Unrecht im Namen des Volkes
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Unrecht im Namen des Volkes von SabineRückert
LESEPROBE
Vorwort
Von der Lüge
Dieses Buch handelt von der Lüge.Nicht von der Notlüge. Nicht von der Lüge aus Angst oder Feigheit im Bestreben,die eigene Person aus dem Schussfeld zu bringen. Auch nicht vom Sichselbst-Belügen, durch das mancher sich das Lebenleichter macht. Es geht um die berechnende Lüge, die in Umlauf gebracht wird,um ein ganz bestimmtes Ziel zu erreichen. Meistens das Ziel, sich selbst in denMittelpunkt des allgemeinen Interesses zu rücken und/oder anderen MenschenSchaden zuzufügen.
Zu einer guten Lüge, die ihren Zweckerfüllen soll, gehören immer mindestens zwei. Einer, der lügt. Und einer, derglaubt. Eine Lüge, die nicht geglaubt wird, ist sinnlos, entfaltet ihre Wirkungnicht, sondern fällt als Schande auf den schlechten Lügner zurück. Deshalb mussdie Lüge gut - das heißt: überzeugend - sein. Und sie ist umso besser, jepräziser sie mit den Erwartungen dessen übereinstimmt, den sie überzeugen soll.
Ein eindrucksvolles Beispiel hierfürereignete sich im Herbst 2000 in der kleinen sächsischen Stadt Sebnitz. Dortbehauptete eine mit einem Ausländer verheiratete Bürgerin, deren dunkelhaariger,fünfjähriger Sohn im städtischen Freibad ertrunken war, drei Jahre nach dem Toddes Kindes, ihr Sohn sei von einer Horde Neonazis in der Badeanstaltmisshandelt und schließlich ersäuft worden. Alle Badegäste hätten zugesehen,niemand habe eingegriffen oder die Polizei gerufen. Mit dieser entsetzlichenGeschichte - wer denkt sich so was aus? - hatte die Frau zwar bei denStrafverfolgungsbehörden, die die Fakten und Obduktionsberichte kannten,keinen Eindruck machen können, doch gelang es ihr, die Medien für ihre Zweckezu mobilisieren. Die reagierten mit einer Heftigkeit, die die gesamte Republikerschütterte. Legionen von Journalisten wurden nach Sebnitz entsandt, um dieBotschaft von einer großen deutschen Schande in alle Welt zu tragen. Aufgrunddes öffentlichen Drucks wurde nun auch die Staatsanwaltschaft nervös, nahmeinige junge Leute fest und ermittelte gegen sie.
Einige Tage lang war die Frau diegloriose Pietà der Republik: die Mutter eines kleinen Kindes, das in allerÖffentlichkeit mörderischen Rassisten zum Opfer gefallen war. Ist einschrecklicheres Schicksal denkbar? Und traute man dem Osten Deutschlands nichtzu Recht das Schlimmste zu? Hatten nicht 1992 Rechtsradikale imbrandenburgischen Hoyerswerda hilflose Dritte-Welt-Familien angegriffen, die inDeutschland um Asyl baten? Hatten nicht in Rostock Neonazis einAsylbewerberheim in Brand gesteckt, während der besoffene Mob dabeistand undBravo brüllte? Und jetzt eben Sebnitz! Die Frau gab Interviews und ließ sichtausendfach fotografieren. Sie wanderte durch die Talkshows und wurde vomBundeskanzler empfangen. Die Weltpresse saß auf ihrem Sofa in Sebnitz, und derRegisseur Volker Schlöndorf begehrte die Filmrechtean diesem deutschen Fall.
Dem Rausch folgte eine schrecklicheErnüchterung, als die Staatsanwaltschaft überraschend alle Festgenommenen freiließund bekanntgab, dass die Vorwürfe haltlos seien.Weitere ausführliche Untersuchungen der Gerichtsmedizin bestätigten: Der Fünfjährigehatte einen Badeunfall erlitten, und seine angebliche Folterung und Ermordungwar nichts anderes gewesen als das Phantasiegespinst einer Mutter, die über denVerlust ihres Sohnes nicht hinwegkam.
