Und was wird aus mir?
Rainer, in den 70er-Jahren ein hoffnungsvoller Regisseur in L.A., lebt heute nur noch auf Pump. Einmal im Jahr, wenn ihn seine Teenagertochter Allegra aus Deutschland besuchen kommt, dann lässt Rainer den schönen Schein vom erfolgreichen Superpapa wieder...
Rainer, in den 70er-Jahren ein hoffnungsvoller Regisseur in L.A., lebt heute nur noch auf Pump. Einmal im Jahr, wenn ihn seine Teenagertochter Allegra aus Deutschland besuchen kommt, dann lässt Rainer den schönen Schein vom erfolgreichen Superpapa wieder aufleben. So lange, bis eines Tages alles auffliegt.
Und was wird aus mir? Von Doris Dörrie
LESEPROBE
Ich habe den verdammten Sackvergessen. Das war's.
Ende. Aus. Am nächsten Tag hatte ichschon die Kündigung, sagt Johanna zu ihrer dicken Nachbarin auf dem Gangplatz.
Dürfen die das denn? fragt die Frauabwesend, während sie die Stewardess um ein weiteres Päckchen Erdnüsse anbettelt.Fette Kuh, denkt Johanna. Sie lacht auf, um nicht weinerlich zu klingen: Na ja,ohne den Sack ergibt die Oper nicht mehr viel Sinn. Kennen Sie Rigoletto?
Die dicke Frau schüttelt den Kopfund deutet auf Johannas ungeöffnete Packung Erdnüsse. Wollen Sie die nicht?
Johanna gibt ihr ihre Erdnüsse undsummt die Melodie von La donna e mobile vorsich hin. Das kennen Sie doch bestimmt.
Das ist die Werbung von derSteinofenpizza, nickt die Frau.
Ursprünglich ist es aber aus Rigoletto. Die Arie vom Duca.
Aha, sagt die Nachbarin beleidigtund wendet sich ab.
Johanna kann es nicht lassen. Siefährt fort: Es ist seine Erkennungsmelodie. Ganz am Ende, als Rigoletto glaubt, er habe den Ducaerfolgreich umbringen lassen, weil der seine geliebte Tochter Gilda verführt hat ...
Bißchen übertrieben, oder?
Opern sind immer übertrieben, sagtJohanna. Rigoletto denkt also, er bekommt den toten Duca ausgeliefert, in einem Sack ...
Da ist er also, Ihr Sack, sagt dieFrau und stopft sich mit ihren kleinen Fingern die Erdnüsse behendein den Mund wie ein Eichhörnchen.
Es ist eine tolle Stelle, fährtJohanna ungeduldig fort. Rigoletto singt: Was fürein Triumph, welche Rache, endlich ist der Duca tot -da hört man ganz leise aus der Ferne: La donna e mobile.
Auweia, sagt die Frau.
Da weiß Rigoletto:Der Duca ist nicht in dem Sack.
Der Sack ist also ziemlich wichtig,stellt die Frau fest. Und wer ist jetzt drin im Sack? Oder in dem Sack, dernicht auf der Bühne war?
Raten Sie mal, sagt Johanna.
Keine Ahnung.
Seine sterbende Tochter Gilda, sagt Johanna müde.
Oje, sagt die Frau und wirft sichdie letzte Erdnuß in den Mund. Das ist tragisch.Trotzdem ein bißchen übertrieben, wenn Sie michfragen.
Ich frage Sie aber nicht, möchteJohanna schreien. Die Gleichgültigkeit der Frau macht sie so wütend, daß sie sie am liebsten in ihren fetten Bauch boxen würde.
Entschuldigung, könnten Sie michkurz mal rauslassen?
Auf dem Klo stiehlt sich Johannaeinen Augenblick des Alleinseins. Sie setzt sich auf den Klodeckel, untersuchtdie kleine Flasche Mundwasser, die Pappbecher, die Papierhandtücher. Sie liebtGegenstände und deren Platz in der Welt. Sie hat sich immer mehr auf sieverlassen als auf Menschen.
Und jetzt hat ein blauer Müllsacksie im Stich gelassen. Wieso hat sie nicht noch einmal überprüft, oh der Sackauch wirklich an seinem Platz war? Wieso war sie so unprofessionell? Und wiesoum Himmels willen ist sie dann auch noch zur Kaufhausdiebin geworden und hat inihrer Verwirrung und Schmach einen Lippenstift mitgehen lassen?
Das war ich nicht, denkt Johanna zumtausendsten Mal. Aber wer war es dann?
Die Geschichte vom vergessenenMüllsack hat die Nachbarin bestimmt schon vergessen. Für niemanden außer fürJohanna hat diese Geschichte irgendeine Bedeutung. Aber ihr hat sie das Lebenzerstört. Von einem Moment auf den anderen ist sie ein Niemand geworden. Nichtvermittelbar. Selbst meine Geschichte ist nicht vermittelbar, denkt sie.
