Und niemand hört ihr Rufen
Als die kleine Lexie vor sieben Jahren verschwand, löste das eine Katastrophe im Leben ihrer Mutter aus. Seitdem klammert sich die Staatsanwältin Sarah an die Hoffnung, ihre Tochter irgendwann wieder in die Arme schließen zu dürfen....
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Und niemand hört ihr Rufen “
Als die kleine Lexie vor sieben Jahren verschwand, löste das eine Katastrophe im Leben ihrer Mutter aus. Seitdem klammert sich die Staatsanwältin Sarah an die Hoffnung, ihre Tochter irgendwann wieder in die Arme schließen zu dürfen. Ein geheimnisvoller Anruf bestätigt schließlich den Verdacht, dass Lexie noch am Leben ist: Sarah hört die Stimme ihrer Tochter. Doch bevor sie gegen den Entführer ermitteln kann, verschwindet wieder ein 9-jähriges Mädchen.
Eine aufregende Geschichte, die ihre Leser verfolgt und bis zum Schluss den Atem anhalten lässt.
"Die ganze Verzweiflung einer Frau, deren Kind entführt wurde. Dieser Thriller schlägt alles!"
Booklist
Lese-Probe zu „Und niemand hört ihr Rufen “
Und niemand hört ihr Rufen von Karen Robards... mehr
SARAH MASON HATTE SICH DEN TOD, wenn er sie dereinst zu sich holen würde, attraktiver aussehend vorgestellt. Ungefähr so wie Brad Pitt in Rendezvous mit Joe Black. Der Typ Mann, mit dem man sich ganz gerne davonmacht. Der Kerl mit der Halloween-Totenkopfmaske aus billigem Plastik jedoch war ungefähr zwanzig Jahre alt, etwa eins siebzig groß und dürr, mit langem, fettigem, schwarzem Haar, einem einzelnen dicken Silberohrring und einem fusseligen Ziegenbart, der unter der Maske hervorguckte. Er trug knöchelhohe Turnschuhe, ein rotes, extrem weites Hornets-T-Shirt, und seine Jeansbermudas waren so weit, dass sie bei einer zu plötzlichen Bewegung herunterzurutschen drohten.
Mit anderen Worten, heute Abend war der Tod eindeutig nicht in Gestalt des romantischen Herzensbrechers unterwegs.
Die Waffe, die er auf sie richtete, war groß und böse. So groß und böse, dass Sarah bei ihrem Anblick zunächst der Atem stockte, während ihr Hirn nach der ersten Schockstarre langsam wieder auf Minimalfunktion schaltete.
»H e, Sie da! Lady! Rüber zur Kasse!«
Es gab keinen Zweifel. Die Maske bedeckte zwar seinen Mund, doch er brüllte sie an, zielte mit dieser großen schwarzen Waffe auf sie. Seine Bewegungen waren fahrig und nervös. Durch die ovalen Löcher in der Plastikmaske konnte sie seine Augen sehen. Sie waren von jener glänzenden Schwärze, die auf erweiterte Pupillen durch Drogen
missbrauch hindeutete, und flackerten unruhig, als er sich blitzschnell in dem Gang des Supermarkts um blickte, in dem er sie abgefangen hatte.
Sie stand stocksteif da und war außerstande, sich zu bewegen. Gefangen in diesem scheintotartigen Zustand, in dem das entsetzliche Geschehen zunächst so unwirklich wie ein böser Traum erschien, konnte Sarah den Mann nur benommen anstarren.
Das kann nicht wahr sein. Ich bin doch nur hier, um Hundefutter zu kaufen...
»Beweg dich!«, schrie er, da sie sich nicht rührte.
Ihr Herzschlag setzte aus. Ihre Gedanken rasten. Sie schluckte krampfhaft.
»Ja. Ja, okay.«
Durch den schrillen Klang seiner Stimme wieder in die grauenhafte Realität zurückgerissen, drückte Sarah die große blaue Schachtel mit Trockenfutter an die Brust, wegen der sie spätabends kurz nach elf in den Quik-Pik gefahren war, und setzte sich in Bewegung.
»Los, los! Beeilung!« Von einem Bein auf das andere tretend, fuchtelte er erregt mit der Waffe herum und zielte in ihre Richtung, während sein Blick hin und her huschte.
»Alles okay.« Sie beschwor jeden einzelnen Tag herauf, den sie in ihrer vierjährigen Berufspraxis als stellvertretende Staatsanwältin von Beaufort County, South Carolina, mit Kriminellen verbracht hatte, um ihrer Stimme Festigkeit zu verleihen. Als Leiterin der Abteilung für Kapitalverbrechen hatte sie solche erbärmlichen Kleinganoven wie dieses Bürschchen zum Frühstück verputzt. D och dies hier war kein Gerichtssaal, und es stand auch nicht die Zukunft dieses Typen auf dem Spiel, sondern ihr Leben. Jetzt sollte oder vielmehr musste sie alles daran setzen, um eine persönliche Beziehung aufzubauen. Das war ein elementarer Grundsatz des Kurses »Frauen gegen Vergewaltigung«, den sie mitgestaltete: Sorgt dafür, dass der Angreifer euch als Person wahrnimmt, denn das erhöht eure Chance, heil davonzukommen. »Alles in Ordnung. Bleiben Sie ganz ruhig.«
»Ich bin ruhig. Erzähl du mir bloß nichts von ruhig bleiben! Ruhig bleiben! Wer glaubst du, wer du bist?«
Okay, falscher Spruch.
»Beweg deinen Arsch zur Kassel« Er wippte auf den Fußballen, stieß die Waffe wie ein Florett in ihre Richtung, und aus Angst, ein Schuss könnte sich lösen, spannte sich Sarah instinktiv an. » Los!«
Sarah verabschiedete sich von dem Konzept, eine Beziehung zum Angreifer aufzubauen, beschleunigte ihren Schritt und senkte den Blick, während sie verzweifelt darüber nachsann, wie sie aus dieser Misere wieder herauskommen könnte. Sobald ihr klar geworden war, dass im vorderen Teil des Ladens ein Raubüberfall stattfand, hatte sie auf ihrem Handy die angerufen. Das war die gute Nachricht. Das Handy am Ohr und das Hundefutter in der Hand, war sie danach in Richtung des vermeintlichen Hinterausgangs geflohen, quer durch die Halle, von der die Toiletten abzweigten. Ehe sie Gelegenheit gehabt hatte, auf die Anfrage der Leitstelle zu antworten, war dieser Typ aus dem Damenklo herausgeschossen und durch die Halle gerannt, worauf sie gezwungenermaßen die Richtung geändert und ihr - wie sie hoffte - nach wie vor mit der Leitstelle verbundenes Handy in die Handtasche geschoben hatte.
Doch es war ihr privates Handy, und das bedeutete: Selbst wenn der Typ von der Leitstelle die Verbindung nicht abbrechen und den Anschluss überprüfen würde, würde er lediglich ihre Privatadresse herausfinden. Es wäre unmöglich, den Anruf bis hierher zurückzuverfolgen.
Das war die schlechte Nachricht.
Und damit nicht genug. Selbst wenn die Cops Kenntnis von dem Überfall erhielten, würden sie vermutlich schnurstracks wieder kehrtmachen, sobald sie erkennen würden, dass sie diejenige war, die Hilfe benötigte. Sie war sich nämlich ziemlich sicher, dass sie auf der polizeiinternen Liste der unbeliebtesten Personen zurzeit den ersten Platz belegte.
»Dämliche Schlampe«, sagte der Räuber. Seine Worte wurden durch die Maske kaum gedämpft.
Augenblicklich schoss Sarahs Adrenalin in die Höhe. Schlampe war eines jener Wörter, auf das sie wie auf Knopfdruck reagierte, obwohl man meinen sollte, sie habe diesen Ausdruck inzwischen schon oft genug gehört, um gelassen darüber hinweggehen zu können. Bleib cool, mahnte sie sich. Jetzt war sie fast auf gleicher Höhe mit ihm, nah genug, um seinen strengen Geruch wahrzunehmen. Entweder hielt er nichts vom Duschen, oder er war so nervös, dass sein Deodorant schlicht versagt hatte. Wie auch immer, er stank. Der Durchgang war nur knapp einen Meter breit. Um zur Kasse zu gelangen, müsste sie sich im Abstand von wenigen Zentimetern an dem Mann vorbeischieben. Bei der Vorstellung überlief sie eine Gänsehaut. Dafür könnten natürlich auch die Kühltruhen zu ihrer Linken verantwortlich sein, deren eisiger Atem um ihre nackten Beine und Arme strich - wegen der draußen herrschenden Hitze von zweiunddreißig Grad war sie lediglich in Shorts und Tank-Top gekleidet -, doch das glaubte sie nicht. Sie war sich ziemlich sicher, dass ihre Angst die Ursache für das Kribbeln war, das sie verspürte.
