Vergiss die Toten nicht
Roman. Aus d. Amerikan. v. Karin Dufner
Die erfolgreiche New Yorker Kolumnistin Nell McDermott erfährt erschüttert vom Tod ihres Mannes; er starb bei einer Explosion auf seiner Yacht. Unglücksfall oder Mord? Nell beginnt auf eigene Faust Ermittlungen durchzuführen und kommt einer skandalösen...
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Produktinformationen zu „Vergiss die Toten nicht “
Die erfolgreiche New Yorker Kolumnistin Nell McDermott erfährt erschüttert vom Tod ihres Mannes; er starb bei einer Explosion auf seiner Yacht. Unglücksfall oder Mord? Nell beginnt auf eigene Faust Ermittlungen durchzuführen und kommt einer skandalösen Schmiergeldaffäre in der New Yorker Immobilienbranche auf die Spur.
Die Kolumnistin Nell McDermott plant eine Karriere in der Politik. Gegen den Willen von Adam, ihrem Mann. Dann kommt Adam auf mysteriöse Art ums Leben. Nell recherchiert. Sie entdeckt eine skandalöse Schmiergeldaffäre in der New Yorker Immobilienbranche - und gerät ins Visier von Adams Killern.
"Spannungs-Queen Higgins Clark legt wieder einen fesselnden Thriller vor!" -- FREUNDIN
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Lese-Probe zu „Vergiss die Toten nicht “
Vergiss die Toten nicht von Mary Higgins Clark PROLOG Die fünfzehnjährige Nell MacDermott machte kehrt und schickte sich an, zum Ufer zurückzuschwimmen. Ihr Körper prickelte vor jugendlicher Begeisterung, als sie sich umsah und die strahlende Sonne am wolkenlosen Himmel und die schaumgekrönten Wellen betrachtete. Obwohl sie erst vor einer Stunde in Maui angekommen war, fand sie bereits, dass es hier viel schöner war als in der Karibik, wo die Familie in den letzten Jahren die Weihnachtsferien mit dem Großvater verbracht hatte. Allerdings war der Begriff »Familie« ein wenig übertrieben, denn diese bestand seit vier Jahren nur noch aus Großvater und Nell selbst. Damals hatte man Cornelius MacDermott, den allseits bekannten New Yorker Kongressabgeordneten, mitten aus einer Sitzung des Repräsentantenhauses geholt, um ihm eine schreckliche Mitteilung zu machen: Sein Sohn und seine Schwiegertochter, beide Anthropologen, die sich gerade auf einer Forschungsreise im brasilianischen Dschungel aufhielten, waren beim Absturz ihrer kleinen Chartermaschine ums Leben gekommen. Mr. MacDermott war sofort auf schnellstem Wege nach New York geflogen, um Nell von der Schule abzuholen, denn er wollte, dass sie die Hiobsbotschaft von ihm erfuhr.
... mehr
Bei seiner Ankunft traf er seine Enkelin weinend im Zimmer der Schulkrankenschwester an. »Heute Morgen nach der Pause hatte ich plötzlich das Gefühl, Mama und Papa wären bei mir, um sich von mir zu verabschieden«, sagte sie, während er sie in den Armen hielt. »Sehen konnte ich sie zwar nicht, aber ich spürte, wie Mama mich küsste und wie Papa mir übers Haar strich.« Noch am selben Tag übersiedelten Nell und die Haushälterin, die sich um sie kümmerte, wenn ihre Eltern auf Reisen waren, in das Backsteinhaus in der 79. Straße an der Ostseite von Manhattan, wo schon ihr Großvater und ihr Vater aufgewachsen waren. Kurz kamen Nell diese Erinnerungen in den Sinn, als sie in Richtung Strand schwamm. Ihr Großvater saß dort in einem Liegestuhl unter einem Sonnenschirm. Nur widerwillig hatte er ihr erlaubt, vor dem Auspacken noch kurz ins Wasser zu gehen. »Aber schwimm nicht zu weit raus«, hatte er sie ermahnt und sein Buch aufgeschlagen. »Es ist schon sechs Uhr, und der Bademeister macht gleich Feierabend.