Solche Mütter gibt es viele. Esgeschieht nicht selten, dass Hinterbliebene versuchen, den Tod einesAngehörigen zum Verbrechen zu erklären, manchmal haben sie sogar recht. Aber wer interessiert sich schon für solcheBemühungen? Welche Zeitung schreibt über Mutter X, die davon überzeugt ist,dass ihr Sohn sich nicht selbst im Wald erhängt hat, wie die Polizei glaubt,sondern aufgehängt wurde? Oder Mutter Y, die sich nicht davon abbringenlässt, dass ihre verschwundene Tochter nicht ausgerissen, sondern einemVerbrechen zum Opfer gefallen ist?
Was den Erfolg der Frau aus Sebnitzausmachte, waren die Schlüsselreize, mit denen ihre Geschichte ausgestattetwar. Schlüsselreize, die - besonders in Deutschland - Reflexe sonst durchauskritischen Denkens ausschalten. Dazu gehören: orientalisch wirkendes Kind,rassistische Tat, Neonazis, deutscher Osten, kollektive Mitschuld und dieDimensionen der Grausamkeit, die - nach landläufiger Meinung - nicht ohneweiteres ersonnen werden können. Und dazu gehört vor allem die jeden Widerspruchsgeisterstickende Aura, die ein Verbrechensopfer umgibt. Wer wagt es, an den Worteneines vermeintlichen Opfers zu zweifeln? Wer hat das Herz, einem Menschen, demUnvorstellbares angetan worden sein soll, ins Gesicht zu sagen: »Ich glaube dirnicht«?
Ein anderer Fall von gelungenerIrreführung einer ihrem Wesen nach nachdenklichen und vorsichtigenÖffentlichkeit geschah im Jahre 1995. Damals veröffentlichte ein gewisser Binjamin Wilkomirski im SuhrkampVerlag seine Kindheitserinnerungen. Bruchstücke lautete der Titelseiner Autobiographie. Hierin schilderte der Autor aufs Ergreifendste schreckliche Jahre eines kleinen Jungenin den Konzentrationslagern Majdanek und Auschwitz. Erberichtet von Ratten, die die Kleinen nachts anfielen, von Läusen und Käfern.Kinder werden vor den Augen des höchstens vierjährigen Binjaminvon Uniformierten totgeschlagen - seine Qual ist unbeschreiblich. Am meistengeht dem Leser jene Szene zu Herzen, in der Binjaminzu seiner halbtoten Mutter in die Frauenbaracke geführt wird. Die Sterbendeblickt ihm tränenüberstömt insGesicht und reicht ihm wortlos ein versteinertes Stück Brot zum Abschied.
Binjamin überlebt nach eigenen Angaben nurdurch eine glückliche Fügung das KZ, wird nach dem Krieg von einem Arzt in derSchweiz adoptiert und verfasst - erwachsen geworden - seine Erinnerungen.
Siegfried Unseld,der Chef des Suhrkamp Verlags, entscheidet sich für die Publikation desManuskriptes - auch als Zweifel an seiner Echtheit auftauchen. Ein Journalistschreibt an Unseld persönlich und warnt den Verlegervor dem Autor Wilkomirski. Doch die Mahnung verhallt.