Was, auf eine verquere Art und Weise, auch eine positive Seite hatte, denn sie war bisher überzeugt gewesen, sie habe ihre Angst vor dem Tod irgendwann im Verlauf der letzten sieben schrecklichen Jahre verloren. Nachts, wenn das Grauen am schlimmsten war, sah sie dem Tod sogar mit einer gewissen Vorfreude entgegen. Wahrscheinlich geriet sie einfach in Panik, weil sie mit einer Waffe bedroht wurde, was völlig verständlich war. Kein Mensch, der bei vollem Verstand war, wollte eine Kugel in den Kopf kriegen. Vor allem nicht, wenn man nur schnell Hundefutter kaufen wollte.
»Hast du Scheiße im Hirn oder was? Beweg dich, hab ich gesagt!« Der Totenkopfkerl funkelte sie an. Ungeduldig sprang er auf und ab, sodass die in seiner Hosentasche befindlichen Münzen oder ein Schlüsselbund oder irgendwelche anderen Metallteile klimperten.
»Ja, okay«, sagte Sarah in beruhigendem Ton, während sie demonstrativ schneller ging. Ihre Flip Flops verursachten auf dem harten, glatten Boden ein weiches, klatschendes Geräusch. Es war interessant zu beobachten, dass ihr Herz um so schneller schlug, je näher sie dem Typen kam. Ihr Körper revoltierte eindeutig gegen die Aussicht auf den möglichen Tod. Sie atmete schnell und registrierte, dass ihr am ganzen Körper der kalte Schweiß ausbrach und ihr Magen sich verknotete. Auch ihre Knie schlotterten.
Was sagte das über ihr Leben aus, wenn sich die Todesangst als positive Empfindung erwies?
»Alles okay da hinten, Mann?«, rief der zweite Räuber vom vorderen Bereich des Ladens aus.
»Ja«, antwortete der Totenkopfkerl. »Alles unter Kontrolle.« Und schon schaute er wieder Sarah an. Er senkte die Stimme. »Ich warne dich: Verarsch mich ja nicht. Los, beweg dich gefälligst etwas schnellen«
Als er die Waffe auf sie richtete, wurde der Ausdruck in seinen Augen gefährlich. Sarah hatte den Eindruck, dass er jetzt sein Image als harter Kerl unter Beweis stellen musste,
und fiel folgsam in einen leichten Trab. Regel 101 für den
Überlebenskampf au f der Straße: Versuch niemals am Image
eines Irren zu kratzen. Den Blick gesenkt und mit hängenden Schultern machte sie sich so klein wie möglich. Sie sah ihn absichtlich nicht an, vermied bewusst jeden Augenkontakt. Und nur deshalb, weil sie den Blick gesenkt hielt, erspähte sie, als sie an dem Kerl vorbeistapfte, das kleine Mädchen unter dem mit abgepackten Donuts beladenen runden Tisch am Ende des Gangs.
Auf dem Tisch lag eine lange weiße Plastikdecke. Auf dieser Seite fehlten gut zwanzig Zentimeter bis zum Boden. Das Mädchen lag zusammengerollt unter dem Tisch, und Sarah sah nur zwei dünne, dicht an die Brust gezogene gebräunte, schmutzige Beine; zwei gleichermaßen gebräunte, dünne, schmutzige Arm e, die um die Beine geschlungen waren; ein hellgelbes T-Shirt; nackte Füße; und ein kleines Gesicht, halb verdeckt von langen, verfilzten, kaffeebraunen Haaren. Das Mädchen sah Sarah direkt an, seine Augen groß und dunkel und voller Angst.
Sarah blinzelte. Ihr Atem geriet ins Stocken. Für einen intensiven Moment, der sich zu einer herzzerspringenden Ewigkeit auszudehnen schien, verhakten sich ihrer beider Blicke. Sarahs Herz begann wie wild zu pochen - doch dann setzte ihr Verstand wieder ein, und sie fand die Kraft, sich von dem Anblick loszureißen und wegzusehen. Er könnte ihrem Blick gefolgt sein...
Bitte, Gott, lass ihn das Kind nicht finden.
»M ach die verdammte Kasse auf!«, brüllte der andere Räuber - offenbar waren die Räuber nur zu zweit - der Frau hinter der Ladentheke zu.
»Ja, Sir.«
Im selben Moment, als Sarah aus dem Gang hervortrat, sprang die Kasse mit einem Rattern und einem hellen Ping auf. Jetzt sah sie die Frau hinter der Theke, die auf den noch zitternden Schubwagen der Kasse schaute, und den Räuber auf der anderen Seite der Theke, der mit seiner Waffe auf die Frau zielte. Die großmütterlich wirkende Kassiererin war ungefähr sechzig Jahre alt, klein und gedrungen, mit grau meliertem Haar, das sich um ihr Gesicht lockte, und einer roten Dienstuniform, deren Jacke über ihren Matronenbrüsten spannte. Ihre Lippen bebten, und sie sah den Räuber voller Furcht an.
»Pack es hier rein.« Er schob der Frau eine abgenutzte weiße Plastiktüte zu. Am ganzen Leib zitternd kam sie dem Befehl nach und schob mit fahrigen, ungeschickten Bewegungen das Geld in die Tüte. Dieser Mann war größer und bulliger als der Totenkopfkerl. Und er wirkte auch ruhiger. Zumindest hielt er seine Knarre gerade, statt ständig damit herumzufuchteln, und er bimmelte und klingelte auch nicht wie ein Glockenspiel im Sturm. Er war ebenfalls ein eher dunkler Typ mit fettigem Haar, und Sarah fragte sich flüchtig, ob die beiden wohl Brüder seien. Der zweite Räuber hatte sein Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, wodurch die wulstige weiße Narbe an seinem Hals zu sehen war. An seinem Ohr blitzten sechs oder sieben Diamantstecker, die von unten nach oben immer kleiner wurden. Kein Ziegenbart, zumindest keiner, der unter der grauen Wolfman-Plastikmaske zu sehen gewesen wäre. Die Ärmel seines schwarzen T-Shirts waren abgeschnitten, sodass eine Tätowierung auf dem linken Bizeps zu sehen war. Sarah kniff die Augen zusammen. Die Tätowierung sah aus wie eine Art Vogel - vielleicht ein Adler? Was immer sie darstellen sollte, sie würde sie definitiv wiedererkennen.
Das Ziel des heutigen Abends: Überleben, um für eine Jury diese Tätowierung identifizieren zu können.
»Hast du überall nachgesehen? Ist außer ihr niemand mehr da?«, fragte Wolfm an eindringlich, während er sich ihnen zuwandte. Sarah achtete darauf, dem Blick seiner
kalten schwarzen Augen auszuweichen, in denen nichts von der Nervosität zu erkennen war, wie sie der Totenkopfkerl an den Tag legte. Dieser Typ war der böse Bube, wurde Sarah bewusst, derjenige, der das Sagen hatte. Er war der Anführer. Und wenn es hart auf hart ginge, vermutlich auch der Mörder. Der Gedanke jagte ihr einen Schauer über den Rücken.
»Klar", erwiderte der Totenkopfkerl.
»Bist du sicher?»
»Scheiße, ja, Mann. Warum behandelst du mich ständig so, als wäre ich ein gottverdammter Trottel?»
»Ich hab nur gefragt..»
»Hör auf mit der Fragerei, lass uns das hier lieber zu Ende bringen.«
Durch das große Ladenfenster konnte Sarah sehen, dass die Tankstelle menschenleer war. Bis auf ihren blauen Sentra war der Parkplatz wie ausgestorben. Auch die Kreuzung vor dem Quik-Pik war leer. Jenseits des erleuchteten Parkplatzes war die Nacht schwarz und still. Sarah und die Kassiererin und das kleine Mädchen unter dem Tisch waren ganz auf sich gestellt. In den großen, runden Überwachungsspiegeln, die den Ausgang flankierten, beobachtete sie, wie der Totenkopfkerl dicht hinter ihr auftauchte. Immer wieder blickte er nervös hinaus auf den Parkplatz, klimperte mit dem Wechselgeld in seiner Hosentasche und scharrte mit den Füßen. Der Lauf seiner Waffe zitterte ein wenig, als er auf ihren Rücken zielte.
