Venus
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Venus von Else Buschheuer
LESEPROBE
Prolog
Es ist ein dampfend heißer Frühsommertag, als wir durch Manhattan fliegen, aufder Suche nach unserer Sommergeschichte. An der Upper East Side werden wirfündig. Durch ein riesiges blitzblank geputztes Fenster sehen wir eine nackteFrau stehen, reglos neben einem nackten Mann, dieser auch reglos, aber liegend,blutend, aus vielen Wunden, zwischen ihnen ein Messer.
Wir nähern uns der Wohnung, dem Zimmer, betrachten die beiden. Es ist nichtviel Ausdruck im Gesicht des Mannes, denn er ist ja tot. Das ist offenkundig,dass er tot ist, und jeder, der schon mal einen Toten gesehen hat, wirdbestätigen, dass der Unterschied zwischen einem lebenden nackten Mann und einemtoten nackten Mann derselbe ist wie zwischen einem Fisch im Wasser und einemFisch in der Dose. Erloschen, entseelt, nichts als der Verwesung ausgesetztesFleisch.
Auch im Gesicht der Frau ist nichts zu lesen, und das, obgleich sie lebt. Sieist schön gewachsen, zweifelsohne, ausgestattet mit einem milchweißen Körper,an dessen Hals hektische Flecken wie Klatschmohn wachsen. Breitbeinig steht sieda, Füße nach außen, vor sich hin starrend, nicht direkt zum Toten am Boden,eher hindurch, vorbei, woanders hin, dorthin, wo keiner ihrem Blick folgenkann, wir jedenfalls nicht. Die Geburt der Venus fällt uns ein, und wir spürenbrennenden Hunger auf die ganz große Tragödie.
Erst nach Minuten öffnet sich Venus Hand, spreizen sich spillerigeKlavierfinger, als würden sie das Messer fallen lassen wollen, wenn es nichtschon am Boden läge. Sie läuft einige Schritte zum nächsten Zimmer,Staubflocken tanzen zwischen ihren nackten Füßen, als sie ihren etwas zu dünnenKörper über den Marmorfußboden balanciert, sie reckt ihren ohnehin etwas zulangen Hals, greift nach einem roten Büstenhalter, einer roten Unterhose, einemroten Sommerkleid, rot wie das Blut am Körper des Mannes, am Messer, auf demBoden, das frische Blut, dessen metallener Geruch in der Luft hängt. Sie ziehtsich an, mit den eckigen Bewegungen einer Gliederpuppe, und verlässt dieWohnung.
Wir gehen ihr natürlich nach, denn an diesem Eckpfeiler der Geschichte istunser Interesse erwacht, wir heben an ihm das Bein wie ein Hündchen; waspassiert ist, wollen wir wissen, und natürlich auch, warum, warum eher alswann, und ob die beiden einander geliebt haben oder nur Liebe gemacht odernicht einmal das. Wir wollen wissen, was nun wird aus der Frau, denn was ausdem Mann wird, ist ja klar. Der Mann wird in eine Tüte gepackt, in eineKühltruhe geschoben, er wird aufgeschnitten, ausgenommen, wieder gestopft undspäter vergraben. Wir gehen also ihr nach, weil uns das interessantererscheint, als neben ihm hocken zu bleiben und auf die Herren von derSpurensicherung zu warten, wir sind von Neugier gepeinigt, von Schadenfreude,Mitleid, Sensationslust, wir wollen alles, alles über die schöne bleiche Venuswissen.
Sie aber läuft nur, und wenn wir nicht von dem Toten wüssten, würden wirvielleicht das Interesse verlieren, eine Frau, die die First Avenuehinunterläuft, barfuß, Block für Block, im flammendroten Kleid, auch wenn sie dabei fabelhaft aussieht, auch wenn ihrSpaghettihaar wie eine weiße Flagge im Sommerwind flattert, auch wenn dieserLanglauf vor der atemberaubenden Kulisse von Manhattan geschieht, so erschöpftsich doch der Anblick nach und nach, nur unser Herrschaftswissen hält uns beider Stange. Niemand, der die milchweiße hellblonde Frau sieht, weiß, was wirwissen. Niemand kann in ihrem blassen Gesicht lesen, dass es gerade den Todgeschaut hat.