« Gerne wäre Nell noch länger im Wasser geblieben, doch sie bemerkte, dass der Strand inzwischen fast menschenleer war. Außerdem würde ihr Großvater sicher bald Hunger bekommen und ungeduldig werden, und sie hatten noch nicht einmal ihre Koffer ausgepackt. Vor vielen Jahren hatte ihre Mutter sie gewarnt, dass man am besten einen großen Bogen um Cornelius MacDermott machte, wenn ihm der Magen knurrte oder wenn er ein Nickerchen brauchte. Selbst aus dieser Entfernung erkannte Nell, dass er noch in sein Buch vertieft war. Allerdings wusste sie, dass dieser Zustand nicht von Dauer sein würde. Also gut, sagte sie sich und schwamm ein wenig schneller, dann legen wir eben ein bisschen Tempo vor. Plötzlich jedoch hatte sie das Gefühl, die Orientierung zu verlieren. Es war, als zöge sie etwas gewaltsam in die entgegengesetzte Richtung. Was mochte das sein? Der Strand verschwand aus ihrem Blickfeld, als sie hinund hergerissen und unter Wasser gezerrt wurde. Erschrocken öffnete sie den Mund, um zu schreien, und schluckte dabei eine ordentliche Portion Salzwasser. Hustend und keuchend rang sie nach Atem und versuchte, sich über Wasser zu halten. Eine Springtide! Während ihr Großvater sich an der Rezeption anmeldete, hatte sie gehört, wie zwei Hotelpagen sich darüber unterhielten. Einer von ihnen hatte von einer Springtide auf der anderen Seite der Insel erzählt, bei der vergangene Woche zwei Männer ertrunken waren. Seinen Worten zufolge waren sie gestorben, weil sie gegen den Sog angekämpft hatten, anstatt sich einfach aus der Gefahrenzone treiben zu lassen. Eine Springtide entsteht durch das Zusammentreffen zweier entgegengesetzter Strömungen. Während Nell mit den Armen ruderte, fiel ihr diese Definition ein, die sie im National Geographic gelesen hatte. Trotzdem konnte sie sich nicht entspannen, da die heftigen Wellen sie unbarmherzig nach unten und fort vom Ufer zogen. Ich darf nicht aufs offene Meer abgetrieben werden, dachte sie in Todesangst. Das darf nicht passieren! Dann schaffe ich es nie wieder zurück. Kurz gelang es ihr, einen Blick auf den Strand und den bunt gestreiften Sonnenschirm zu erhaschen. »Hilfe!«, stöhnte sie leise. Schreien war unmöglich, denn sobald sie den Mund öffnete, raubte ihr ein Schwall Salzwasser den Atem. Und die Strömung, die sie immer weiter hinauszog, war so stark, dass sie sich nicht dagegen wehren konnte. In ihrer Verzweiflung drehte sie sich auf den Rücken und ließ die Arme schlaff herabhängen. Doch schon kurz darauf begann sie wieder, sich gegen den schrecklichen Sog zu wehren, der ihren Körper immer weiter fort von der Küste trug, wo niemand ihr würde helfen können. Ich will nicht sterben, sagte sie sich. Ich will nicht sterben. Eine Welle hob sie empor und spülte sie weiter hinaus. »Hilfe!«, wimmerte sie wieder und brach dann in Tränen aus. Und dann, so plötzlich, wie es angefangen hatte, war es auch wieder vorbei. Von einem Moment auf den anderen gaben die unsichtbaren Ketten sie frei, und sie musste die Arme bewegen, um nicht unterzugehen. Offenbar war es das, was die Hotelpagen gemeint hatten, dachte sie. Sie war über die Springtide hinausgetrieben worden. Du darfst nicht wieder hineingeraten, nahm sie sich vor. Schwimm darum herum. Aber sie war so entsetzlich müde. Das Ufer war zu weit entfernt. Nell blickte zur Küste hinüber. Niemals würde sie dort ankommen. Die Augen fielen ihr