Bei der Vorstellung, jeden Moment von einer Kugel zerfetzt werden zu können, geriet Sarahs Herzschlag ins Stolpern. Theoretisch mochte sie vielleicht mit dem Tod liebäugeln, doch heute Abend wurde ihr hier, in diesem überklimatisierten Quik-Pik bewusst, dass sie definitiv nicht sterben wollte.
»Ist das alles?« Drohend lehnte sich Wolfman über die Theke, worauf die Kassiererin, über deren Wangen nun Tränen liefen, versuchte, ihm die halb gefüllte Plastiktüte zu überreichen. Mit einer heftigen, groben Geste wehrte er die Tüte ab. »Heb das Schubfach hoch. Da werden doch die Scheine aufbewahrt. Glaubst du, ich weiß das nicht? Versuch ja nicht, m ich für dumm zu verkaufen!« Sein Blick wanderte von der Kassiererin zu einem Punkt über Sarahs linker Schulter: zum Totenkopfkerl. »Hast du die Klos überprüft?«
»Hab ich doch gesagt. Ja, verdammt!«
»0 kay, okay, wollte m ich nur noch einmal vergewissern.«
Als die Kassiererin das leere schwarze Plastikschubfach aus der Kasse hob, spürte Sarah, wie sich etwas in den unteren Teil ihres Rückens bohrte. Ein Blick nach oben in den Spiegel bestätigte ihre schlimmste Befürchtung. Der Totenkopfkerl war direkt hinter ihr - und die Mündung seiner fetten, schwarzen Knarre presste sich in ihren Rücken. Sie konnte nichts anderes tun, als sich ruhig zu verhalten. Jede unerwartete Bewegung könnte seinen nervösen Zeigefinger am Abzug dazu verleiten, sich zu krümmen. Ihre ganze Willenskraft aufbietend, blieb sie reglos stehen und biss die Zähne zusammen, während ihr aus jeder Pore der kalte Schweiß ström te. Im Spiegel sah sie auch sich: kreidebleich, mit aufgerissenen Augen, wildem Blick und im wahrsten Sinn des Wortes zu Tode erschrocken. Ihre fest zusammengepressten Lippen waren dünn und blutleer, ihr kurzes, gestuftes schwarzes Haar, noch feucht vom Duschen im Fitnessstudio, war an ihren Kopf geklatscht, sodass ihre Augen und die kräftigen Wangenknochen ihr Gesicht dominierten, und ihr Rücken war gekrümmt wie bei einer buckligen alten Frau, während sie die Großpackung Hundefutter mit beiden
Armen an ihren zu dünnen Körper presste. Sie war erst einunddreißig Jahre alt, sah aber älter aus, sogar wesentlich älter, wie sie schockiert feststellte. Sicher, es mochte an der Angst liegen, die alles Blut aus den Adern schwemm te, oder am Fehlen jeglichen Make-ups oder an der grässlichen Beleuchtung, woran auch immer - doch Fakt war, dass sie die hagere, hohläugige Frau, die ihr verzweifelt aus dem Spiegel entgegenstarrte, kaum wiedererkannte.
Einstmals, vor langer Zeit, so lange her, dass sie sich kaum daran erinnern konnte, war sie hübsch gewesen...
»Wo ist die Scheißkohle?«
Wolfmans Gebrüll ließ Sarah zusammenzucken und lenkte ihre Aufmerksamkeit schlagartig wieder auf die Szene vor ihr zurück. Wolfman schwang sich gerade über die Theke und packte die Kassiererin, die eine einzelne Fünfzigdollarnote umklammerte, an den Haaren. Der Fünfziger flatterte neben Sarahs Füßen zu Boden. Die Geldtüte fiel mit einem Plopp auf die Theke. Die Kassiererin gab einen hohen, schrillen Laut von sich, der augenblicklich verstummte, als Wolfman ihren Kopf mit einem metallischen Klonk gegen die Kasse knallte.
Sarah wurde übel. Ihr M und wurde trocken. Von Mitleid und Entsetzen übermannt, starrte sie zu der Kassiererin hinüber.
»Willst du es mir endlich sagen? Hä? Hä?«
Während der Totenkopfkerl den heruntergefallenen Fünfziger aufsammelte, schlug Wolfman den Kopf der Kassiererin zwei weitere Male in rascher Folge mit der Stirn gegen die Kasse.
»Hä? H ä?« Klonk. Klonk.
Innerlich schrie Sarah. Deshalb biss sie die Zähne zusammen, ballte in ohnmächtigem Zorn die Fäuste, rührte sich aber nicht vom Fleck. Sie müsste irgendetwas tun - doch sie konnte nichts tun, außer in stummem Entsetzen zuzusehen. Wenn sie reagieren würde, würde sie lediglich die Gewalt auf sich lenken.
Bei dem Gedanken brach ihr erneut der kalte Schweiß aus.
Die schrillen Schreie der Kassiererin gingen in schluchzende Stöhnlaute über, als Wolfman ihre Stirn mit gewollter Brutalität gegen das unnachgiebige Metall der Kasse schlug. Auf das Stöhnen der Frau erfolgte eine Antwort, ein kaum hörbares Wimmern, das von dem kleinen Mädchen unter dem Tisch kam. Sarahs Augen weiteten sich, als ihr das bewusst wurde. Sie hielt den Atem an, vermied es aber, in Richtung des Tisches zu blicken.
Sie schwitzte Blut und Wasser. Ihr Herz klopfte dumpf in ihrer Brust.
Sei still. Sie konzentrierte all ihre Willenskraft auf diese telepathische Nachricht. Und für den Fall, dass das Kind die Nachricht nicht empfangen haben sollte, flehte sie noch einmal zu einer höheren M acht: Bitte, G ott, m ach, dass sie still bleibt. Lass nicht zu, dass die Kerle sie finden.
Allein bei dem Gedanken gefror Sarah das Blut in den Adern. So am bivalent sie auch über ihr eigenes Leben denken mochte, sie könnte es nicht ertragen, wenn ein Kind, ein kleines Mädchen, verletzt werden würde. Denn dass sie selbst und die Kassiererin verletzt oder noch schlimmer enden würden, daran hatte Sarah keinen Zweifel. Mit einem flauen Gefühl im M agen stellte sie sich der traurigen Wahrheit, dass sich die Situation unaufhaltsam verschlimmerte. Aus Erfahrung wusste sie, dass Gewalt, sobald sie einmal entfacht war, die Tendenz hatte zu eskalieren.
Die Erkenntnis war bitter, und Sarah kämpfte gegen ihre aufsteigende Panik. In dem Moment riss Wolfman den Kopf der Kassiererin brutal hoch. Die Frau schluchzte und
schnappte hörbar nach Luft. Ihre Augen waren aufgerissen, ihr Mund stand offen. Hinter Sarah klimperte der Totenkopfkerl lauter denn je. Die Klimaanlage dröhnte. Die Kühltruhen brummten. Es gab so viele verschiedene Geräusche, dass Sarah offenbar die Einzige war, die das Wimmern des Mädchens vernommen hatte - oder zumindest die Einzige, die diesen Laut einzuordnen wusste.
Komm nicht raus!, befahl sie dem Mädchen telepathisch. Sie spürte, wie Schweißbäche zwischen ihren Schulterblättern herunterrannen. Ihr Herz klopfte wie bei einem Langstreckenläufer. Ihr Mund war so trocken, dass sich die Zunge wie Leder anfühlte.
»Wo ist die Scheißkohle?«, brüllte Wolfman abermals und ließ nun endlich das Haar der Kassiererin los.
Ohne eine Antwort zu geben, sackte die benommene, weinende Frau nach vorne auf die Theke und stützte sich mit den Ellbogen ab. Ihr Schluchzen war schrecklich anzuhören. Direkt über der linken Augenbraue klaffte eine etwa fünf Zentimeter große Wunde, die so tief war, dass man an den Rändern einen weißen Fettstreifen erkennen konnte. Vor Angst wie erstarrt und gleichzeitig in grässlicher Sorge um das unter dem Tisch versteckte Kind, konnte Sarah nur hilflos zusehen, wie das Blut aus der Wunde quoll und über das Gesicht der Frau ström te.D ie Kassiererin - ihr Name war Mary, wie Sarah auf ihrem Namensschild lesen konnte - sah auf, und einen atemlosen Moment lang trafen sich ihrer beider Blicke. Die tränennassen Augen der Frau waren geschwollen und dunkel vor Angst und Schmerzen. Die Iris war von einem weichen Blau, verwaschen vom Alter. Hilf mir, schienen ihre Augen zu flehen, und der Blick brach Sarah fast das Herz. Doch sie konnte nichts tun. Wenn sie eingreifen würde, würde sie die Situation für alle nur verschlimmern.