1 Verliebung
Eine halbe Stunde später ist die Protagonistin unserer Sommergeschichte schonfünfundzwanzig Blocks downtown gelaufen, und unsberuhigt die Vorstellung, dass kein Mensch New York zu Fuß verlassen kann, weildas Wasser ihn früher oder später aufhalten wird, in welche Himmelsrichtung erauch immer zu fliehen versucht.
Die Venus wird über kurz oder lang den Südzipfel der Insel erreichen, und dannist nämlich Sense.
Aber das scheint sie nicht zu stören. Sie läuft. Sie läuft. Sie läuft wiejemand, dessen Ziel es ist, zu laufen, den steinharten Boden Manhattans mitsorgsam manikürten Zehen abzumessen, wie jemand, der kapriziös ist oder wütendoder ganz und gar gedankenversunken. Wir sind festdavon überzeugt, dass es nicht zum Tagesgeschäft dieser Frau gehört, mit nacktenFüßen über New Yorks heißen Asphalt zu laufen, dazu sieht sie zu elegant ausund die Füße zu verhätschelt, aber wir begegnen ihr ja im Moment ihrerLebenswende, das allein macht sie für uns interessant, also folgen wir ihrweiter.
Doch weil dieser New Yorker Sommer sich besonders schwül anfühlt, so wie jedesJahr, weil sie erschöpft ist, weil sie keinen Hitzschlag erleiden soll,schicken wir ihr Angebote entgegen. Wir schicken einen Polizisten, einenFeuerwehrmann, einen Soldaten, einen Bodybuilder, einen Skilehrer, starke,potente Männer. Sie kommen in kurzen Abständen auf sie zugelaufen, lächeln,sagen hi, suchen ihren Blick, aber sie sieht sienicht, sie sieht sie nicht, sie läuft weiter. Also schicken wir ihr einenAkademiker, einen Dichter, einen Studenten, aber auch diese Männer sindoffenbar unsichtbar für sie.
Etwa zehn Blocks vor der Houston Street biegt sie urplötzlich nach links ab,läuft ostwärts, zwei Blocks weiter, dann wieder downtown,vorbei an Paolo s Deli,Laptop Repair, Dolphin Gym, Ugly Coyote Thrift Shop, King s Pharmacy, Theodoro Grocery, Dry Cleanerand Landromat, Hairdresser unisex. Vor Paolo s Car Repair jedoch strauchelt sie und fällt. Wir sehen, dassihre Fußsohlen bluten. Wir sehen, wie ein kahl rasierter Riese in einer orangen Kutte sie aufhebt, auf sie einredet. Wir sehen, wiesie kurz Gegenwehr leistet, wie ihr Gesicht sich höhnisch verzieht, wie sieaber dann aufgibt und nachgibt und sich auf seine starken Arme heben undwegtragen lässt. Wir frohlocken. Eine gefallene Prinzessin und ein Bettelmönch.Eine Mörderin und ein Heiliger. Ihr Anblick und wie sie gemeinsam in einerkleinen Barockkirche auf der Avenue B verschwinden, hat unsere Phantasieangeregt, so sehr angeregt, dass wir alle Termine absagen, dass wir es alsunumstößlich betrachten, diesem Paar weiter zu folgen, in ein Treppenhaus, ineinen Fahrstuhl, in ein mit Goldbrokat und rotem Samt ausgeschlagenes Zimmermit niedriger Decke, voll gestopft mit Buddhastatuen, Kruzifixen und kitschigenindischen Göttergemälden.
Schon sitzt sie auf einem Stuhl, der Kopf hängt nach unten, das weißblondeSpaghettihaar hat sich wie ein Schleier vor ihrem Gesicht geschlossen. Siebietet ein Bild des Jammers, das muss man schon sagen, aber selbst im Jammerist sie noch anmutig. Jetzt, langsam, hebt sie den Kopf, der etwas Gläserneshat, der Vorhang öffnet sich, mit flaschengrünen Augen unter dichten weißenWimpern sieht sie sich unwillig um. Was soll man sagen, wenn man aufwacht undsich alles wie ein Traum anfühlt, in diesen Dingen ist selten einer originell.
»Wo bin ich?«, fragt sie da auch schon.
»In God s Motel«, säuselt ein Stimmchen.»Willkommen!«
Wir werfen nun einen Blick hinter ihre helle Stirn, in das Chaos in ihrem Kopf.Eben denkt sie, sie sei tot und im Himmel. Eine Vorstellung, die ihr gefällt.
