sich mitgeschlossenen Augen ins Licht treiben, hoffte, dass das Meer sie mitnehmenwürde in die Ewigkeit. Aber dann schwappte ihr unweigerlich eine vorwitzigeWelle in den Mund, oder irgendetwas knabberte an ihrem Zeh, sie verschlucktesich, musste husten und spucken, und ihr Überlebensreflex setzte wieder ein.Sie schwamm zurück an Land.
Eine große grellbunte Heuschrecke landete auf ihrem Arm. Spüren konnte sie dasnicht. Unter den wulstigen Narben, die ihren gesamten Körper überzogen, warendie Nerven weitgehend zerstört, nur stellenweise fühlte sie etwas, und dannwaren es immer Schmerzen, furchtbare, spitze Schmerzen. An vielen Tagen war sienur noch ein einziger Schmerz, und es kam ihr vor, als hätte sie nicht nur dieVerbindung zu ihrem Körper verloren, sondern auch zu ihrer Seele. In ihremInneren war sie tot, alle menschlichen Gefühle waren gestorben.
Alle, bis auf eines. Den Hass. Lichterloh brannte er in ihr, hatte jedes andereGefühl mit seinen Flammen verzehrt. In diesem Feuer schmiedete sie ihre Wut,schürte die Glut, verlor nie ihr Ziel aus den Augen.
Mit einer blitzschnellen Handbewegung fing sie die Heuschrecke ein und setztesie ins Blätterwerk. Der Insektenleib war prall und weich, das konnte siefühlen. Die Fingerspitzen ihrer rechten Hand waren unversehrt. Sie hatte siezur Faust geballt, und deswegen waren sie verschont geblieben. Sachte strichsie über den pferdeähnlichen Kopf des Tieres, die festen Flügeldecken, zupftedie durchsichtigen, pergamentartigen Hinterflügel hervor, bis sie sich wieFächer entfalteten. Es gab Zeiten, da hatte sie das Insekt gegessen, meistgeröstet, aber auch roh, wenn sie hungrig genug war, obwohl es abstoßend bitterschmeckte. Aber jetzt hatte sie sich ihr Lager nicht weit vom Ort im Dünenwaldbereitet, und wenn es ihr nicht gelang, in der Morgendämmerung einige Krebse,vielleicht einen Tintenfisch oder sogar einen Fisch zu fangen, der zur dieserfrühen Tageszeit noch schlafend auf dem schattigen Grund eines Teichs imFelsenriff lag, wanderte sie abends im Schutz der Dunkelheit zu den Mülltonnen,die hinter den großen Hotels standen. Dort war der Tisch stets reich gedeckt.
Vor einigen Monaten hatten Kinder, die den dichten Buschstreifen unterhalb derPromenade erkundeten, sie in ihrem Unterschlupf aufgestöbert, und einigeunerschrockene hatten sich ihr genähert, zögernd Fragen gestellt und dann ihrenehrlichen Antworten gelauscht. Sie waren zu ihren Freunden geworden undbrachten ihr nun ab und zu sauberes Wasser und Essen, das sie ihrer Mutterstahlen oder mit einer kleinen Lüge abschwatzten. Nicht einer verriet sie.Eifersüchtig hüteten alle ihr Geheimnis vor den Erwachsenen, und sie belohntedie Treue der Kinder, indem sie ihnen kleine Figuren aus Lehm modellierte oderFlöten aus Bambus schnitzte, den sie nachts aus einem üppigen Garten in derNähe des Strandes schnitt, nachdem sie den blutdurstig geifernden Wachhund mitsanften Schnalzlauten und saftigen Fleischresten aus den Mülleimern desSteakrestaurants in ein lammfrommes Hündchen verwandelt hatte.
Nach ihrem abendlichen Beutezug durch die Mülltonnen der Hotels duschte siesich unter den Strandduschen. Seewasser und Meeresluft überzogen ihre Hautschnell mit Salzkristallen, an denen der grobe Sand so fest haftete, dass sieihn nicht abschütteln konnte. Dann juckten die Narben so unerträglich, dass siesich die Haut vom Leibe hätte kratzen mögen. Sie wartete immer, bis der Strandmenschenleer war und auch niemand mehr über die Promenade wanderte. Bei ihrerDuschorgie beobachtet zu werden wäre ihr sehr peinlich. Erst wenn kein Sandkornmehr an ihr klebte, der Juckreiz endlich nachließ, drehte sie den Hahn zu.
In den letzten Monaten hatte sie sehr viel Gewicht verloren, und ihre von glänzenden Wulstendurchzogene, schuppige Haut warf dicke Falten, was ihr ein reptilienhaftesAussehen verlieh. Ein Reptil mit eingefallenen Flanken und zu großem Kopf, sosah sie sich.