Patsch! Wolfman verpasste Mary eine Ohrfeige, worauf ihr Kopf zur Seite fiel.
»0h.« Mechanisch hob sie die Hand an die Wange. Sie sackte noch mehr zusammen, zitterte heftig. Ihre Augen waren riesige Teiche aus Angst.
»Wo ist die Scheißkohle ?«
»Das ist alles. Ich schwöre, das ist alles.« Marys Stimme war vom Weinen so belegt und heiser, dass die Worte kaum zu verstehen waren. Als Wolfman drohend seine Hand vor ihrem Gesicht zur Faust ballte, begann sie lauter zu schluchzen und senkte den Blick auf die Theke, als hätte sie Angst, ihn anzusehen. »0 Gott, bitte, haben Sie Erbarmen mit mir. 0 Gott, bitte, haben Sie Erbarmen.«
Aus den Augenwinkeln nahm Sarah ein weißes Flattern wahr. Die Tischdecke hatte sich bewegt, wurde ihr bewusst. Das kleine Mädchen musste die Stellung gewechselt haben, um besser sehen zu können.
Sarahs Herzschlag setzte einen Takt lang aus. Ihr Atem geriet ins Stocken. Das Flattern konnte auch den Räubern nicht entgangen sein - doch nach einigen bangen Sekunden stellte sie erleichtert fest, dass die beiden offenbar nichts bemerkt hatten.
Bleib dort unten, befahl sie dem Mädchen stumm, während sie den Blick auf die schluchzende M ary geheftet hielt. Bitte, bitte, verhalt dich um Himmels willen ruhig und komm nicht raus.
Wolfman umkreiste den Totenkopfkerl. »Hast du nicht gesagt, um diese Uhrzeit haben die hier ein paar Tausender?«
»Ja, Duke, das stimmt. Genauso ist es.«
Wolfman wurde sehr ruhig. Sein Blick schien den Totenkopfkerl zu durchbohren. Die Luft zwischen ihnen knisterte förmlich vor Anspannung. Ein neuer Schrecken durchfuhr
Sarah, als ihr bewusst wurde, was sie soeben gehört hatte: Wolfmans Name lautete Duke. Sie - und Mary und das Kind - kannten jetzt seinen Namen.
Die Lage hatte sich damit deutlich verschlechtert.
»Hast du eben meinen Namen gesagt? Bist du blöd oder was?«, zischte Duke wutentbrannt, ehe er sich wieder der Kassiererin zuwandte. »Ich werde dich nur noch einmal fragen: Wo ist das Geld?«
Mary schnappte nach Luft. Ihre Miene verriet blanke Panik.
»Sie ... sie haben das Geld heute Abend schon früher abgeholt. Kurz nach ... nach zehn. Das ist alles, was ich seitdem eingenommen habe. Ich lüge Sie nicht an. Jesus ist mein Zeuge, ich lüge Sie nicht an.« Tränen und Blut vertuschten sich auf ihren Wangen. Unter der Schicht aus geronnenem Blut war ihre Haut aschgrau.
»Verdammte Scheiße!« Duke wandte sich um und warf dem Totenkopfkerl einen wütenden Blick zu. Im selben Moment erhaschte Sarah aus den Augenwinkeln erneut ein weißes Flattern. Sie konnte den angstvollen Blick des Mädchens förmlich spüren. Ihre Kehle schnürte sich zusammen. Ihr M agen verkrampfte sich.
Beweg dich nicht. Mach kein Geräusch...
»Du kannst doch mir nicht die Schuld geben«, protestierte der Totenkopfkerl.
»Scheiße, kann ich wohl.« Dukes Blick wanderte zu Sarah. »Nimm ihr die Handtasche ab.« Während der Totenkopfkerl Sarah die Handtasche von der Schulter riss, sprach Duke sie direkt an. »Ist da was drin?«
»Ungefähr vierzig Dollar. Und Kreditkarten.« Sarah war verblüfft, wie fest ihre Stimme klang. Innerlich glich sie eher einem bebenden Häufchen Wackelpudding. Ihre Beine fühlten sich schlapp wie zu lange gekochte Spaghetti an, und ihr Herz schlug wie die Flügel eines gefangenen wilden Vogels. Sie gab sich keinen falschen Hoffnungen mehr hin: Irgendwann innerhalb der nächsten paar Minuten würden M ary und sie sterben. Und wenn das kleine Mädchen nicht ruhig und in seinem Versteck bleiben würde, würde es ebenfalls sterben.
Was immer auch passiert, lass sie das Kind nicht finden.
»Wo ist deine Handtasche?«, fragte Duke Mary. M an merkte, dass er allmählich unter Druck geriet. Der Totenkopfkerl hatte aufgehört zu klimpern. Ein leises Rascheln verriet Sarah, dass er gerade ihre Handtasche durchwühlte.
Mary hing nach wie vor zusammengesackt über der Theke. Sie atmete mühsam, blutete, zitterte, weinte. Stetig tropfte Blut aus ihrer Stirnwunde auf die schwarze Theke und besprenkelte sie mit roten Flecken.
»Im ... im hinteren Bereich.« Ihre Stimme war schwach, zitternd.
Im hinteren Bereich. Toll. Großartig. Genau dort, wo sie lieber nicht hingehen sollten. Es bedurfte keiner medialen Fähigkeiten, um zu erkennen, dass »im hinteren Bereich« eine üble Sache war. Solange sie hier vorne waren, gab es zumindest die Chance, dass draußen ein Kunde vorfuhr, der die Situation erkennen und die Polizei benachrichtigen würde.
»Wie viel Geld ist in deiner Tasche?« Als Mary nicht sofort antwortete, packte Duke sie am Arm und schüttelte sie. »Wie viel?"
»Ein paar Dollar.«
»Scheiße.« Er warf dem Totenkopfkerl eine giftigen Blick zu. »Dieses ganze Ding ist nichts als ein Haufen Scheiße.«
Er trat einen Schritt zurück, riss die Waffe hoch und schoss Mary ins Gesicht. Einfach so. Ohne jede Vorwarnung. Sarah klappte der Unterkiefer runter, und noch ehe
sie überhaupt begriff, dass es jetzt passierte, zerfetzte eine Explosion ihr Trommelfell, und Marys linke Gesichtshälfte war plötzlich weg. Blut und Gewebeteile stoben in einer Wolke aus rotem Nebel nach hinten, besprenkelten die Zigarettenstangen und den Überwachungsmonitor und den zweiten der beiden großen, runden Spiegel und alles andere jenseits der Theke mit scharlachroten Spritzern. Mary
kreischte nicht, schrie nicht auf. Sie fiel einfach wie ein Stein
um, verschwand hinter der Theke, war nicht mehr zu sehen. Der Aufschlag ihres Körpers musste ein dumpfes Geräusch verursacht haben, doch das grässliche Klingeln in Sarahs Ohren übertönte alles andere. Ein neuer Geruch - die Übelkeit erregende Mischung aus Blut und Körperausdünstungen, wie sie bei einer frischen Leiche auftrat - stieg ihr in die Nase.
Ihr wurde übel. Ihr Herzschlag setzte aus. Der Sack mit Hundefutter glitt ihr aus den plötzlich tauben Arm en. Auch diesen Aufprall hörte sie nicht. Alles, was sie hören konnte -und die Laute waren teilweise überdeckt von dem Geklingel in ihren Ohren - waren die unablässigen Flüche des Totenkopfkerls und ein hoher klagender Laut, der, wie sie annahm, ihrer eigenen zugeschnürten Kehle entspringen musste.
Doch plötzlich dämmerte ihr, dass ihre Annahme falsch war, und gleichzeitig dämmerte ihr voller Entsetzen, woher der Laut kam. Ihr Blick glitt zur Seite. Das Kind...
»Mary! Ma-riiiie!«
Sarah schlug das Herz bis zum Hals, als das kleine Mädchen unter dem Tisch hervorschoss und auf die Kasse zuraste, wobei das verfilzte dunkle Haar wie eine Fahne hinter ihm herwehte. Durch das plötzliche Aufspringen des Mädchens fiel der Tisch mit ¬einem Knall um. Schachteln mit Donuts segelten durch die Luft, landeten in alle Richtungen verstreut auf dem Boden.