»Was ist passiert?« Sie kräuselt ihre perfekte Nase, findet sich umringt vonAschenputteln. Das ist ja ekelhaft, denkt sie. Das kann unmöglich der Himmelsein.
Man kann sich vorstellen, wie fremd sich jemand fühlt, der sonst auf der UpperEast Side verkehrt, in Penthäusern mit spiegelblanken Fenstern, die dieseMenschen vermutlich niemals betreten werden, es sei denn, sie putzen sie, dieFenster und die Penthäuser.
Neben ihr sitzt ein indisch aussehendes Mädchen, das fast aus seinem Sariplatzt, mit hüftlangem schwarzem Haar, glänzend wie Rabengefieder. Sietätschelt Venus Wangen, knetet ihre zarten hellen Hände, stellt ihr mitschwarzem Mund irgendeine Frage, die sie aber nicht beantwortet. Eine Asiatinmit Kopftuch ums ungeschminkte Gesicht bringt eine Tasse Tee, die die Venusaber nicht trinkt. Das wäre ja noch schöner. »Ich trinke einen doppeltenEspresso«, lässt sie die Anwesenden wissen, da sie ein verwöhntes Zicklein ist.Die Asiatin schüttelt stumm den Kopf, geht wieder weg, kommt mit einem GlasWasser zurück.
Ein feister Indianer mit einer dicken dunklen Hornbrille wäscht Venus Füße undreinigt sie mit Jod. »Aua!«, schreit sie und zieht die Füße weg. Die Sätze desIndianers beginnen mit »Anyway«. Er machtaufmunternde Scherze, über die nur er selbst lacht, im Falsett, während ergeziert abwinkt. Ein Orientale mit einem hohen Korkhutund einem bunten Flickenmantel steht an der Tür, die schmutzigen Hände über derBrust gekreuzt, unwirklich wie eine Märchenfigur. Oder ist das ein Traum, denktunsere Venus. Bin ich etwa auf Drogen?
Noch mehr Menschen sind da, aber sie bleiben schemenhaft. Nur dass ein haarigerZwerg in weißer Toga ihr immer wieder das Wasserglas hinschiebt, es ihr sogaran die Lippen hebt, nimmt sie wahr. Sie trinkt. Sie verzieht das Gesicht. DasWasser schmeckt nach Chlor. Das Zimmer riecht nach Räucherstäbchen. Der Magendes Toga-Zwergs knurrt vernehmlich.
Sie muss raus aus diesem Kostümfundus, raus aus dieser Gesindekammer, in derman ihr sogar den Espresso verweigert.
»Wo kann ich telefonieren?«, fragt sie und sieht sich um. Natürlich ist espikiert, unser Uptown-Girl mit seinemMarc-Jacobs-Kleidchen aus der neuen Kollektion. Noch greifen wir nicht ein. ImGegenteil. Wir sind sehr gespannt, wen sie nun anrufen wird. Sie sieht blassaus, vielleicht ist es das sie umspülende Rot des Kleides, vielleicht ist esder unsortierte Farbenwust des multireligiösen Zimmers, aber unsere Venus wirktdurchsichtig, als hätte der Tod des nackten Mannes alle Farbe aus ihr herausgewaschen, als hätte sie gleichsam mit ihm alles Blutverloren, als hätte die Sonne sie gebleicht, anstatt sie zu bräunen.
Der Haarzwerg reißt ein schnurloses Telefon aus dem Holsterund reicht es ihr. Sie nimmt es huldvoll in ihre spillerigen Klavierfinger, hältaber inne.
»Neun vorwählen«, sagt Toga mit leiser, eingecremter Stimme und immer nochpenetrant knurrendem Magen. Der feiste Indianer, der rote Kriegsbemalung imGesicht hat, tupft immer noch an ihren Füßen herum. Sie zieht sie weg,woraufhin er eingeschnappt zischt.
»Neun vorwählen«, haucht das Männchen noch mal. Sie tippt mit ihrem perfektgeformten perlmuttlackierten Zeigefingernagel dieNeun vor. Aber es ist nicht die Neun, um die es hier geht. Die Neun ist esnicht. Es ist der Rest. Sie kann sich nicht erinnern, was dann kommt. Nicht andie Nummer. Nicht einmal daran, wenn sie anrufen will.