Die Chamäleonfrau nannte man sie, wegen ihrer Haut und der Tatsache, dass ihrKopf bis auf einige dünne Haarbüschel kahl war, das wusste sie wohl. Sie hattedie Kinder reden hören. Aber es machte ihr nichts aus, und nie benutzte sie ihrAussehen, um ihnen Angst einzujagen. Kinder liebte sie. Ihr eigenes, ihreinziges, hatte sie verloren, gleichzeitig mit dem Vater, der die Liebe ihresLebens gewesen war. Die Erinnerung an den, der den Tod ihres Mannes verursachtund sie zu dem Dasein einer lebenden Toten verdammt hatte, die Erinnerung andiesen Mann hielt ihren Hass lebendig.
Sie ballte die Fäuste, presste die Lider zusammen, zwang sich, sich diesen Manngenau vorzustellen, rief sich seine sanfte, tödliche Stimme ins Gedächtnis,suhlte sich in der Erinnerung an den Schmerz, den ihr seine manikürten Händezugefügt hatten, konzentrierte sich auf diesen weiß glühenden Punkt in ihremZentrum. So lebhaft war ihre Vorstellungskraft, dass sie ihn riechen konnte,diesen abstoßenden Geruch nach männlichem Schweiß, vermischt mit Zigarrenrauchund seinem klebrig-süßlichen Rasierwasser. Sie musste sich das antun, damit siein jener einen Sekunde, auf die sie seit vielen Jahren mit der grausamen Geduldeiner hungrigen Raubkatze lauerte, dem Augenblick, in dem er vor ihr stehenwürde, bereit war.
Nun war dieser Augenblick ganz nah. Einen Monat würde er in seinemLuxusapartment in Umhlanga Rocks verbringen. Ausgeschäftlichen Gründen, so hatte es in einer der Zeitungen gestanden, die sietäglich aus dem Papierkorb vor dem La Spiaggiafischte in der Hoffnung, irgendwann eine Spur dieses Mannes zu finden. Beimschnellen Durchblättern war ihr Blick an dem Foto eines Mannes hängengeblieben, der mit verschränkten Armen den Betrachter kühl von oben herabmusterte. Es deckte sich exakt mit dem Bild von ihm, das seit achtzehn Jahrenwie mit Säure in ihre Seele geätzt war, und die Erkenntnis, wen sie vor sichhatte, hatte sie mit der Wucht eines Schmiedehammers getroffen, ihr für Minutenjegliche Kontrolle über sich selbst geraubt, allein die Erinnerung verursachtedieselbe Reaktion wie in jenem Moment. Sie zitterte, ihr Herz setzte aus, ihreHände flogen, sie rang nach Atem, als würde ihr jemand die Kehle zudrücken. Siehatte die Zeitung fallen lassen und war, hilflos gegen die Dämonen kämpfend,hinunter auf den schattigen Strand gestolpert, entlang den auslaufenden Wellen,bis sie irgendwann lang hingeschlagen und liegen geblieben war. Ihr Mund hattesich mit Salzwasser gefüllt, Sand ihr die gepeinigte Haut heruntergerieben.Wie ein Stück Treibholz rollte sie in der auflaufenden Flut hin und her, biseine Welle sie hinauf auf den trockenen Sand gespuckt hatte.
Die wilden Filmfetzen vor ihren Augen waren allmählich verblasst, und einetödliche Ruhe hatte sich ihrer bemächtigt. Sie ging zurück zum La Spiaggia, fand die Zeitung und hatte im Licht derStraßenlampe den Artikel gelesen, der neben dem Bild abgedruckt war, und damitden süßesten Augenblick der vergangenen achtzehn Jahre erlebt. So lange hattesie ihn gesucht, hatte sich ans Leben geklammert, hatte sich geschworen, esnicht eher zu verlassen, bis sie ihn gefunden hatte, bis er für alles auf Hellerund Pfennig bezahlt hatte, und jetzt hatte sie ihn gefunden.
Er nannte sich heute anders, als er damals hieß, und es war nicht sein Gesicht,das dort abgebildet war. Offenbar hatte er seine Gesichtszüge mittelskosmetischer Operationen verändern lassen - besonders das Kinn erschien ihrkantiger -, aber seine elegante Erscheinung, die arrogante Kopfhaltung, seineGestik verrieten ihn. Das Haar trug er so militärisch kurz wie früher, aber eswar nicht mehr dunkelbraun, sondern weiß.
Wie damals verbarg er seinen durchtrainierten Körper unter feinstem Stoff,glich auch heute noch äußerlich dem, was er ursprünglich gewesen war: einWissenschaftler. Was nicht auf den ersten Blick ersichtlich war, was sie aberam eigenen Leib erfahren hatte, waren seine Besessenheit und die unglaublicheKraft, die er besaß, eine Kraft und Schnelligkeit, die sie eigentlich bishernur im Tierreich erlebt hatte. Sein Körper schien nur aus Muskeln zu bestehen.Er war nicht groß, unter eins achtzig sicherlich, so schätzte sie ihn, obwohler größer wirkte.