»Was, zum Teufel ...?« Duke wirbelte herum. Der Totenkopfkerl, dem sein letzter Fluch im Halse stecken blieb, tat es ihm gleich. Für den Bruchteil einer Sekunde waren beide offensichtlich zu verdattert, um irgendetwas anderes tun zu können, außer das Mädchen, das, wie eine Sirene kreischend, auf sie zustürmte, mit offenen Mündern anzustarren.
»Scheiße!« Duke erwachte aus seiner kurzen Erstarrung. Er hob die Waffe und zielte auf das schreiende Kind.
Übersetzung: Evelin Sudakowa-Blasberg
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
SARAH MASON HATTE SICH DEN TOD, wenn er sie dereinst zu sich holen würde, attraktiver aussehend vorgestellt. Ungefähr so wie Brad Pitt in Rendezvous mit Joe Black. Der Typ Mann, mit dem man sich ganz gerne davonmacht. Der Kerl mit der Halloween-Totenkopfmaske aus billigem Plastik jedoch war ungefähr zwanzig Jahre alt, etwa eins siebzig groß und dürr, mit langem, fettigem, schwarzem Haar, einem einzelnen dicken Silberohrring und einem fusseligen Ziegenbart, der unter der Maske hervorguckte. Er trug knöchelhohe Turnschuhe, ein rotes, extrem weites Hornets-T-Shirt, und seine Jeansbermudas waren so weit, dass sie bei einer zu plötzlichen Bewegung herunterzurutschen drohten.
Mit anderen Worten, heute Abend war der Tod eindeutig nicht in Gestalt des romantischen Herzensbrechers unterwegs.
Die Waffe, die er auf sie richtete, war groß und böse. So groß und böse, dass Sarah bei ihrem Anblick zunächst der Atem stockte, während ihr Hirn nach der ersten Schockstarre langsam wieder auf Minimalfunktion schaltete.
»H e, Sie da! Lady! Rüber zur Kasse!«
Es gab keinen Zweifel. Die Maske bedeckte zwar seinen Mund, doch er brüllte sie an, zielte mit dieser großen schwarzen Waffe auf sie. Seine Bewegungen waren fahrig und nervös. Durch die ovalen Löcher in der Plastikmaske konnte sie seine Augen sehen. Sie waren von jener glänzenden Schwärze, die auf erweiterte Pupillen durch Drogen
missbrauch hindeutete, und flackerten unruhig, als er sich blitzschnell in dem Gang des Supermarkts um blickte, in dem er sie abgefangen hatte.
Sie stand stocksteif da und war außerstande, sich zu bewegen. Gefangen in diesem scheintotartigen Zustand, in dem das entsetzliche Geschehen zunächst so unwirklich wie ein böser Traum erschien, konnte Sarah den Mann nur benommen anstarren.
Das kann nicht wahr sein. Ich bin doch nur hier, um Hundefutter zu kaufen...
»Beweg dich!«, schrie er, da sie sich nicht rührte.
Ihr Herzschlag setzte aus. Ihre Gedanken rasten. Sie schluckte krampfhaft.
»Ja. Ja, okay.«
Durch den schrillen Klang seiner Stimme wieder in die grauenhafte Realität zurückgerissen, drückte Sarah die große blaue Schachtel mit Trockenfutter an die Brust, wegen der sie spätabends kurz nach elf in den Quik-Pik gefahren war, und setzte sich in Bewegung.
»Los, los! Beeilung!« Von einem Bein auf das andere tretend, fuchtelte er erregt mit der Waffe herum und zielte in ihre Richtung, während sein Blick hin und her huschte.
»Alles okay.« Sie beschwor jeden einzelnen Tag herauf, den sie in ihrer vierjährigen Berufspraxis als stellvertretende Staatsanwältin von Beaufort County, South Carolina, mit Kriminellen verbracht hatte, um ihrer Stimme Festigkeit zu verleihen. Als Leiterin der Abteilung für Kapitalverbrechen hatte sie solche erbärmlichen Kleinganoven wie dieses Bürschchen zum Frühstück verputzt. D och dies hier war kein Gerichtssaal, und es stand auch nicht die Zukunft dieses Typen auf dem Spiel, sondern ihr Leben. Jetzt sollte oder vielmehr musste sie alles daran setzen, um eine persönliche Beziehung aufzubauen. Das war ein elementarer Grundsatz des Kurses »Frauen gegen Vergewaltigung«, den sie mitgestaltete: Sorgt dafür, dass der Angreifer euch als Person wahrnimmt, denn das erhöht eure Chance, heil davonzukommen. »Alles in Ordnung. Bleiben Sie ganz ruhig.«
»Ich bin ruhig. Erzähl du mir bloß nichts von ruhig bleiben! Ruhig bleiben! Wer glaubst du, wer du bist?«
Okay, falscher Spruch.
»Beweg deinen Arsch zur Kassel« Er wippte auf den Fußballen, stieß die Waffe wie ein Florett in ihre Richtung, und aus Angst, ein Schuss könnte sich lösen, spannte sich Sarah instinktiv an. » Los!«
Sarah verabschiedete sich von dem Konzept, eine Beziehung zum Angreifer aufzubauen, beschleunigte ihren Schritt und senkte den Blick, während sie verzweifelt darüber nachsann, wie sie aus dieser Misere wieder herauskommen könnte. Sobald ihr klar geworden war, dass im vorderen Teil des Ladens ein Raubüberfall stattfand, hatte sie auf ihrem Handy die angerufen. Das war die gute Nachricht. Das Handy am Ohr und das Hundefutter in der Hand, war sie danach in Richtung des vermeintlichen Hinterausgangs geflohen, quer durch die Halle, von der die Toiletten abzweigten. Ehe sie Gelegenheit gehabt hatte, auf die Anfrage der Leitstelle zu antworten, war dieser Typ aus dem Damenklo herausgeschossen und durch die Halle gerannt, worauf sie gezwungenermaßen die Richtung geändert und ihr - wie sie hoffte - nach wie vor mit der Leitstelle verbundenes Handy in die Handtasche geschoben hatte.
Doch es war ihr privates Handy, und das bedeutete: Selbst wenn der Typ von der Leitstelle die Verbindung nicht abbrechen und den Anschluss überprüfen würde, würde er lediglich ihre Privatadresse herausfinden. Es wäre unmöglich, den Anruf bis hierher zurückzuverfolgen.
Das war die schlechte Nachricht.
Und damit nicht genug. Selbst wenn die Cops Kenntnis von dem Überfall erhielten, würden sie vermutlich schnurstracks wieder kehrtmachen, sobald sie erkennen würden, dass sie diejenige war, die Hilfe benötigte. Sie war sich nämlich ziemlich sicher, dass sie auf der polizeiinternen Liste der unbeliebtesten Personen zurzeit den ersten Platz belegte.
»Dämliche Schlampe«, sagte der Räuber. Seine Worte wurden durch die Maske kaum gedämpft.
Augenblicklich schoss Sarahs Adrenalin in die Höhe. Schlampe war eines jener Wörter, auf das sie wie auf Knopfdruck reagierte, obwohl man meinen sollte, sie habe diesen Ausdruck inzwischen schon oft genug gehört, um gelassen darüber hinweggehen zu können. Bleib cool, mahnte sie sich. Jetzt war sie fast auf gleicher Höhe mit ihm, nah genug, um seinen strengen Geruch wahrzunehmen. Entweder hielt er nichts vom Duschen, oder er war so nervös, dass sein Deodorant schlicht versagt hatte. Wie auch immer, er stank. Der Durchgang war nur knapp einen Meter breit. Um zur Kasse zu gelangen, müsste sie sich im Abstand von wenigen Zentimetern an dem Mann vorbeischieben. Bei der Vorstellung überlief sie eine Gänsehaut. Dafür könnten natürlich auch die Kühltruhen zu ihrer Linken verantwortlich sein, deren eisiger Atem um ihre nackten Beine und Arme strich - wegen der draußen herrschenden Hitze von zweiunddreißig Grad war sie lediglich in Shorts und Tank-Top gekleidet -, doch das glaubte sie nicht. Sie war sich ziemlich sicher, dass ihre Angst die Ursache für das Kribbeln war, das sie verspürte.
Was, auf eine verquere Art und Weise, auch eine positive Seite hatte, denn sie war bisher überzeugt gewesen, sie habe ihre Angst vor dem Tod irgendwann im Verlauf der letzten sieben schrecklichen Jahre verloren. Nachts, wenn das Grauen am schlimmsten war, sah sie dem Tod sogar mit einer gewissen Vorfreude entgegen. Wahrscheinlich geriet sie einfach in Panik, weil sie mit einer Waffe bedroht wurde, was völlig verständlich war. Kein Mensch, der bei vollem Verstand war, wollte eine Kugel in den Kopf kriegen. Vor allem nicht, wenn man nur schnell Hundefutter kaufen wollte.