»Wo bin ich hier eigentlich? In einer Klapsmühle?«, ruft sie. Die hektischenMohnblumen wachsen wieder auf ihrem Hals. Unsere Venus will aufstehen, aber sieschwankt, sie fällt.
Hände, dunkle, raue, abgearbeitete, kräftige Hände, fangen sie auf, kurz sindwir besorgt, man könne unser neues Spielzeug zerbrechen, aber nein, sehrsorgfältig wird es auf ein Sofa gelegt.
»Es sind über vierzig Grad draußen«, haucht Toga, von dem wir annehmen, dassseine Sanftheit gespielt ist. »Da sind Kreislaufprobleme ganz normal.« Siesieht aus, als wäre sie empört, wenn sie nicht so schwach wäre. Man hat ihrvielleicht Drogen gegeben, sie gekidnappt und bestohlen. Sie muss weg. Sie mussihre Sachen nehmen und weg.
»Meine Tasche«, ruft sie wie ein König, fehlt nur noch, dass sie ungeduldig indie Hände klatscht.
»Da war keine Tasche«, sagt der Orange Riese.
»Du lügst«, sagt sie. »Du hast mich beklaut! Du hast mich gekidnappt! Ich willnach Hause! Was grinst du so?«
Uns gefällt die Idee, sie hier zu behalten, die Prinzessin auf der Erbse, unsgefällt die Idee immer besser, je weniger sie ihr gefällt. Sie willtelefonieren, aber sie weiß nicht, wen anrufen. Sie will nach Hause, aber sieweiß nicht, wo das ist. Was sie nicht zu vergessen haben scheint, sind diekleinen Dinge, die das Leben angenehmer machen.
»Hat jemand eine Zigarette?«
»Wir rauchen hier nicht«, sagt Toga sanft. Sie sieht sich zornig um. Niemanderhebt Protest. »Ich sagte nicht, dass ihr rauchen sollt, sondern dass ichrauchen will.«
»Du rauchst auch nicht, du hast es nur vergessen«, predigt sein kleiner Mund,ein sprudelndes Brünnlein im Dschungel seines Vollbarts. Ich werde gleichaufwachen, denkt sie. Und dann ist es vorbei. Und dann rauch ich eine. Aber siewacht nicht auf. Und es ist nicht vorbei. Und geraucht wird hier nicht.
»Du kannst heute Nacht hier bleiben«, sagt Toga, und wir können nicht fassen,wie dieses Sahnestimmchen zu den wolligen Unterarmen, zu dem wütenden Verdauungsrumpelnin seinem Leib passen soll. »Morgen wird es dir besser gehen.« Unsere Venus istplötzlich sehr müde. Sie wirft dem Orangen Riesen, der im Weg steht, einenBlick zu und humpelt Toga nach. Schwer, sehr schwer fühlen sich ihre Beine an,ihr ganzes zartes Knochengerüst scheint aus Blei zu sein. Wir können in siehineinsehen. Ihr Kopf ist leer, das ist der Schock, aber auch ihr Herz istleer, das wundert uns.
»Wo bin ich überhaupt?«, fragt sie.
»An einem Ort des Friedens«, wispert der kleine Mann an ihrer Seite, »in einerTempelkirche.«
»Eine Tempelkirche?«
»Ein Gotteshaus. Tempel, Kirche, Moschee, Synagoge, nenne es, wie du willst.«
Sie folgt ihm, leicht schwankend. »In welcher Stadt?«
Er sieht sie alarmiert an.
»New York«, sagt er, »New York City.« Im nächsten Moment hechtet er sich aufden Boden. »Sieht denn das keiner? Muss ich denn alles alleine machen?« Ernimmt den Zipfel seiner Toga und reibt, das ganze bärtige Männchen rutschtdabei vor und zurück. Der Stein des Anstoßes ist ein Milchfleck, der aberoffenbar schon angetrocknet ist. Unsere Venus sieht taktvoll weg. Wir auch, wirsehen uns um, denn wir haben noch nie einen Tempel gesehen, der gleichzeitigeine Kirche, eine Synagoge und eine Moschee ist. Ein skurriles Sammelsurium,verkitscht, ungeordnet, symbolüberfrachtet, einkleines Irrenhaus inmitten eines großen, inmitten eines ganz großen.