Der Historiker Stefan Mächler, der den Fall Wilkomirskispäter recherchiert und darüber ein Sachbuch veröffentlicht hat, beschreibt,mit welchen Überlegungen die für Wilkomirski zuständigeLiteraturagentin den Zweifeln an ihrem Autor entgegentrat: »Falls er nichtderjenige war, der zu sein er vorgab, wie konnte er sich eine so unerhörteGeschichte andichten? Wenn er dies aber alles durchgemacht hatte und seine Vergangenheitnun bezweifelt wurde, war dies entsetzlich. Welch verkehrte Welt, in der ein Opferder Shoah seine Geschichte beweisen musste; welchfurchtbare Erniedrigung für den Mann.«
Wilkomirskis Werk wird also gedruckt, frenetischgelobt und geht in neun Sprachen übersetzt um die Welt. »In seinem Buch hat Binjamin Wilkomirski den amtlichbeglaubigten Fakten die Wahrheit seines Lebens entgegengestellt«, schreibt einebegeisterte Literaturkritikerin. »Sie hat ihn befreit, sie hat ihn geheilt. Undsie hat die Last von ihm genommen, beweisen zu müssen, was für ihn einesBeweises nicht mehr bedarf.« Ehrungen lassen nichtlange auf sich warten. Wilkomirski wird mitLiteraturpreisen ausgezeichnet, auch und gerade von jüdischen Vereinen. KZ-Überlebendeschreiben ihm, brechen auf seinen Lesungen in Tränen aus und danken ihm. DasFernsehen berichtet. Eine Frau mit Namen Laura drängt ins Bild und erzählt, wiesie Wilkomirski als Kind im KZ kennengelernthat. Sie bestätigt seine Erinnerungen: »Er ist mein Benji«,lacht sie und schmiegt sich an ihn.
1998 bricht WilkomirskisLügengebäude mit einem Krach zusammen. Der in Israel geborene SchriftstellerDaniel Ganzfried - selbst Sohn einesAuschwitz-Überlebenden - hat sich auf seine Fährte gesetzt und herausgefunden,dass der angebliche Jude Wilkomirski in Wirklichkeitdas uneheliche Kind einer jungen Schweizerin ist, das der Mutter vom Jugendamtweggenommen und 1945 zur Adoption freigegeben worden war. »Gedankenlos mitleidend, finden wir im Opfer den Helden, mit dem wir unsauf der Seite der Moral verbrüdern können«, schreibt Ganzfriedüber das Phänomen Wilkomirski. Der Schriftsteller machtsich mit seiner Entdeckung viele Feinde. Er wird heftig attackiert, gerade vonJuden. Man unterstellt ihm, er gönne Wilkomirski denErfolg nicht oder leide an pathologischer Besessenheit. Dem Historiker Mächler erklärt Ganzfried, esgehe ihm darum, »in Kategorien der menschlichen Vernunft über den Holocaustnachzudenken«. Er strebe eine analytische Auseinandersetzung mit diesem Themaan. Die »tränenreiche Autobiographie« lehnt er ab.
Diese Emotionalisierung war dasErfolgsrezept des Autors Wilkomirski. Obwohl durchdie Recherchen des Historikers Stefan Mächlerwiderlegt, blieb er, der tatsächlich Bruno Grosjean heißt,bei seiner Story. Einen DNA-Test mit seiner inzwischen aufgetauchten SchweizerFamilie verweigerte er. Der Suhrkamp Verlag zog das Buch mit den angeblichenKZ-Erinnerungen zurück. Es stellte sich heraus, dass Grosjeanseine angebliche Autobiographie echten Auschwitz-Opfern abgelauscht undeiniges hinzuerfunden hatte, und seine vermeintliche Leidensgenossin Laura ausdem KZ erwies sich als eine Betrügerin, die einige Jahre zuvor bereits alsangebliches Satans-Opfer Furore gemacht hatte. »Das Satans-Opfer wartatsächlich zum Nazi-Opfer mutiert«, schreibt Stefan Mächlerin seinem Buch Der Fall Wilkomirski: »Die Frauhatte ihr Kreuz gegen den Davidstern eingetauscht; es quälte sie nicht mehr derSatanist Victor, sondern der Nazi-Arzt Mengele ... und ihre heutigenkörperlichen Gebrechen waren nicht mehr die Folgen von Missbrauch undVergewaltigung, sondern von abscheulichen medizinischen Experimenten.«