Nichts ahnend kam sie amPremierenabend zurück auf die Bühne, nachdem sie nur ein bißchenLuft hatte schnappen wollen, kurz raus aus der schwarzen Theaterhöhle, die ihrfremd war nach fast zwanzig Jahren beim Film, für den sie sich aber langsam zualt fühlte. Die Opernwelt kam ihr geschützter vor, wenigstens mußte man dort im Winter nicht frieren. Sie war alsRequisiteurin angestellt worden, es war ihre erste Produktion, sie war noch inder Probezeit. Rigoletto, dieLieblingsoper ihres Vaters, sie hat das als gutes Omen betrachtet. Wiesoeigentlich?
Bei den Proben sind alle hochzufriedenmit ihr. Nie muß man auf sie warten, sie istblitzschnell und wundert sich über die Langsamkeit des Theaterbetriebs.Wochenlang schleppt sie Rigoletto seinen Buckelhinterher, obwohl das strenggenommen der Job derKostümassistentin ist, unermüdlich hält sie dem Ducapünktlich zu jedem Auftritt seinen Degen hin, weil er ihn sonst vergißt. Ein Tenor, lernt sie vom RegieassistentenFerdinand, hat wegen der hohen Töne, die ihm bis ins Gehirn steigen, dort fürsonst nicht viel mehr Platz. Aber auch Sopranistinnen sind sehr vergeßlich. Kein einziges Mal schafft die korpulente Gilda es, sich den blauen Müllsack so hinzulegen, daß sie leicht hineinsteigenkann. Jedesmal wieder mußJohanna ihn säuberlich aufgerollt wie ein Kondom bereithalten, so daß Gilda ihn sich nur nochüberzuziehen braucht. Das hat immer geklappt, bei der Generalprobe lief allesnoch wie am Schnürchen.
Um genau 9.45 Uhr kommt Johanna vonihrem kleinen Ausflug zurück auf die Bühne, pünktlich zum berühmten musikalischenGewitter mit siebenundzwanzig komponierten Blitzen, ihrer Lieblingsstelle,wenn das Gewitter in einen leichten Regen übergeht und Rigolettozurückkommt, um von dem Auftragskiller Sparafucileden toten Duca im Sack entgegenzunehmen.
Warum schlenkert Sparafuciledenn so komisch mit seinen langen Armen, denkt sie noch, warum trägt er denSack nicht? Da hört sie Uli, den Inspizienten schreien: Bring sie ohne raus! Get her out! Fuera! Dawai! Dawai!
Sparafucile, der Russe ist, wendet langsam den Kopfzur Seitengasse. Gavno, sagt er laut,Scheiße. Er weiß, daß das Orchester ihn übertönt.
Was hat er denn nur? denkt Johannaund möchte schon grinsen, da sieht sie Ejla, diefinnische Hospitantin, verzweifelt von der Seitenbühne gegenüber mit dem blauenMüllsack wedeln, und plötzlich durchfährt es Johanna wie eine Stichflamme: DerSack! Ich hab den Sack vergessen!
Cut. möchte sie schreien. Cut! - so wieder Regisseur beim Film cut schreit,wenn etwas schiefgeht. Die Schauspieler maulen dann,die Regisseure brüllen, und die Tonleute verdrehen die Augen, aber dann kommtschon Johanna angelaufen und bringt die vergessene Handtasche, Handy, Revolver,Blumen, Kuchen, Autoschlüssel, Brief - und es geht wieder weiter, und alles istwieder gut.
Aber hier wird nichts wieder gut.Hier muß sie, wie an einen Marterpfahl gefesselt, mitansehen, wie das Schicksal seinen Lauf nimmt. Beim Film gibt es kein Schicksal.
Rigoletto wirft verzweifelte Blicke in dieSeitenbühne, aber er kann den Sack jetzt nicht mehr holen, dafür ist es zuspät. Gilda, die bereits ihre Blutpatrone untermweißen Kleid gedrückt hat und blutüberströmt daliegt, zuckt nervös.Schließlich rollt Rigoletto sie ohne Sack mühsam querüber die Bühne wie eine große Seegurke. Im Publikum regt sich hörbar Unmut. Wassoll man jetzt schon wieder enträtseln, abstrahieren,lernen, querdenken? Wieso gibt es keinen Sack? Wiesozertrümmert hier schon wieder ein Wichtigtuer von Regisseur Kulturgut? Wiesodarf der das? Und ausgerechnet Gildas Schlußarie, wo man sich der Tragödie hingeben und zuTränen rühren lassen will!
Das Geraune schwillt bedrohlich an.Hinter der Bühne wird es dafür um so stiller. Keinerscheint Johanna wahrzunehmen, obwohl sie mitten unter ihnen steht. Sie fühlt sichwie ein Gespenst. Als träume sie nur.
( )
© Diogenes Verlag
- Autor: Doris Dörrie
- 2007, 420 Seiten, Maße: 12,4 x 18,8 cm, Leinen, Deutsch
- Verlag: Diogenes
- ISBN-10: 3257065647
- ISBN-13: 9783257065640
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