Urlaubsreif
Auf Studienfahrten sitzen wir die Zeit in Restaurants ab, in denen der Reiseleiter Provision einstreicht. Stets haben wir das Gefühl, das Beste zu verpassen. Erst wenn wir erschöpft nach Hause zurückkehren, wissen wir, was wir wollten und nun brauchen: Urlaub.
Urlaubsreif vonDietmar Bittrich
LESEPROBE
Komisch, wir haben immer Glück
Der edelste Grund des Reisens istes, den Neid der anderen zu
erwecken. Sie sollen glauben, dasswir glücklich waren, während
sie im Regen saßen. Sie haben sichüber Hotel, Organisation,
Wetter geärgert und formulierengerade einen Beschwerdebrief.
Wir hingegen haben das Paradieserlebt. Sie sind gerädert. Unsere
Erholung wird noch Jahre vorhalten.Zwar war unsere
Fahrt durch den öden Mittelwestensterbenslangweilig. Aber
nun kommen wir ins Schwärmen: »Dieseunglaubliche Weite!
Man wird innerlich ganz still!« Gewiss, im Süden brannte die
Sonne so feindlich und unbarmherzig,dass wir nicht barfuß laufen
konnten. »Aber diese südlicheSonne«, jubeln wir jetzt, »dieses
unvergleichliche Licht!« Im Nordenließ uns die Kälte das
Haar ausfallen: »Diese Klarheit! Soetwas gibt es hier gar nicht!«
Und wenn der Sturm uns unbarmherziggepeitscht hat, frohlocken
wir: »Herrlich, sich mal so richtigdurchblasen zu lassen!«
Egal, was wir erlebt haben, es warwieder mal perfekt für uns
gemacht. So berichten wir esjedenfalls unseren schluckenden
Zuhörern. »Wir wissen selbst nicht,warum wir immer so viel
Glück haben.«Die Luft war lau. Die Berge schimmerten. Das
Wasser hatte die perfekteTemperatur. Vom Rummel war nichts
mehr zu merken, nirgendsWarteschlangen, keine besetzten Tische.
Strand und Pool hatten wir praktischfür uns allein. Wo
immer wir auftauchten, war manglücklich, uns zu sehen. Im
Hotel wurden wir per Upgrading in die Präsidentensuite umgebucht.
Wir können es uns selbst nichterklären, »vielleicht waren
wir dem Direktor so sympathisch«.Unsere lauschenden Freunde
erblassen.
Auf dem Schiff saßen wir stets amKapitänstisch. Das Essen
hatte fünf Sterne, nur reiste der Kocham letzten Tag ab, schade
für alle, die nach uns kamen. Alswir die alte Kathedrale betraten,
fing just in dem Augenblick der Choran zu singen, nur für
uns, und dazu brach ein Sonnenstrahldurch die Wolken und
leuchtete durch die alten Fenster.»Es war mystisch!« Unsere
Freunde winden sich vor Qual. Dasgibt uns Auftrieb. Wir waren
das letzte Auto, das auf die Fähregelassen wurde. Alle hinter
uns mussten zurück und eineÜbernachtung suchen. Die
Alhambra hatten wir erstaunlicherweise füruns allein. »Keine
Ahnung, wo die anderen Leute waren.«In Disneyland wurde
die Sperre hinter uns zugeschlossen.
Ob wir mal trübes Wetter hatten?Nein. Höchstens am Tag,
als wir sowieso im Prado waren. Achja, und andere, die mit uns
reisten, die hatten Pech. Einer tratin einen Seeigel, eine Dame
wurde beklaut, eine zweite verdarbsich den Magen, für eine
Gruppe waren die Koffer nichtmitgekommen, andere litten bis
zum Ende unter der Zeitumstellung,es gab Knöchelbrüche zwischen
Säulenstümpfen, Schlaflosigkeit instickigen Zimmern,
verpasste Anschlüsse.
Aber, komisch, nicht bei uns. »Wirhaben ja immer Glück, wir
wissen auch nicht, wieso.« Unsere Zuhörer tun so, als ob sie
sich freuen. Innerlich leiden sieunter Krämpfen. Macht nichts.