Unser Blick richtet sich auf den Mönch, der unsere Venus gefunden hat, der einfreundliches langes Gesicht hat, einen knarzigenkahlen Kopf, ein herrisches Kinn. Sein oranger, fastbodenlanger Kittel wird von einem Strick zusammengehalten wie eine Mönchskutte.Ein strammer Bauch hängt über diesen Strick, und auch seine Hände fallen unsauf, die wie Flöße sind, wie Bärentatzen, wie Bratpfannen. Wir sehen amAusdruck seiner Augen unter buschigen Augenbrauen, dass er die meistenDummheiten schon hinter sich hat, er ist gezähmt worden, nun zähmt er andere,indem er Ruhe ausstrahlt, ausgleichende Ruhe, er macht sogar uns ruhig, die wirdoch ganz aufgeregt sind von den Ereignissen des Tages. Wie muss es erstunserer amnesierten Venus gehen in ihrem kargenGästebett in ihrem kargen Zimmerchen, in dem sie nun liegt, die milch-weißendünnen Beinchen angehockt, die Füße in Mullverbänden, das rote Kleid wie einevoll erblühte Tulpe um die schmalen Hüften geplustert, verloren wirkt sie, soohne jeden Bezug zum Upper-East-Side-Ambiente.
Ihre Augenlider flackern. Es ist Abend oder später Nachmittag. Sie ist immernoch in ihrem goldbrokatenen Albtraum eingesperrt. Sieversucht, sich zu erinnern, an das, was war. Wir sehen sie in ihrem Gedächtnisnach irgendwas suchen, tasten, aber sie denkt gegen eine Mauer. Denn hier habenwir zugegebenermaßen bereits die Hände im Spiel. Sie rüttelt an der Mauer, diewir Stein für Stein um ihre Lebenserinnerung errichtet haben und die so langestehen bleiben wird, wie wir es wollen. Von nun an werden alle in unsererSommergeschichte handelnden Figuren unsere Spielzeuge sein, zu unserer Erbauungund auf eigene Gefahr.
Kurz schwanken wir, dann fällt dem Orangen Riesen die männliche Hauptrolle inunserer Sommergeschichte zu. Toga wäre auch infrage gekommen, aber immerhin wares der Riese, der sie auf der Straße fand und herbrachte, nicht der Zwerg. DerRiese wird es auch sein, der sie in Empfang nimmt, wenn sie aufwacht. Er wirdihr Ärgernis sein und später ihr Lehrer und später ihr Mensch. Wir nennen ihn Bliss Swami. Er ist unserArchetyp des keuschen Mönchs, sie die ätherische Versuchung. So schreiben wirmit literarischen Gaumenfreuden am Drehbuch, während unsere Heroine traumlosschläft.
»Willkommen«, sagt lächelnd der Bliss Swami in freundlichem, langsamem Bariton, als Venusverschlafen aus dem Zimmer tritt. »Möchtest du etwas essen?«
Der Bliss Swami spricht solangsam, dass sie gern an seiner Kurbel drehen würde. Sie mustert ihnhochmütig. Sie ist ungeduldig. Sie ist verwöhnt. Offenbar entspricht der Mannnicht im Geringsten ihren Vorstellungen. Hätte mich nicht jemand anders findenkönnen, denkt sie.
Wir haben dir Angebote entgegengeschickt, möchten wir einwenden, einenPolizisten, einen Feuerwehrmann, einen Soldaten, einen Bodybuilder, einenSkilehrer, starke, potente Männer, wir haben auch Sensible geschickt, einenAkademiker, einen Dichter, einen Studenten, aber sie hört uns ja nicht,außerdem ist in unserer Sommergeschichte kein Platz für Rechtfertigung.
Venus wirft einen pikierten Blick in den Topf. Das ist ja ekelhaft, denkt sie.
Wüsste sie von uns, sie würde uns zürnen, da wir im Begriff sind, sie zumKlischee zu machen, aber wir haben Klischees zu schätzen gelernt, sie treffenzu, nichts unterhält uns besser.
»Salat hätte ich gern, Rucola, aber ohne Dressing,nur etwas frisch gepressten Zitronensaft, aber auf einem Extra-Teller«, sagtVenus knapp. Die Art, wie sie die Lippen kräuselt, lässt uns vermuten, dass sienormalerweise bekommt, was sie will. »Und einen Espresso.«
»Ähm tut mir Leid«, sagt der BlissSwami, den es offenbar nicht kränkt, wie ein Kellnerbehandelt zu werden. Er öffnet langsam, sehr langsam, einige Schränke undSchubladen. »Ich kann dir frische Karotten anbieten und Yogi-Tee.«Es sieht nicht so aus, als würden die beiden kulinarisch ins Geschäft kommen.Genau genommen lässt Venus ihn stehen, geht in ihr Zimmer und knallt die Tür.