Was haben Geschichten wie die derSebnitzer Mutter oder die des Schweizers »Wilkomirski«mit meinem Buch zu tun? Sehr viel. Ich erzähle sie, weil bei geschicktenFalschbehauptungen immer das gleiche Muster bedient wird - auch in dem Fall derbeiden Justizirrtümer, von denen ich im Folgenden erzählen werde: Menschensetzen Unwahrheiten in die Welt, machen damit Furore und lösen dabei einbestimmtes Reiz-Reaktions-Muster aus, das dem um die Wahrheit Bemühten denBlick trübt. Erfolgreiche Lügner zeigen uns oft unsere kulturbedingtenScheuklappen. Das tat auch das junge Mädchen aus Norddeutschland, von dem diesesBuch handelt. Es präsentierte sich als Vergewaltigungsopfer und täuschte mitseiner Leidensgeschichte Polizei, Psychiatrie, Staatsanwaltschaft und Gericht.Ein heikles Thema, dem sich jeder nur mit Scheu und schlechtem Gewissennähert, wird ergriffen und instrumentalisiert. Die politicalcorrectness der Angesprochenen gebietet es, demvermeintlichen Opfer - zum Beispiel einer Vergewaltigung oder einesNS-Verbrechens - bedingungslos zu glauben. Zweifler laufen Gefahr, selbst imReich des Bösen verortet zu werden. Dieses unkritische Hofieren von Personen,die sich selbst als Opfer vorstellen, ist ein stabiles Fundament für erfolgreicheLügen. Recherchierende Journalisten, argwöhnische Lektoren - ja sogar derWahrheitsfindung verpflichtete Richter fallen ihrer eigenen Denksperre zumOpfer.
Die Muster der Lügen sind ähnlich,das Ausmaß des Unheils, das sie anrichten, ist unterschiedlich. Die SebnitzerMutter hat junge Leute vorübergehend in Untersuchungshaft gebracht, den Rufeiner Region zeitweise geschädigt und die deutsche Medienlandschaft in eineKrise gestürzt. Doch die sich anschließende öffentliche Aufarbeitung derAngelegenheit hat den Schaden in Grenzen gehalten.
Der angebliche Wilkomirskihat den Gipfel des Zynismus erklommen und nicht nur den Literaturbetrieb,sondern auch die wahren Opfer des Nationalsozialismus in aller Öffentlichkeitzum Narren gehalten. Doch auch hier hat letztlich niemand so sehr Schadengenommen, dass er sich davon nicht mehr erholt hätte - außer vielleicht derGeschichtenerfinder selbst.
Im Gegensatz zu diesen Beispielenhat der Fall, von dem mein Buch handelt, kein großes Aufsehen erregt. Ervollzog sich in aller Stille. Dafür sind seine Folgen um sogravierender: Zwei Unschuldige saßen lange Jahre im Gefängnis, weil die Justizeiner Lügnerin glaubte und warnende Stimmen überhört hat. So wurden zwei Lebenzerstört.
Ob sie die antifaschistische oderdie feministische Karte ziehen - auch die Lügner sind in Not. Keiner von ihnenlügt aus Freude an der Lüge. Sie leiden tief im Innern Seelenqualen, die sie dazuzwingen, sich zu Opfern zu stilisieren. Sie sind zwar die Urheberdes angerichteten Unglücks, aber nicht allein verantwortlich. Verantwortlichsind auch all jene, die ihnen blinden Glauben schenken, obwohl sie es besserwissen müssten.
© Hoffmann und Campe Verlag
- Autor: Sabine Rückert
- 2007, 287 Seiten, Maße: 13,5 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Hoffmann und Campe
- ISBN-10: 3455500153
- ISBN-13: 9783455500158
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Unrecht im Namen des Volkes".
Kommentar verfassen