»Hast du Scheiße im Hirn oder was? Beweg dich, hab ich gesagt!« Der Totenkopfkerl funkelte sie an. Ungeduldig sprang er auf und ab, sodass die in seiner Hosentasche befindlichen Münzen oder ein Schlüsselbund oder irgendwelche anderen Metallteile klimperten.
»Ja, okay«, sagte Sarah in beruhigendem Ton, während sie demonstrativ schneller ging. Ihre Flip Flops verursachten auf dem harten, glatten Boden ein weiches, klatschendes Geräusch. Es war interessant zu beobachten, dass ihr Herz um so schneller schlug, je näher sie dem Typen kam. Ihr Körper revoltierte eindeutig gegen die Aussicht auf den möglichen Tod. Sie atmete schnell und registrierte, dass ihr am ganzen Körper der kalte Schweiß ausbrach und ihr Magen sich verknotete. Auch ihre Knie schlotterten.
Was sagte das über ihr Leben aus, wenn sich die Todesangst als positive Empfindung erwies?
»Alles okay da hinten, Mann?«, rief der zweite Räuber vom vorderen Bereich des Ladens aus.
»Ja«, antwortete der Totenkopfkerl. »Alles unter Kontrolle.« Und schon schaute er wieder Sarah an. Er senkte die Stimme. »Ich warne dich: Verarsch mich ja nicht. Los, beweg dich gefälligst etwas schnellen«
Als er die Waffe auf sie richtete, wurde der Ausdruck in seinen Augen gefährlich. Sarah hatte den Eindruck, dass er jetzt sein Image als harter Kerl unter Beweis stellen musste,
und fiel folgsam in einen leichten Trab. Regel 101 für den
Überlebenskampf au f der Straße: Versuch niemals am Image
eines Irren zu kratzen. Den Blick gesenkt und mit hängenden Schultern machte sie sich so klein wie möglich. Sie sah ihn absichtlich nicht an, vermied bewusst jeden Augenkontakt. Und nur deshalb, weil sie den Blick gesenkt hielt, erspähte sie, als sie an dem Kerl vorbeistapfte, das kleine Mädchen unter dem mit abgepackten Donuts beladenen runden Tisch am Ende des Gangs.
Auf dem Tisch lag eine lange weiße Plastikdecke. Auf dieser Seite fehlten gut zwanzig Zentimeter bis zum Boden. Das Mädchen lag zusammengerollt unter dem Tisch, und Sarah sah nur zwei dünne, dicht an die Brust gezogene gebräunte, schmutzige Beine; zwei gleichermaßen gebräunte, dünne, schmutzige Arm e, die um die Beine geschlungen waren; ein hellgelbes T-Shirt; nackte Füße; und ein kleines Gesicht, halb verdeckt von langen, verfilzten, kaffeebraunen Haaren. Das Mädchen sah Sarah direkt an, seine Augen groß und dunkel und voller Angst.
Sarah blinzelte. Ihr Atem geriet ins Stocken. Für einen intensiven Moment, der sich zu einer herzzerspringenden Ewigkeit auszudehnen schien, verhakten sich ihrer beider Blicke. Sarahs Herz begann wie wild zu pochen - doch dann setzte ihr Verstand wieder ein, und sie fand die Kraft, sich von dem Anblick loszureißen und wegzusehen. Er könnte ihrem Blick gefolgt sein...
Bitte, Gott, lass ihn das Kind nicht finden.
»M ach die verdammte Kasse auf!«, brüllte der andere Räuber - offenbar waren die Räuber nur zu zweit - der Frau hinter der Ladentheke zu.
»Ja, Sir.«
Im selben Moment, als Sarah aus dem Gang hervortrat, sprang die Kasse mit einem Rattern und einem hellen Ping auf. Jetzt sah sie die Frau hinter der Theke, die auf den noch zitternden Schubwagen der Kasse schaute, und den Räuber auf der anderen Seite der Theke, der mit seiner Waffe auf die Frau zielte. Die großmütterlich wirkende Kassiererin war ungefähr sechzig Jahre alt, klein und gedrungen, mit grau meliertem Haar, das sich um ihr Gesicht lockte, und einer roten Dienstuniform, deren Jacke über ihren Matronenbrüsten spannte. Ihre Lippen bebten, und sie sah den Räuber voller Furcht an.
»Pack es hier rein.« Er schob der Frau eine abgenutzte weiße Plastiktüte zu. Am ganzen Leib zitternd kam sie dem Befehl nach und schob mit fahrigen, ungeschickten Bewegungen das Geld in die Tüte. Dieser Mann war größer und bulliger als der Totenkopfkerl. Und er wirkte auch ruhiger. Zumindest hielt er seine Knarre gerade, statt ständig damit herumzufuchteln, und er bimmelte und klingelte auch nicht wie ein Glockenspiel im Sturm. Er war ebenfalls ein eher dunkler Typ mit fettigem Haar, und Sarah fragte sich flüchtig, ob die beiden wohl Brüder seien. Der zweite Räuber hatte sein Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, wodurch die wulstige weiße Narbe an seinem Hals zu sehen war. An seinem Ohr blitzten sechs oder sieben Diamantstecker, die von unten nach oben immer kleiner wurden. Kein Ziegenbart, zumindest keiner, der unter der grauen Wolfman-Plastikmaske zu sehen gewesen wäre. Die Ärmel seines schwarzen T-Shirts waren abgeschnitten, sodass eine Tätowierung auf dem linken Bizeps zu sehen war. Sarah kniff die Augen zusammen. Die Tätowierung sah aus wie eine Art Vogel - vielleicht ein Adler? Was immer sie darstellen sollte, sie würde sie definitiv wiedererkennen.
Das Ziel des heutigen Abends: Überleben, um für eine Jury diese Tätowierung identifizieren zu können.
»Hast du überall nachgesehen? Ist außer ihr niemand mehr da?«, fragte Wolfm an eindringlich, während er sich ihnen zuwandte. Sarah achtete darauf, dem Blick seiner
kalten schwarzen Augen auszuweichen, in denen nichts von der Nervosität zu erkennen war, wie sie der Totenkopfkerl an den Tag legte. Dieser Typ war der böse Bube, wurde Sarah bewusst, derjenige, der das Sagen hatte. Er war der Anführer. Und wenn es hart auf hart ginge, vermutlich auch der Mörder. Der Gedanke jagte ihr einen Schauer über den Rücken.
»Klar", erwiderte der Totenkopfkerl.
»Bist du sicher?»
»Scheiße, ja, Mann. Warum behandelst du mich ständig so, als wäre ich ein gottverdammter Trottel?»
»Ich hab nur gefragt..»
»Hör auf mit der Fragerei, lass uns das hier lieber zu Ende bringen.«
Durch das große Ladenfenster konnte Sarah sehen, dass die Tankstelle menschenleer war. Bis auf ihren blauen Sentra war der Parkplatz wie ausgestorben. Auch die Kreuzung vor dem Quik-Pik war leer. Jenseits des erleuchteten Parkplatzes war die Nacht schwarz und still. Sarah und die Kassiererin und das kleine Mädchen unter dem Tisch waren ganz auf sich gestellt. In den großen, runden Überwachungsspiegeln, die den Ausgang flankierten, beobachtete sie, wie der Totenkopfkerl dicht hinter ihr auftauchte. Immer wieder blickte er nervös hinaus auf den Parkplatz, klimperte mit dem Wechselgeld in seiner Hosentasche und scharrte mit den Füßen. Der Lauf seiner Waffe zitterte ein wenig, als er auf ihren Rücken zielte.
Bei der Vorstellung, jeden Moment von einer Kugel zerfetzt werden zu können, geriet Sarahs Herzschlag ins Stolpern. Theoretisch mochte sie vielleicht mit dem Tod liebäugeln, doch heute Abend wurde ihr hier, in diesem überklimatisierten Quik-Pik bewusst, dass sie definitiv nicht sterben wollte.
