Ungeschoren
gerissen für die Ermittler? »Hinter diesem Roman steckt ein genialer Kopf. Ungeschoren ist rasant und poetisch zugleich.« (Aftonbladet)
Ungeschoren von Arne Dahl
LESEPROBE
1
Dort untenliegt Schweden. Tief unten. Der junge Mann sieht die lang gezogene Küste gutzehn Kilometer unter sich.
Es ist einwolkenloser Sommertag. Ganz Schweden ist klar erkennbar, ganz Skandinavien. Erkehrt nach Hause zurück. Aber zu Hause ist jetzt etwas anderes.
Er hatBauchschmerzen.
Der jungeMann versucht zu verstehen. Er versucht, all das Neue zu verstehen. Alles, wasgeschehen ist. Er liest in einem dicken Stoß Papiere und versucht zu verstehen,was die Mittsommerwoche bedeutet hat.
Alles, wassie mit sich gebracht hat.
Alles, was sieverwandelt hat.
Alles, wassie zurechtgerückt hat.
Das Lebenkann immer noch überraschen, denkt der junge Mann überrascht. Ich bin als einMensch abgereist und komme als ein anderer zurück. Und zu Hause ist auch etwasanderes.
Er wendetsich wieder dem Stoß Papiere zu.
Und weiß,dass nichts jemals zu Ende ist.
2
Das Land,in dem die Nächte den ganzen kurzen Sommer über immer dunkler werden, dachtesie. Es ist mein Land.
Und genaudieser Gedanke war verboten.
Es gingnicht mehr. Es konnte so nicht weitergehen. Heute Nacht, in dieser hellenSommernacht, sollte eine Veränderung eintreten. Auf die eine oder andere Weise.
Sie wolltenicht hinausgehen und sich dem Sog der nordischen Angst dieser schönenSommernacht aussetzen. Diesem seltsam schönen, süß ziehenden Schmerz, der bisins Mark drang.
Der Wehmut.
Noch nichtrichtig.
Sie bliebstehen und sah durchs Treppenhausfenster hinaus. Ein wenig unbeteiligt. Vonder Seite. Immer noch durchs Fenster.
Es war wieein Gemälde.
Und daseinzige Motiv war das nackte, reine Mittsommerlicht.
Und es istmeins, dachte sie. Ich habe es mir verdient. Ich habe ein Recht darauf. Das,wenn nichts sonst, hat mich eingeladen.
Dann tratsie hinaus in die helle Nacht.
Hell undrein. Und kalt. Sie hielt einen Augenblick inne und setzte sich der Kälte aus.Bis sie schauderte. Das Schaudern setzte sie in Bewegung.
Bald wardie hellste Nacht des Jahres. Bald würden die Nächte wieder länger werden.Sommer konnte man es noch nicht nennen. Nicht im Ernst. Man konnte doch dieseEiseskälte nicht im Ernst Sommer nennen. Ihr Körper, wenn nichts anderes,erinnerte sich an ganz andere Sommer.
Sie wolltenur ihr Leben weiterleben. Ihr eigenes. Das war alles. Und das durfte sienicht.
Nedim.Die Trauer überfiel sie. Mit voller Wucht.
Sie musstestehen bleiben. Ihr Herz erstarrte zu Eis.
Nedim.Mein Bruder. Nedim und Naska.Nur ein Jahr zwischen ihnen. Immer zusammen. Immer füreinander da. Immerbereit. So nah, wie man sich nur kommen kann. Die kleinen Geschwister.
Wie ähnlichwir uns waren.
Wieunglaublich ähnlich.
Aber jetztnicht mehr.
Siewanderte weiter durch das menschenleere Hochhaus gebiet. Es war zwanzig nachzwei in der Nacht und taghell. Als wäre die Welt leer. Vollständig leer - bisauf ein klares, klares Licht.
Und sieselbst.
Nedim,warum musste es so kommen? Warum war es nicht möglich, sich zu lösen? Alles,was ich will, ist leben.
DieUnterdrückung durch die Unterdrückten.
Neuer Name,neue Telefonnummer, neue Adresse, neue Stadt - es reichte nicht. All die Mühe,die du darauf verwendet hast, mich zu finden, Nedim,kann man sie als Liebe deuten? Als verzerrte Bruderliebe?
Stockholmhätte mich schlucken sollen, aber du hast mich gefunden. Du hast nach einerNadel im Heuhaufen gesucht, und du hast sie gefunden. Aber sie wird dichstechen. Es kommt nur darauf an, zuerst zu stechen. Denn Wörter werden niemalsreichen. Wörter haben mit der Sache nichts zu tun. Er benutzte Wörter nicht aufdiese Art und Weise. Als Gespräch. Als Dialog.
DasTelefongespräch gestern Abend. Nicht viele Wörter. Die Wörter als Maskierung.Als ob er ein geschäftliches Gespräch führte.
»Wir müssenuns treffen, Naska.«
»Ich heißenicht Naska. Ich heiße Rosa.«
Am Wegrandwuchsen überall Blumen. Sie pflückte eine und betrachtete sie. Sie war lila undroch komisch.
SiebenSorten Blumen unter dem Kopfkissen, und die Mittsommernacht würde magisch sein.All diese merkwürdigen Wörter: Kommt, Lilien und Akeleien, kommt, Rosen undSalbei, komm, liebliche Krausminze, komm, Herzensfreude.