»Sämtliche Touristen vor uns hattensich vergeblich auf Whale-
Watching-Fahrten begeben, wochenlang war nicht maleine
Schwanzflosse zu sehen gewesen. Alswir kamen, tauchte prompt
eine ganze Herde auf und vollführteSprünge und Spiele. Der
Ranger hat selbst gestaunt, so was hat ernoch nicht erlebt, hat
er gesagt.«
Tja, es ist halt so, wenn wirkommen. Der Landbevölkerung
leuchteten die Augen. Ungläubig vorStaunen berührte man unsere
Kleider. »Das ganze Dorf hat umunser Auto rumgestanden.
So was hatten die noch nie gesehen.« Im Blockhaus im
Värmland kam jeden Abend ein Elch, um seinGeweih an unserer
Tür zu schaben. Auf der Safarischlichen Löwen um unser
Zelt und schnaubten in den Eingang.Unsere Freunde ringen
jetzt um Luft. Wir dürfen nicht zuweit gehen.
Nur noch dies: Prominenz ist unseigentlich gleichgültig, aber
wie der Zufall es so wollte, fuhrgerade die Königsfamilie vorbei,
als wir in Stockholm die Straßeüberquerten. Tja. Und als wir in
der Lounge saßen, fing ein Gast einGespräch mit uns an. »Er
war wohl ein Schauspieler, AnthonyHopkins oder so, ich weiß
nicht, kennt ihr den? Soll rechtbekannt sein, aber wir sehen
ja nie fern. Naja,der hat uns eingeladen, mit seinem Chauffeur
einen Ausflug zu machen. Im nächstenJahr sollen wir auf seinem
Schloss wohnen.«
Vorsicht jetzt, nicht zu sehrübertreiben! Die Zerknirschung
der anderen ist ein genauerGradmesser, wie weit wir gehen
dürfen. Sie sollen ja lediglich dasGefühl haben, dass wir von den
Göttern begünstigt werden, währendsie ihre Reise in den Sand
gesetzt und ihr Leben verfehlthaben. Das sollen sie glauben.
Mehr wollen wir ja gar nicht. Istdas etwa unbescheiden? Ich
glaube, von einer mittelmäßigenReise darf man das erwarten.
Reisen macht dumm
Zu Hause sind wir klug, oft sogarscharfsinnig. Doch sobald
wir mit Koffer und Ticket das Hausverlassen, sinkt der Intelligenzquotient.
Womöglich war er gar nicht so hoch?Mir erscheint
bereits auf dem Bahnhof die Weltnicht mehr halb so
durchschaubar wie am Vorabend beider Tagesschau.
Auf dem Flughafen kribbelt dieKopfhaut vom Schrumpfen
der Gehirnmasse.
Es geht abwärts. Bei denEinreiseformalitäten verflüchtigen
sich zwischen »Arrival Record« und »Departure Record« die
letzten Englischkenntnisse. Gehöre ich zur»X category«? Hoffentlich
nicht.»Applicant is required to sign an affidavit«? Was ist
das? Wie in alten Zeiten schreibeich alles beim Nachbarn ab
und unterzeichnekleinlaut: »I certify that I have read andunderstood
all questions.«
Im Land selbst, in fremder Spracheund gar fremder Schrift,
erweisen sich schlichtesteDenkaufgaben als unlösbar. Heißt dieses
Wort auf der Schwingtür »Herren« unddas andere »Damen«
oder umgekehrt? Beim Buchen derReise sind wir ohne Wörterbuch
ausgekommen, jetzt, wo es dringendwird, gehen die Vokabeln
aus. Darf ich mich Ihnenanschließen, mein Herr?
Und dann allein in der Kabine - gibtes hier tatsächlich nur
ein Loch im Boden? Wie geht dasjetzt, was sonst so einfach
schien? Wieder draußen - wie gelangtman durch diese Drehkreuze
ins Freie? Mit einer Münze, Karte,einem Chip?
Sogar Kinder kommen besser zurecht.Sie sprechen diese
sonderbare Sprache fließend. Mitetwas Glück erlangen wir im
Hotel für einen Augenblick unsereWeltklugheit zurück. Etwa,
wenn »caldo«auf dem Wasserhahn steht. Darauf fallen wir nicht
mehr herein. Behutsam aufgedreht -jawohl, »caldo« heißt warm!
Aber dann: Wie schaltet man denVentilator ab, der mit dem
Lichtschalter anspringt, aber nichtwieder ausgeht? Wie lässt
sich der Sturmwind der Klimaanlagestoppen, wenn sie bei
»Off« einfach weitermacht? Und,jetzt wird es völlig undurchschaubar,
wie kommen wir eigentlich in diesesBettzeug rein?
