'Und ich dachte, es sei Liebe'
Zieh mich aus! von CatherineJoubert und Sarah Stern
LESEPROBE
EINLEITUNG
Kleider sind allgegenwärtig. Sie stapeln sich in Schränkenund Geschäften, werden als Objekte der Begierde in Zeitschriften beworben,definieren soziale Codes, werden verschenkt oder getauscht und machen uns beimSchlussverkauf verrückt. Ihre Allgegenwart, die durch ein wachsendes Interesseder Öffentlichkeit noch verstärkt wird, ist erstaunlich und bringt uns auf dieFrage: Warum nimmt Kleidung in unserem Leben einen so wichtigen Platz ein? Wasverspricht sie uns durch ihre verschwiegenen Falten hindurch, was wir nichtbereits haben? Was wollen wir mit ihrer Hilfe kompensieren oder für anderedarstellen? Wie setzen wir sie, meistens unbewusst, ein? Unser Verhältnis zurKleidung hat viele Aspekte. Eines Abends, nachdem wir im Schlussverkauf ineinen wahren Kaufrausch verfallen waren, der uns mit einem vagen Schuldgefühlzurückließ, fragten wir uns: Was war die Ursache dieses Kleiderfimmels, der unsan jenem Tag in Italien dazu veranlasst hatte, die Florentiner Uffizien zu ver-schmähen und uns lieber in den Schlussverkauf zu stürzen? Was war das für eineErregung, was war das Geheimnis dieser Trunkenheit? War es Modebewusstsein?
Wahrscheinlich, aber nicht nur das, denn sich zukleiden ist vor allem anderen ein Grundbedürfnis. Der Mensch ist das einzigeLebewesen, das sein Fellkleid täglich erneuert. Aber die Wahl dieses Kleidesist nie rein zufällig, selbst wenn man meint, ihr kaum Aufmerksamkeit zu schenken.Auch wenn wir uns immer gleich anziehen, geben wir damit unbewusst viel überuns selbst preis. Sofort fielen uns tausend Geschichten ein. Das Buch war inseinen Grundzügen schon fast fertig. Jeden Tag dasselbe tragen, sich ganz inSchwarz kleiden, Shopping-süchtig sein, sorgsam die Kleider von Verstorbenenaufbewahren - es gibt viele Arten sich anzuziehen, in denen immer wieder einanderes intimes Verhältnis zur Kleidung zum Ausdruck kommt, und die jeweiligepersönliche Geschichte spielt dabei eine entscheidende Rolle. Unter einerscheinbar belanglosen Oberfläche verbergen sich die geheimen, unbekanntenRegungen unserer Wünsche. Die Kleidung, unsere zweite Haut, gehört sowohl zuunserem Inneren wie zu unserem Äußeren, sie wahrt die Intimität und wendet sichzugleich an andere. Kleidung ist die Schnittstelle zwischen Subjekt und Welt. Siekann das Subjekt verbergen oder enthüllen.
Die Art, wie wir uns kleiden, gehört zu unserer persönlichenGeschichte: Sie entspringt einer Wahl, ist durch unseren Lebenslaufüberdeterminiert und begrenzt auf ihre Art den Spielraum der individuellenFreiheit, zunächst im Verhältnis zu unseren Angehörigen, zur Familie, dann zuunserem sozialen Umfeld. Die Kleidung orientiert sich am Muster derSelbstkonstruktion, sie enthüllt die Beziehung des Individuums zu seinem Bildvon sich selbst. Sie spiegelt die Brüche wider, die dieses Selbstbild durchSiege und Niederlagen erfahren hat. In der Kleidung finden sich Spuren derverschiedenen Identifikationen und Erinnerungen an unsere ersten Beziehungenmit anderen Menschen. Aber unser Verhältnis zur Kleidung kann nur in einemgegebenen Kontext und für ein bestimmtes historisches Subjekt entschlüsseltwerden. Deshalb können wir nicht versprechen: »Sag mir, wie du dich anziehst,und ich sage dir, wer du bist.« Dem Leser soll vielmehr geholfen werden, anhandvon Beispielen Überlegungen zu einem Bestandteil seines Alltagslebensanzustellen, dem der schlechte Ruf der Oberflächlichkeit anhaftet. Geschichtenaus der Kindheit veranschaulichen einige der Erwartungen, die am Werk sind,wenn Eltern Kleidung für ihre Kinder aussuchen. Kinderkleidung birgt dieErinnerung an die erste mütterliche Pflege. Das Kind wird von seiner Mutter angezogen,die einer bestimmten Familientradition verpflichtet ist, bestimmte Träume,Wünsche, Enttäuschungen in sich trägt. Mit der Kleidung drücken die Eltern demKörper des Kindes ihren Stempel auf und formen ihn unbewusst nach ihren Wünschen.Machen sie das Kind zu einem Baby? Zu einem kleinen Erwachsenen? Zu ihrem Einund Alles im kostbaren Gewand? Die Kleidung trägt die Zeichen dieserErwartungen, deren Bedeutung das Kind in den Blicken der anderen lesen kann,sobald es den Schoß der Familie verlässt und sich in die Schule oder in dieGesellschaft anderer Kinder begibt. Wenn ein Kind die ersten sozialen Kontakteknüpft, dürfen seine Kleider es auf keinen Fall von den anderen unterscheiden, sondernmüssen es zum Teil der Gruppe werden lassen. Jugendliche reagieren mit Kleidungauf die Zumutungen der Pubertät, mit ihrer Hilfe lässt sich die sexuelleEntwicklung des Körpers verbergen oder hervorheben. Jugendliche streben nachUnabhängigkeit von ihren Eltern. Für sie wird die Kleidung zur Speerspitze der Selbstaneignung,sie drückt unterschiedliche soziale Codes aus und setzt sie in Beziehung zuihrer Peergroup. Später, wenn es zu den ersten Liebesbeziehungen kommt, werdendie Karten neu gemischt: Kleidung verführt oder versteckt, enthüllt die demLiebespaar eigene Phantasie. Unter Freundinnen werden über die Kleidung auchzwiespältige Gefühle ausgetauscht. Im Lauf der Zeit hinterlassen Todesfälleoder Verluste Erinnerungsstücke in Form von Kleidern, und Gewohnheiten verfestigensich. Und eine alte Dame, die ihren Verstand verliert, findet darin Trost, dasssie sich schön anzieht.
Vom kleinen Mädchen in Jungensachen bis zum modischenFummel - die Kleidung ist eine Leinwand, auf die wir Tag für Tag unsere Freudenund Leiden projizieren. Geschichten gibt es so viele wie Arten, sich zukleiden. Vielleicht werden Sie mit Hilfe unserer Überlegungen den Schleier des Geheimnissesein wenig lüften können.
© DVA
Übersetzung: Christiane Seiler
- Autor: SIBYLLE BERG (HG.)
- 2006, 2, 224 Seiten, Maße: 13 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Hrsg. v. Sibylle Berg
- Herausgegeben: Sibylle Berg
- Verlag: DVA
- ISBN-10: 3421059209
- ISBN-13: 9783421059208
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