Sie sieht sich um. Das Zimmer ist karg wie Karotten und Yogi-Tee.
© Verlagsgruppe RandomHouse
Interviewmit Else Buschheuer
Mit Ruf! Mich! An!" und Masserberg" wurde Else Buschheuer zur Bestsellerautorin.Ihr neuer Roman Venus" spielt da, wodie ehemalige TV-Wetterfee mittlerweile lebt: in NewYork. Wir haben sie auf der Buchmesse getroffen und mit ihr über Klauen,Selbstexperimente und ihre Lieblingsstadt gesprochen.
InIhrem Internettagebuch steht, Sie hoffen, dass Ihr neues Buch Venus" zummeistgeklauten Buch der Messe wird Das passt zu Ihnen!
Also ich finde Hardcover ein bisschen zu teuer, so für diejetzige Lage. Alle klagen, dass sie kein Geld haben und es gibt so vieleArbeitslose, da sag ich mir, der Verlag kann das doch verkraften, wenn hier einpaar Bücher geklaut werden Wenn die Leute so wirklich einen Antrieb haben, zurMesse zu kommen, ist das doch toll. Sie sagen das Tagebuchschreiben ist zu einer Mission für Sie geworden -Warum?
Mein Leben hat sich sehr verändert, seit ich in New Yorkbin. Im Prinzip befinde ich mich in einem permanenten menschlichen Experiment.Ich bin die Versuchsperson, aber ich bin auch die Versuchsleiterin und ich willgucken ohne Netz und doppelten Boden zu überleben, was nicht einfach ist. Ichweiß zum Beispiel nie, wovon ich in zwei Monaten leben werde. Ich versucheauch, keine Zukunftsangst zu haben, sondern ich denke mir, ich nehme jeden Tagwie er kommt. Manche Tagebuchleser folgen meinem Beispiel und erzählen zum Beispiel: Ich habe einen Job inChina gekriegt, den wollte ich eigentlich nicht nehmen, aber jetzt hab ich micheinfach mal getraut.
Wasist das Besondere für Sie an New York, was hat diese Stadt Ihnen gegeben?
Als ich nach New York kam, hatte ich den Eindruck, dass istnicht Amerika! Amerika hatte ich schon mehrfach bereist und New York war wieein Querschnitt durch die ganze Welt, hier konnte man Reisen, ohne ein Flugzeugzu benutzen. Ich musste nur von einer Straße in die andere gehen, vom indischenins pakistanische Viertel usw. Ich habe viel gelernt über das Zusammenleben vonKulturen und Religionen und ich habe begriffen, dass wir in New York alleAusländer sind. Man wird dort nichtangestarrt, weil man eine andere Hautfarbe hat, oder weil man ausgeflippt ist,das gibt s da nicht. Und ich mag auch wie die Leute miteinander umgehen. In NewYork geht man über die Straße und jemand sagt Ich liebe deinen Hut" und alsich frisch nach New York kam, da dachte ich, der wollte sich jetzt unterhalten,aber der wollte mir nur ein Kompliment mit in den Tag geben.
Wie oft sind Sie eigentlich noch in Deutschland?
Ich komme schon zwei-, dreimal im Jahr her. Ich hatte eineGroßmutter, die ist gestorben im letzten Jahr. Mit der habe ich vorher noch ein, zwei Wochen verbracht. Ich habe eineTochter, die ist 18, die geht hier auf die Schule und macht ihr Abitur. Sie haben eine achtzehnjährige Tochter?
Ich hab eine 18jährige Tochter. Ich find stoll, ich bin in der Kür meines Lebens: ich hab ein Kind gekriegt, ich hab einBuch geschrieben, ich hab einen Baum gepflanzt. Eigentlich habe ich alles schongemacht. Deshalb kann ich jetzt mit fast vierzig, ich werde im Dezembervierzig, nur noch Sachen machen, die mir Spaß machen. Und wenn s schief geht,ich hab ja alles erledigt. Dann hab ich halt Pech gehabt.