Es ist fast so peinlich wie am Abendim Restaurant, als wir
unsere Finger asiatisch reinlich inder Fingerschale badeten, während
wir auf die Suppe warteten - bis derOber uns informierte:
Die haben Sie schon!
Ein Schritt auf unserenApartmentbalkon zum erleichternden
Durchatmen, da fällt die Tür zu. Vonaußen ist sie nicht mehr
zu öffnen. Wir müssen uns wohl umdie Trennwand beugen:
Hallo, Herr Nachbar? Die Stufe desVolltrottels ist jetzt vollständig
erklommen.
In Sydney habe ich mal, weil derFahrstuhl nicht kam, das
Treppenhaus gewählt. Und dann konnteich in keinem Stockwerk
zurück auf den Hauptflur. DurchHochsicherheitstüren
aus Panzerglas sah ich glücklicheGäste bequem durch Teppichflure
wandeln und musste immer weiterrunter, bis zu den Müllcontainern.
Versklavte Unberührbare starrtenmich an. Durch
erstickende Dämpfe und Fettschwadentaumelte ich in die Küche
- machen Sie bitte weiter, ich bines nur - und floh durch
den Frühstücksraum nach draußen. Wieein fremder Brötchen-
korb oder gar eine Kaffeemaschinefunktioniert, hätte ich zu
diesem Zeitpunkt ohnehin nicht mehrbegriffen.
Ein Blick hinauf zur Sonne.Erleichterung. Sie ist dieselbe.
Aber wieso wandert sie hier vonrechts nach links? Stehen wir
verkehrt? Oder geht sie auf derSüdhalbkugel im Westen auf?
Wenn wir, um diese Frage zu klären,zu Hause anrufen wollen,
ist es da jetzt früher oder später?Oder ist es genau dieselbe Uhrzeit,
bloß an einem anderen Tag, zumBeispiel gestern? Ein Leben
des strebenden Bemühens - vergebens.
Auf Reisen kommt das letzte Wissenabhanden. Früher kannten
wir den Unterschied zwischenLängengrad und Breitengrad.
Er war so ähnlich wie der zwischenBackbord und Steuerbord
oder konvex und konkav oder Dromedarund Kamel. All das
verwirrt sich zu einem Knäueldüsterer Begriffsstutzigkeit.
Und Inkas, Mayas und Azteken, wassollen auch solche Unterschiede?
Elefanten mit breiten oder kurzenOhren, Karl der Vierte,
Fünfte, Sechste, Philipp der Guteoder Schöne, ohne Land oder
ohne Furcht, Johanna die Wahnsinnigeund die von New Orleans
- ist das nicht im Grunde alles ein-und dasselbe?
Na, wir können ja zu Hause alles nochmal nachlesen.
Ach ja, zu Hause. Da sind wir wer.Da werden wir endlich
wieder Bescheid wissen. Und dannkönnen wir allen Daheimgebliebenen
erklären, wie die Welt funktioniert.
Sag du doch, wo es hingehen soll!
Es gibt auf dieser Erde keine zweiMenschen, die in ihren Ansichten
vollkommen übereinstimmen. Besondersnicht, wenn
sie gemeinsam in Urlaub fahrenwollen. Schon das Planungsstadium
offenbart erschreckende Differenzen.Angedeutete Vorfreude
des einen - »In diesem Jahr sollMexiko günstig sein« -
kann beim anderen bereits schwereKrisen auslösen. Das ist
kein Wunder. Denn das Leben fügtunfehlbar zwei Menschen
zusammen, von denen der eine lieberin die Berge und der andere
lieber ans Meer fahren würde, oderder eine in die Trubelmetropole
und der andere in die Einsamkeit.
Die Reise führt dann häufig an einenOrt des Kompromisses.
Es sei denn, der beharrlichereNörgler setzt sich durch. Oder es
kommt zu einem juristisch feinabgestimmten Handel: »Na gut,
dann fahren wir im Mai an deine Côted Azur, dafür geht es aber
im September auf die Lofoten!« Nach meiner Erfahrung ist es in
so einem Fall günstig, wenn derUrlaub des Partners zuerst drankommt.