»Ist das alles?« Drohend lehnte sich Wolfman über die Theke, worauf die Kassiererin, über deren Wangen nun Tränen liefen, versuchte, ihm die halb gefüllte Plastiktüte zu überreichen. Mit einer heftigen, groben Geste wehrte er die Tüte ab. »Heb das Schubfach hoch. Da werden doch die Scheine aufbewahrt. Glaubst du, ich weiß das nicht? Versuch ja nicht, m ich für dumm zu verkaufen!« Sein Blick wanderte von der Kassiererin zu einem Punkt über Sarahs linker Schulter: zum Totenkopfkerl. »Hast du die Klos überprüft?«
»Hab ich doch gesagt. Ja, verdammt!«
»0 kay, okay, wollte m ich nur noch einmal vergewissern.«
Als die Kassiererin das leere schwarze Plastikschubfach aus der Kasse hob, spürte Sarah, wie sich etwas in den unteren Teil ihres Rückens bohrte. Ein Blick nach oben in den Spiegel bestätigte ihre schlimmste Befürchtung. Der Totenkopfkerl war direkt hinter ihr - und die Mündung seiner fetten, schwarzen Knarre presste sich in ihren Rücken. Sie konnte nichts anderes tun, als sich ruhig zu verhalten. Jede unerwartete Bewegung könnte seinen nervösen Zeigefinger am Abzug dazu verleiten, sich zu krümmen. Ihre ganze Willenskraft aufbietend, blieb sie reglos stehen und biss die Zähne zusammen, während ihr aus jeder Pore der kalte Schweiß ström te. Im Spiegel sah sie auch sich: kreidebleich, mit aufgerissenen Augen, wildem Blick und im wahrsten Sinn des Wortes zu Tode erschrocken. Ihre fest zusammengepressten Lippen waren dünn und blutleer, ihr kurzes, gestuftes schwarzes Haar, noch feucht vom Duschen im Fitnessstudio, war an ihren Kopf geklatscht, sodass ihre Augen und die kräftigen Wangenknochen ihr Gesicht dominierten, und ihr Rücken war gekrümmt wie bei einer buckligen alten Frau, während sie die Großpackung Hundefutter mit beiden
Armen an ihren zu dünnen Körper presste. Sie war erst einunddreißig Jahre alt, sah aber älter aus, sogar wesentlich älter, wie sie schockiert feststellte. Sicher, es mochte an der Angst liegen, die alles Blut aus den Adern schwemm te, oder am Fehlen jeglichen Make-ups oder an der grässlichen Beleuchtung, woran auch immer - doch Fakt war, dass sie die hagere, hohläugige Frau, die ihr verzweifelt aus dem Spiegel entgegenstarrte, kaum wiedererkannte.
Einstmals, vor langer Zeit, so lange her, dass sie sich kaum daran erinnern konnte, war sie hübsch gewesen...
»Wo ist die Scheißkohle?«
Wolfmans Gebrüll ließ Sarah zusammenzucken und lenkte ihre Aufmerksamkeit schlagartig wieder auf die Szene vor ihr zurück. Wolfman schwang sich gerade über die Theke und packte die Kassiererin, die eine einzelne Fünfzigdollarnote umklammerte, an den Haaren. Der Fünfziger flatterte neben Sarahs Füßen zu Boden. Die Geldtüte fiel mit einem Plopp auf die Theke. Die Kassiererin gab einen hohen, schrillen Laut von sich, der augenblicklich verstummte, als Wolfman ihren Kopf mit einem metallischen Klonk gegen die Kasse knallte.
Sarah wurde übel. Ihr M und wurde trocken. Von Mitleid und Entsetzen übermannt, starrte sie zu der Kassiererin hinüber.
»Willst du es mir endlich sagen? Hä? Hä?«
Während der Totenkopfkerl den heruntergefallenen Fünfziger aufsammelte, schlug Wolfman den Kopf der Kassiererin zwei weitere Male in rascher Folge mit der Stirn gegen die Kasse.
»Hä? H ä?« Klonk. Klonk.
Innerlich schrie Sarah. Deshalb biss sie die Zähne zusammen, ballte in ohnmächtigem Zorn die Fäuste, rührte sich aber nicht vom Fleck. Sie müsste irgendetwas tun - doch sie konnte nichts tun, außer in stummem Entsetzen zuzusehen. Wenn sie reagieren würde, würde sie lediglich die Gewalt auf sich lenken.
Bei dem Gedanken brach ihr erneut der kalte Schweiß aus.
Die schrillen Schreie der Kassiererin gingen in schluchzende Stöhnlaute über, als Wolfman ihre Stirn mit gewollter Brutalität gegen das unnachgiebige Metall der Kasse schlug. Auf das Stöhnen der Frau erfolgte eine Antwort, ein kaum hörbares Wimmern, das von dem kleinen Mädchen unter dem Tisch kam. Sarahs Augen weiteten sich, als ihr das bewusst wurde. Sie hielt den Atem an, vermied es aber, in Richtung des Tisches zu blicken.
Sie schwitzte Blut und Wasser. Ihr Herz klopfte dumpf in ihrer Brust.
Sei still. Sie konzentrierte all ihre Willenskraft auf diese telepathische Nachricht. Und für den Fall, dass das Kind die Nachricht nicht empfangen haben sollte, flehte sie noch einmal zu einer höheren M acht: Bitte, G ott, m ach, dass sie still bleibt. Lass nicht zu, dass die Kerle sie finden.
Allein bei dem Gedanken gefror Sarah das Blut in den Adern. So am bivalent sie auch über ihr eigenes Leben denken mochte, sie könnte es nicht ertragen, wenn ein Kind, ein kleines Mädchen, verletzt werden würde. Denn dass sie selbst und die Kassiererin verletzt oder noch schlimmer enden würden, daran hatte Sarah keinen Zweifel. Mit einem flauen Gefühl im M agen stellte sie sich der traurigen Wahrheit, dass sich die Situation unaufhaltsam verschlimmerte. Aus Erfahrung wusste sie, dass Gewalt, sobald sie einmal entfacht war, die Tendenz hatte zu eskalieren.
Die Erkenntnis war bitter, und Sarah kämpfte gegen ihre aufsteigende Panik. In dem Moment riss Wolfman den Kopf der Kassiererin brutal hoch. Die Frau schluchzte und
schnappte hörbar nach Luft. Ihre Augen waren aufgerissen, ihr Mund stand offen. Hinter Sarah klimperte der Totenkopfkerl lauter denn je. Die Klimaanlage dröhnte. Die Kühltruhen brummten. Es gab so viele verschiedene Geräusche, dass Sarah offenbar die Einzige war, die das Wimmern des Mädchens vernommen hatte - oder zumindest die Einzige, die diesen Laut einzuordnen wusste.
Komm nicht raus!, befahl sie dem Mädchen telepathisch. Sie spürte, wie Schweißbäche zwischen ihren Schulterblättern herunterrannen. Ihr Herz klopfte wie bei einem Langstreckenläufer. Ihr Mund war so trocken, dass sich die Zunge wie Leder anfühlte.
»Wo ist die Scheißkohle?«, brüllte Wolfman abermals und ließ nun endlich das Haar der Kassiererin los.
Ohne eine Antwort zu geben, sackte die benommene, weinende Frau nach vorne auf die Theke und stützte sich mit den Ellbogen ab. Ihr Schluchzen war schrecklich anzuhören. Direkt über der linken Augenbraue klaffte eine etwa fünf Zentimeter große Wunde, die so tief war, dass man an den Rändern einen weißen Fettstreifen erkennen konnte. Vor Angst wie erstarrt und gleichzeitig in grässlicher Sorge um das unter dem Tisch versteckte Kind, konnte Sarah nur hilflos zusehen, wie das Blut aus der Wunde quoll und über das Gesicht der Frau ström te.D ie Kassiererin - ihr Name war Mary, wie Sarah auf ihrem Namensschild lesen konnte - sah auf, und einen atemlosen Moment lang trafen sich ihrer beider Blicke. Die tränennassen Augen der Frau waren geschwollen und dunkel vor Angst und Schmerzen. Die Iris war von einem weichen Blau, verwaschen vom Alter. Hilf mir, schienen ihre Augen zu flehen, und der Blick brach Sarah fast das Herz. Doch sie konnte nichts tun. Wenn sie eingreifen würde, würde sie die Situation für alle nur verschlimmern.
Patsch! Wolfman verpasste Mary eine Ohrfeige, worauf ihr Kopf zur Seite fiel.
»0h.« Mechanisch hob sie die Hand an die Wange. Sie sackte noch mehr zusammen, zitterte heftig. Ihre Augen waren riesige Teiche aus Angst.