Was wareine Akelei?
Asphaltblumenmussten reichen, dachte sie und lächelte schief. Sie pflückte eine welke blaue.Noch fünf, und ihre Wünsche würden in Erfüllung gehen, die Welt würdeverwandelt sein.
Die Nachtmagisch werden.
In gewisserWeise war sie es schon. Dieser Sog. Der Klumpen in der Magengegend. Das Licht,das im Hals in die Irre ging.
Nur einssprach dafür, dass sie die Nacht überleben würde.
Und das warnicht das Messer. Das alberne kleine Schweizer Klappmesser in ihrer Tasche. Dassie außerdem erst aufklappen musste, um es zu benutzen. Sie pflückte noch eineBlume, eine stark verzweigte gelbe. Natürlich würde sie das Messer aufklappen.Sobald sie sieben Sorten Blumen hatte, um sie in die Handtasche zu legen.
Aber nichtvorher.
DasFlüchtlingslager in Schonen. Sie war sechs, er sieben.Während sie warteten, lernten sie Schwedisch. Aber vor allem badeten sie. Derkleine See. Das eiskalte schwedische Wasser. Zu dem sie heimlich schlichen. Nedim und Naska.
Die kleinenGeschwister.
Warum nichteinfach die Polizei rufen? Warum nicht dafür sorgen, dass die Polizei amTreffpunkt ist?
Weil es einEnde haben musste. Weil sie - obwohl er nicht zuhörte - mit ihm sprechenmusste, ihn dazu bringen musste zu verstehen. Es war so wichtig, dass er undseinesgleichen verstanden. Die jüngere Generation. Früher oder später musstensie alle zuhören.
Und weil erihr Bruder war.
Siepflückte eine seltsame orangefarbene Blume mit zerzausten Blütenblättern. Vier.Sie musste die Namen lernen.
Jetzt sahsie das Haus. Es war niedriger als die anderen. Ein Clubhaus, Vereinsheim,Sarg.
Sie sah aufdie Uhr. Bald halb drei. Der Todesaugenblick.
Da brachdie Angst über sie herein. Es kam ihr vor, als sollte sie erstickt werden, dieAngst zwang ihr die Zunge zurück in den Rachen, und es war ihr unmöglich zuatmen.
Es wareinfach nicht möglich.
Warum gingsie ihrem Tod entgegen? Es hätte verhindert werden können. Hatte er nichtangerufen und sie gewarnt, gerade damit sie ihn hindern sollte? War es nichteigentlich eine Bitte, die lautete: Halte mich auf, ich kann mich nicht selbstaufhalten, die Tradition von Jahrhunderten drückt mir das Messer in die Hand,und ich kann mich nicht selbst aufhalten.
Du musst esfür mich tun, Naska, deshalb rufe ich dich an.
Nein, Nedim, du selbst musst dichaufhalten, du selbst musst die Wahl treffen, du selbst musst die Jahrhunderteumstülpen und das Abgestandene auslüften. Das kann ich nicht für dich tun.
Ich gehemeinem eigenen Tod entgegen, weil ich mich darauf verlasse, dass du dich aufdeine Vernunft besinnst. Dass du Wörter wieder zu Wörtern werden lässt. Weilgerade du gerade jetzt mit der Familientradition brechen sollst. Meinwehrloser Körper stellt diese Forderung an dich. Meine Worte.
Aber siehatte ja das Messer. Solange das Schweizer Klappmesser ungeöffnet in ihrerHandtasche lag, waren ihre Argumente verständlich. Sobald sie das Messeröffnete und in die Hand nahm, sagte sie etwas ganz anderes.
Es war eineGratwanderung.
Sie bewegtesich wieder vorwärts. Die Blumen wuchsen immer spärlicher. Hätte sie noch dieZeit, sieben Sorten Blumen zusammenzubekommen? Hätte sie noch die Zeit, sichauf eine schwedische Tradition zu verlassen?
Sie wusstenicht, ob die kleine rosa Pflanze, die aus dem Steinpflaster zwischen demBürgersteig und der Straße wuchs, wirklich als Blume zählte, doch sie riss sieaus und steckte sie in den Strauß. Fünf jetzt. Fünf Blumen unter dem Kissen.
Aber wasfür einem Kissen?
DemSargkissen?
Sie war beidem niedrigen Vereinslokal angelangt. Keine Blume, so weit das Auge reichte,nicht einmal im Blumenbeet. Als wäre es vorbestimmt, dass sie keine richtigeChance hätte.
Sie sah dieÖffnung, den gewölbten Durchgang zum Hinterhof. Den Treffpunkt. Nicht ein Laut,nicht eine Bewegung, nur das glasklare, blendende Nachtlicht.
Eine schöneNacht zum Sterben.()
© PiperVerlag
Übersetzung:Wolfgang Butt
- Autor: Arne Dahl
- 2007, 2, 413 Seiten, Maße: 13,5 x 21 cm, Leinen, Deutsch
- Übersetzung: Butt, Wolfgang
- Übersetzer: Wolfgang Butt
- Verlag: Piper
- ISBN-10: 3492048781
- ISBN-13: 9783492048781
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