Venus" spielt ineiner New Yorker Tempelkirche. Stimmt es, dass Sie selbst in einem Hare-Krishna-Tempel gelebt haben?
Ja, aber ich bin damals nicht bewusst dort eingezogen.Seit ich in New York lebe, seit fast vier Jahren also, habe ich immer irgendwogewohnt. Ich hatte nie eine eigene Wohnung. Ich habe zum Beispiel mal einhalbes Jahr in einem Loft gewohnt, wo eigentlich Wohnen verboten war, wo esRatten gab, da habe ich gehaust, schlimmer als in einer Jugendherberge.Jedenfalls hab ich mal wieder was zum Wohnen gesucht und hab einen Handzettelgefunden, da stand drauf: billige Übernachtung. Erst nach und nach hab ichmitgekriegt, dass das ganze Haus ein Tempelbetrieb ist. Es gab einen Tempel,ein Yoga-Zentrum, ein vegetarisches Restaurant usw. Ich habe damals schon anmeinem neuen Roman geschrieben und habe alles wieder umgeschmissen, um dieGeschichte in so einem Haus spielen zu lassen. Was mich allerdings gestört hat,war die religiöse Monokultur. Das heißt, es gab nur eine Religion dort, die Hare-Krishnas, und in meinem Idealkonzept sollten daverschiedene Leute mit verschiedenen Religionen leben.
Haben Sie eigeneErlebnisse oder bestimmte Personen im Buch übernommen?
Ich habe zum Beispiel, um meine Miete zu mindern, Geschirrgespült. Davon bekam ich Brandblasen und Schwielen und aufgedunsene, roteFinger. Ich fand die Idee toll, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten alsGeschirrspüler anzufangen. Später hab ich Muffinsgebacken für die Obdachlosen, das hab ich auch aufgenommen im Buch. Und es gabdort einen Tempel-Präsidenten, den hab ich so ziemlich abgekuckt, der war einsehr dankbares Objekt, den konnte ich einfach gar nicht groß ändern. Es gibtschon konkrete Dinge, die mich inspiriert haben, aber ansonsten hab ich sehrviel reingepackt, was ich mir ausgedacht habe oder auf meinen Reisen so erlebthabe.
Glauben Sie an Reinkarnation, wie am Ende des Buchs?
Es gibt eine schöne Theorie in der Reinkarnation, diesagt, dass wir immer in derselben Gruppe von Menschen wiedergeboren werden.Wenn ich neugeboren werde, dann werden Sie im nächsten Leben meine Mutter seinoder meine Tochter oder meine Freundin. Also das finde ich ganz spannend. Wieein Theaterstück, das ständig neu besetzt wird, ob das natürlich alles stimmt,weiß ich nicht. Das werden wir ja im nächsten Leben sehen. Was würden Sie gerne werden, wenn Sie wiedergeboren würden?
Also wenn ich so weitermache Es gibt ja Sachen, auf dieman achten muss. Rauchen, Alkohol, Fleischessen ist natürlich schlecht. Da wirdman wahrscheinlich als Schwein wiedergeboren oder als Schweineschnitzel. Aberich weiß es nicht. Ich glaube, ich würde gerne in Asien wiedergeboren werden.
InIhrem Buch prallen zwei Welten aufeinander: Die der wohlhabenden underfolgreichen Venus und die von God`s Motel, der Tempelkirche. Was war daran interessant für Sie?
In New York gibt es eigentlich zwei Parallelwelten: In der einenleben diese in die Sektenrichtung gehenden, irgendwelchen kleinenSplittergruppen angehörenden Esoteriker. Und die andere Welt ist eine sehrmaterialistische Welt. Diese Leute bewegen sich nur untereinander, die achtenauf Geld, auf Erfolg, die wählen sich ihre Partner ganz gezielt aus. Ich habeversucht, diese Welten zusammenzuführen. Wahrscheinlich passiert das inWirklichkeit nicht oft.Mögen Sie Sex and theCity"? Wahrscheinlich nicht, oder?