»Wo ist die Scheißkohle ?«
»Das ist alles. Ich schwöre, das ist alles.« Marys Stimme war vom Weinen so belegt und heiser, dass die Worte kaum zu verstehen waren. Als Wolfman drohend seine Hand vor ihrem Gesicht zur Faust ballte, begann sie lauter zu schluchzen und senkte den Blick auf die Theke, als hätte sie Angst, ihn anzusehen. »0 Gott, bitte, haben Sie Erbarmen mit mir. 0 Gott, bitte, haben Sie Erbarmen.«
Aus den Augenwinkeln nahm Sarah ein weißes Flattern wahr. Die Tischdecke hatte sich bewegt, wurde ihr bewusst. Das kleine Mädchen musste die Stellung gewechselt haben, um besser sehen zu können.
Sarahs Herzschlag setzte einen Takt lang aus. Ihr Atem geriet ins Stocken. Das Flattern konnte auch den Räubern nicht entgangen sein - doch nach einigen bangen Sekunden stellte sie erleichtert fest, dass die beiden offenbar nichts bemerkt hatten.
Bleib dort unten, befahl sie dem Mädchen stumm, während sie den Blick auf die schluchzende M ary geheftet hielt. Bitte, bitte, verhalt dich um Himmels willen ruhig und komm nicht raus.
Wolfman umkreiste den Totenkopfkerl. »Hast du nicht gesagt, um diese Uhrzeit haben die hier ein paar Tausender?«
»Ja, Duke, das stimmt. Genauso ist es.«
Wolfman wurde sehr ruhig. Sein Blick schien den Totenkopfkerl zu durchbohren. Die Luft zwischen ihnen knisterte förmlich vor Anspannung. Ein neuer Schrecken durchfuhr
Sarah, als ihr bewusst wurde, was sie soeben gehört hatte: Wolfmans Name lautete Duke. Sie - und Mary und das Kind - kannten jetzt seinen Namen.
Die Lage hatte sich damit deutlich verschlechtert.
»Hast du eben meinen Namen gesagt? Bist du blöd oder was?«, zischte Duke wutentbrannt, ehe er sich wieder der Kassiererin zuwandte. »Ich werde dich nur noch einmal fragen: Wo ist das Geld?«
Mary schnappte nach Luft. Ihre Miene verriet blanke Panik.
»Sie ... sie haben das Geld heute Abend schon früher abgeholt. Kurz nach ... nach zehn. Das ist alles, was ich seitdem eingenommen habe. Ich lüge Sie nicht an. Jesus ist mein Zeuge, ich lüge Sie nicht an.« Tränen und Blut vertuschten sich auf ihren Wangen. Unter der Schicht aus geronnenem Blut war ihre Haut aschgrau.
»Verdammte Scheiße!« Duke wandte sich um und warf dem Totenkopfkerl einen wütenden Blick zu. Im selben Moment erhaschte Sarah aus den Augenwinkeln erneut ein weißes Flattern. Sie konnte den angstvollen Blick des Mädchens förmlich spüren. Ihre Kehle schnürte sich zusammen. Ihr M agen verkrampfte sich.
Beweg dich nicht. Mach kein Geräusch...
»Du kannst doch mir nicht die Schuld geben«, protestierte der Totenkopfkerl.
»Scheiße, kann ich wohl.« Dukes Blick wanderte zu Sarah. »Nimm ihr die Handtasche ab.« Während der Totenkopfkerl Sarah die Handtasche von der Schulter riss, sprach Duke sie direkt an. »Ist da was drin?«
»Ungefähr vierzig Dollar. Und Kreditkarten.« Sarah war verblüfft, wie fest ihre Stimme klang. Innerlich glich sie eher einem bebenden Häufchen Wackelpudding. Ihre Beine fühlten sich schlapp wie zu lange gekochte Spaghetti an, und ihr Herz schlug wie die Flügel eines gefangenen wilden Vogels. Sie gab sich keinen falschen Hoffnungen mehr hin: Irgendwann innerhalb der nächsten paar Minuten würden M ary und sie sterben. Und wenn das kleine Mädchen nicht ruhig und in seinem Versteck bleiben würde, würde es ebenfalls sterben.
Was immer auch passiert, lass sie das Kind nicht finden.
»Wo ist deine Handtasche?«, fragte Duke Mary. M an merkte, dass er allmählich unter Druck geriet. Der Totenkopfkerl hatte aufgehört zu klimpern. Ein leises Rascheln verriet Sarah, dass er gerade ihre Handtasche durchwühlte.
Mary hing nach wie vor zusammengesackt über der Theke. Sie atmete mühsam, blutete, zitterte, weinte. Stetig tropfte Blut aus ihrer Stirnwunde auf die schwarze Theke und besprenkelte sie mit roten Flecken.
»Im ... im hinteren Bereich.« Ihre Stimme war schwach, zitternd.
Im hinteren Bereich. Toll. Großartig. Genau dort, wo sie lieber nicht hingehen sollten. Es bedurfte keiner medialen Fähigkeiten, um zu erkennen, dass »im hinteren Bereich« eine üble Sache war. Solange sie hier vorne waren, gab es zumindest die Chance, dass draußen ein Kunde vorfuhr, der die Situation erkennen und die Polizei benachrichtigen würde.
»Wie viel Geld ist in deiner Tasche?« Als Mary nicht sofort antwortete, packte Duke sie am Arm und schüttelte sie. »Wie viel?"
»Ein paar Dollar.«
»Scheiße.« Er warf dem Totenkopfkerl eine giftigen Blick zu. »Dieses ganze Ding ist nichts als ein Haufen Scheiße.«
Er trat einen Schritt zurück, riss die Waffe hoch und schoss Mary ins Gesicht. Einfach so. Ohne jede Vorwarnung. Sarah klappte der Unterkiefer runter, und noch ehe
sie überhaupt begriff, dass es jetzt passierte, zerfetzte eine Explosion ihr Trommelfell, und Marys linke Gesichtshälfte war plötzlich weg. Blut und Gewebeteile stoben in einer Wolke aus rotem Nebel nach hinten, besprenkelten die Zigarettenstangen und den Überwachungsmonitor und den zweiten der beiden großen, runden Spiegel und alles andere jenseits der Theke mit scharlachroten Spritzern. Mary
kreischte nicht, schrie nicht auf. Sie fiel einfach wie ein Stein
um, verschwand hinter der Theke, war nicht mehr zu sehen. Der Aufschlag ihres Körpers musste ein dumpfes Geräusch verursacht haben, doch das grässliche Klingeln in Sarahs Ohren übertönte alles andere. Ein neuer Geruch - die Übelkeit erregende Mischung aus Blut und Körperausdünstungen, wie sie bei einer frischen Leiche auftrat - stieg ihr in die Nase.
Ihr wurde übel. Ihr Herzschlag setzte aus. Der Sack mit Hundefutter glitt ihr aus den plötzlich tauben Arm en. Auch diesen Aufprall hörte sie nicht. Alles, was sie hören konnte -und die Laute waren teilweise überdeckt von dem Geklingel in ihren Ohren - waren die unablässigen Flüche des Totenkopfkerls und ein hoher klagender Laut, der, wie sie annahm, ihrer eigenen zugeschnürten Kehle entspringen musste.
Doch plötzlich dämmerte ihr, dass ihre Annahme falsch war, und gleichzeitig dämmerte ihr voller Entsetzen, woher der Laut kam. Ihr Blick glitt zur Seite. Das Kind...
»Mary! Ma-riiiie!«
Sarah schlug das Herz bis zum Hals, als das kleine Mädchen unter dem Tisch hervorschoss und auf die Kasse zuraste, wobei das verfilzte dunkle Haar wie eine Fahne hinter ihm herwehte. Durch das plötzliche Aufspringen des Mädchens fiel der Tisch mit ¬einem Knall um. Schachteln mit Donuts segelten durch die Luft, landeten in alle Richtungen verstreut auf dem Boden.
»Was, zum Teufel ...?« Duke wirbelte herum. Der Totenkopfkerl, dem sein letzter Fluch im Halse stecken blieb, tat es ihm gleich. Für den Bruchteil einer Sekunde waren beide offensichtlich zu verdattert, um irgendetwas anderes tun zu können, außer das Mädchen, das, wie eine Sirene kreischend, auf sie zustürmte, mit offenen Mündern anzustarren.
»Scheiße!« Duke erwachte aus seiner kurzen Erstarrung. Er hob die Waffe und zielte auf das schreiende Kind.
Übersetzung: Evelin Sudakowa-Blasberg
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
... weniger
Bibliographische Angaben
- Autor: Karen Robards
- 2011, 1, 478 Seiten, Maße: 13,5 x 19,2 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868007997
- ISBN-13: 9783868007992
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