Unter seinem neuen Namen war er heute offenbar ein prominenter Geschäftsmann,nicht verheiratet, darauf würde sie wetten. Seine Zuneigung galt Jungen mitglatter Haut und knospenden Körpern, das hatte sie beobachtet, damals.
Die Bilder jagten ihr einen Schauer über ihre zerstörte Haut, lösten dabeieinen starken Juckreiz aus. Sie beherrschte sich und kratzte sich nicht, weildie Wunden, die sie sich dann selbst zufügte, in dem feuchtwarmen Seeklimaleicht vereiterten und oft für Monate nicht heilten. Zwar kannte sie sich gutaus, wusste welche Pflanzen in den Dünen, zu Brei zerdrückt, aseptisch wirktenund die Heilung förderten, aber seit einiger Zeit konnte sie nicht mehrignorieren, welches Risiko diese Infektionen für sie darstellten.
Die Anzeichen waren nur zu deutlich. Lange hatte sie geglaubt, sie wäre nocheinmal davongekommen, nachdem die Bande von zugekifftenTsotsies sie in ihrem Versteck am Strand vor Durbans Goldener Meile aufgestöbert hatte. Durch dieVerkrüppelungen und die straff spannenden Narben konnte sie sich nur mit großerMühe und nur sehr langsam fortbewegen. Sie entkam ihnen nicht. Einer nach demanderen hatten sie sich auf sie gestürzt, wieder und immer wieder.
Es war eine dunkle, mondlose Nacht gewesen, kurz vor der Wintersonnenwende, undkeiner hatte ihr Äußeres richtig wahrgenommen. Erst als die Kerle von ihrabgelassen und sie halb bewusstlos vor Schock und Schmerzen liegen lassenhatten, hatte einer von ihnen ein Feuer angezündet - um sich zu wärmen oder Heroinzu kochen, das konnte sie nicht sagen -, und erst dann bemerkten ihre Peinigerihr Aussehen.
»Es ist ein Tier, es ist das Chamäleon«, schrie einer, und alle stobenentsetzt davon.
Das Chamäleon war der Todesbote der Zulus, und sie hatte trotz ihres Zustandesein grimmiges Gefühl von Gerechtigkeit verspürt, weil sie wusste, dass selbstbei den Zulus, die schon im Bauch der Stadt geboren worden waren, der Glaube andie Mythologie ihres Volkes tief verwurzelt war. Diese Männer würden wissen,dass sie dem Tod geweiht waren, und egal, wie sie starben, in ihrem letztenAugenblick würden sie das Wesen vor sich haben, das Schuppen trug und aussahwie ein großes Reptil und doch eine Menschenfrau war. Ihre verbleibende Zeitauf Erden würde keine angenehme werden, dessen war sie sich sicher. Es war einschwacher Trost, und er hielt nicht lange an.
Obwohl sie wusste, dass antiretrovirale Medikamente,die, kurz nach der Infektion verabreicht, den Ausbruch der Krankheit verhindernoder zumindest verzögern konnten, in Südafrika illegal waren, hatte sie sichvoll verzweifelter Wut zum nächsten Krankenhaus geschleppt. Weinend hatte siedie junge indische Ärztin in der Notaufnahme um das rettende Medikamentangefleht. Aber vergeblich, sie wurde abgewiesen. Rasend vor Angst, hatte sie geschrien, war den Gang entlanggekrochenund hatte an Türen gehämmert, bis zwei Krankenpfleger sie einfingen.
»Stell dich nicht so an«, hatte einer der beiden geknurrt und sie - durchEinweghandschuhe geschützt - gepackt und vor die Tür gesetzt. Sie nahm es ihnennicht übel. In einem Land, wo alle sechsundzwanzig Sekunden eine Frauvergewaltigt wurde, war ihr Schicksal ein alltägliches. Nur in den müden Augender Ärztin hatte sie tiefstes Mitleid gesehen.
An diesem Morgen war sie versucht gewesen, einfach ins Meer zu gehen und weithinauszuschwimmen, bis sie die Kraft verließ, es keinen Weg mehr zurückgab undsie in die stille, weiche Tiefe sinken würde, immer weiter, bis das Licht überihr sich verdunkelte, die Stille tiefer wurde und endlich nichts mehr da warals Frieden. Keine Schmerzen, keine Sehnsüchte. Nichts mehr. Stundenlang hattesie am Saum der Wellen gestanden und hinaus ins sturmgepeitschte wintergraueMeer gestarrt. Doch dann hatte sie ein streunender Hund angefallen, und einpaar Halbwüchsige bewarfen sie mit Steinen und verhöhnten sie mit üblen Namen.Da war die Wut zurückgekommen, und sie wusste, dass sie nie aufgeben würde, biser die Rechnung in Gänze beglichen hatte.
© Heyne Verlag
- Autor: Stefanie Gercke
- 2007, 1, 796 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453265475
- ISBN-13: 9783453265479
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