Überhaupt nicht. Ich habe viele Freundinnen, die das mögen.Es wurde ja immer gesagt, dass es die Frauenwelt revolutioniert. Ich finde eshat einen Schritt zurück gemacht. Immer dieses Designer-Schuhesammelnund auf den Traumprinz warten... Aber das verkörpert ein bisschen das New York,das ich gerade angesprochen habe. Ich bin in dieser Szene nie verkehrt und esinteressiert mich auch nicht. Meine Serie ist nach wie vor Seinfeld". Dashaben damals zwei Leute gemacht, die keine Ahnung hatten von Geld, die habendas einfach probiert. Das ist auch so mein Prinzip. Heiner Müller hat malgesagt: Wenn man etwas Neues schaffen will, muss man etwas machen, was mannicht kann. Und ich habe schon oft im Leben etwas gemacht, was ich nichtkonnte. Ob das Wettermoderieren war oder Kindersachen nähen oder auch ein Buchschreiben! Was wusste ich drüber, wie man einen Roman schreibt. Nichts.
Was hat Sie immer wiedervorangetrieben? Hatten Sie nie Angst davor, auf die Nase zu fallen?
Nein. Ich falle gerne auf die Nase. Ich steh auch immerwieder auf, wie so ein Stehaufmännchen. Ich kann nicht ertragen, wenn ich michirgendwo etabliert und durchgesetzt habe und ich bin dann sozusagen der Chef imBüro und ich bin schon zwei Jahre da und alle finden alles toll, was ich mache.Dann merke ich, ich muss weitergehen, sonst niste ich mich ein und gehe niemehr weg und denke, ich bin wirklich jemand. Aber so ist es nicht. Ich mussmich ständig in neue Situationen reinkatapultieren, wo ich dann bestehen muss.Ich brauche diese Komplikationen in meinem Leben. Ich habe ein wahnsinnig kompliziertesLeben, wirklich kompliziert.
Wenn Sie etwasperfekt können, dann müssen Sie also aufhören - das heißt, Sie müssen aufhörenmit Schreiben?
Kann ich das perfekt? Ich glaube, da kann man sich nochsehr entwickeln. Venus" war natürlich das Buch, an dem ich am längstengeschrieben habe. An Ruf! Mich! An!" habe ich ein halbes Jahr geschrieben, an Masserberg" vielleicht eineinhalb Jahre und an Venus" drei Jahre. Und warumist das so? Weil sich in meinem Leben in den letzten Jahren so viel bewegt hat,weil ich auch versucht habe, neue Themen zu behandeln, neue Formen zu findenund ich denke, ich bin noch weit entfernt von der Perfektion. Ich glaube,Schreiben ist einfach mein Leben und alles andere ordnet sich dem unter. Dasführt zu sehr brutalen Entscheidungen im privaten Leben. Wenn ich michentscheiden muss für jemanden oder für das Schreiben, denke ich keine Sekundenach.
Warum muss man sichentscheiden zwischen Menschen und dem Schreiben? Nimmt das Schreiben so vielPlatz in Ihrem Leben ein?
Ja, ich bin sehr eigenbrötlerisch und muss dann alleinesein und könnte auch nicht niemandem leben, weil ich einen Rhythmus habe, denkeiner nachvollziehen kann. Wenn ich nach Hause komme und ich muss mit jemandemreden, weil ich mit jemandem zusammen wohne, aber ich will nicht reden, ichwill schreiben, das finde ich furchtbar. Oder zusammen in Urlaub fahren, nur umdem anderen einen Gefallen zu tun, das ist auch schrecklich. Ich weiß gar nichtwas das ist, Urlaub. Urlaub, ist das, wenn ich mein Tagebuch zumache? Das kannnicht sein.
Ein großes Thema in Venus" ist das Vergessen. Was hat Sie daranso fasziniert?
Ich war sehr krank mit 18 und habe darüber fast meineganze Kindheit vergessen. Ich hab Sie wirklich vergessen. Meine Eltern erklärenmir wiederholt, wie glücklich meine Kindheit war. Ich habe da Blackouts. Undich habe seit Jahren ein Projekt, das heißt Erzähl mir was von mir". Immer,wenn Leute mich wieder finden, die mit mir in einer Schule waren oder so, dannsag ich: Lass uns ein Interview machen und erzähl mir was von mir. Und dannkommen diese ganzen Geschichten, wie ich war, wie verrückt ich war und ichnotiere das alles und daraus ergibt sich ein ganz bizarres Bild.
Die Fragen stellte Nicole Brunner / lorenzspringer medien
- Autor: Else Buschheuer
- 2005, 319 Seiten, Maße: 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Diana
- ISBN-10: 3453290127
- ISBN-13: 9783453290129
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