Dann kann man sich während dergeballten Langeweile
an der Côte d Azur ausmalen, wieschön es bald auf den Lofoten
sein wird.
Leben Sie in liebevollerZweisamkeit? Dann haben Sie bestimmt
schon die sonderbare Beobachtunggemacht, dass Sie
sich unwillkürlich nach Südensehnen, wenn der Partner äußert,
er würde gern mal im Norden Urlaubmachen. Dass aber der
Norden erstaunlich an Attraktivitätgewinnt, wenn der Partner
vom Süden träumt. Wir wollen dasnicht vertiefen. Es reicht
zu wissen, dass dem Stadium derPlanung große Bedeutung zukommt.
Nur bei einer ausführlichenVorbereitung der Reise
können wir genügend Spannungaufbauen und Stress ansammeln,
damit der Urlaub sich tatsächlichlohnt.
Darf ich Vorschläge machen? ErwähnenSie lange im Voraus
verschiedene attraktive Ziele, ohnejedoch jemals konkret zu
werden. Nur ein hoherUnsicherheitsfaktor bis unmittelbar vor
Abreise trainiert die heute sowichtige Flexibilität. Zwar steht
oft schon früh im Jahr fest, inwelchem Zeitraum die Reise stattfinden
muss. Eine frühe Buchung wäre alsomöglich und könnte
Kosten sparen. Doch hier gilt esWiderstand zu leisten. Eine
frühe Festlegung schmälert die Aurades Abenteuers.
Gerade im Vagen liegt der Zauber.Oft reicht es, ein magisches
Wort in den Raum zu werfen:»Patagonien«, »Neufundland
«, »Hebriden«. Oder einen schwärmerischenSatz: »Man
müsste mal die Panamericanarunterfahren oder die Seidenstraße
lang.« Dasist dann schon wie Urlaub. Nur noch den Atlas
dazuholen, um mit dem Finger Routenentlangzufahren und
weitere geheimnisvolle Ortsnamen zuentdecken. Das reicht. Die
Wonnen des Fernwehs übertreffen ohneZweifel die Realität der
Ferne.
Doch der andere Teil derPartnerschaft ist oft nicht so genügsam.
Meine Frau zum Beispiel erkundigtsich, schleppt Prospekte
an, durchforstet sogar das Internetund kommt mit unangenehm
handfesten Vorschlägen. »Das Hotelliegt direkt am
Wasser.« Jetzt müssen plausibleEinwände her. »Am Wasser? Da
gibt es doch unendlich viele Mücken!« Sie hat schon Alternati-
ven parat: »Das andere Hotel liegt amBerghang mit wunderschönem
Panorama-Blick.« Das Wort hat sie imKatalog aufgeschnappt.
»Am Berg? Das würde ja bedeuten,dass wir immer
erst ins Dorf runterklettern müsstenund dann wieder rauf!«
So leicht gibt sie sich nichtgeschlagen. Weil die Planungsphase
bei trübem Wetter stattfindet, habensich die sonnig gefälschten
Katalogfotos in ihre Seele gesenkt.Sie liest vor, was
man da so alles machen kann:Wasserski, Sommerrodeln, Yoga,
Höhlenwanderungen, Vorträge,Ausflüge, Konzerte in antiken
Ruinen. Müde Gegenwehr: »Meinst duim Ernst, dass wir irgendwas
davon nutzen?«
Grundsätzlich ist der planendePartner für die Begeisterung
zuständig, der verplante Partner fürdie Befürchtungen. Um die
Zeit bis zur Abreise spannungsreichzu gestalten, können die Rollen
gelegentlich gewechselt werden. Nachdem Motto: »Dann
sag du doch, wo es hingehen soll!« Mit unverdaulichen Wälzern
- »Die Mythologie Griechenlands«,»Die Renaissance« -
können wir unsere Kräfte weiterverschleißen, besonders wenn
es am Ende ganz woanders hingeht.Denn bei der Vorbereitung
kommt es vor allem auf eines an:dass wir Urlaubsreife erlangen.
Wenn wir nicht völlig geschafft zumFlughafen taumeln, haben
wir falsch geplant.
© Hoffmann und Campe
- Autor: Dietmar Bittrich
- 2006, 1, 128 Seiten, Maße: 12 x 19,2 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Hoffmann und Campe
- ISBN-10: 3455400086
- ISBN-13: 9783455400083
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