zu. Das Wasser fühlte sich so warm an wie eine Decke. Sie wurde schläfrig. Schwimm, Nell, du schaffst es! Das war die Stimme ihrer Mutter, die sie anflehte, nicht aufzugeben. Los, Nell! Der strenge Befehl ihres Vaters rüttelte sie auf und riss sie aus ihrer Teilnahmslosigkeit. Gehorsam paddelte Nell noch ein Stückchen hinaus und umschwamm dann die Springtide in einem großen Bogen. Obwohl sie bei jedem Atemzug aufschluchzte und ihre Arme bleischwer waren, hielt sie durch. Quälende Minuten später ließ sie sich erschöpft von einer großen Woge in Richtung Ufer tragen. Die Welle schwoll an, brach in sich zusammen und spülte Nell an den harten, feuchten Strand. Zitternd und bebend rappelte sie sich auf. Sie spürte, wie kräftige Hände sie auf die Füße zogen. »Ich wollte dich gerade rufen«, sagte Cornelius MacDermott gereizt. »Für heute ist Schluss mit Schwimmen, junges Fräulein. Gerade wurde die rote Flagge gehisst. Offenbar gibt es hier in der Nähe Springtiden.« Nell, die keinen Ton herausbrachte, konnte nur noch nicken. Mit besorgter Miene zog MacDermott seinen Bademantel aus und legte ihn Nell um die Schultern. »Du bist ja ganz ausgekühlt, Nell. Du hättest nicht so lange im Wasser bleiben sollen.« »Danke, Opa, alles in Ordnung.« Nell beschloss, ihrem geliebten Großvater ihr Abenteuer zu verschweigen. Außerdem brauchte er nicht zu erfahren, dass sie wieder einmal mit ihren Eltern in Kontakt getreten war. Denn der ausgesprochen pragmatische MacDermott hätte das nur barsch als die Hirngespinste eines jungen Mädchens abgetan.
Siebzehn Jahre später Donnerstag, 8. Juni 1
Eilig machte sich Nell auf den Weg von ihrer Wohnung an der Ecke Park Avenue und 73. Straße zum Büro ihres Großvaters, Ecke 72. Straße und York Street. Da er sie so dringend zu sich beordert und auf ihr pünktliches Erscheinen um drei Uhr gepocht hatte, vermutete sie, dass sich die Krise um Bob Gorman zugespitzt hatte. Und deshalb freute sie sich nicht unbedingt auf die bevorstehende Sitzung. Da sie tief in Gedanken versunken war, bemerkte sie die bewundernden Blicke nicht, die einige Passanten ihr zuwarfen. Schließlich waren sie und Adam glücklich verheiratet. Allerdings wusste Nell, dass viele Menschen sie attraktiv fanden. Sie war hoch gewachsen, schlank und hatte eine sportliche Figur. Ihr kurzes, kastanienbraunes Haar wellte sich in der feuchten Luft, ihre Augen waren dunkelblau, und sie hatte einen hübsch geschwungenen Mund. Als junges Mädchen hatte Nell ihren Großvater häufig auf Empfänge begleitet, doch zu ihrem Kummer hatten die Medien sie immer nur als »aparte Erscheinung« bezeichnet. »Apart das ist so, als würde mir ein Mann sagen, dass es ohnehin nur auf die inneren Werte ankommt. Es klingt so gönnerhaft. Nur einmal möchte ich, dass man mich >schön<, >elegant<, >hinreißend< oder einfach nur >chic< nennt«, hatte sie mit zwanzig geklagt. Und ihr Großvater hatte wie immer darauf erwidert: »Sei um Himmels willen nicht so albern. Du solltest dich freuen, dass du Verstand mitbekommen hast und weißt, wie man ihn einsetzt.« Leider wusste Nell genau, worüber ihr Großvater heute mit ihr sprechen wollte, denn er würde von ihr verlangen, dass sie besagten Verstand in seinem Sinne benutzte. Seine Pläne mit ihr und Adams Einwände dagegen würden garantiert auch ein Thema sein. Cornelius MacDermott war inzwischen zweiundachtzig Jahre alt, hatte aber kaum etwas von der Durchsetzungsfähigkeit eingebüßt, dank derer er nun schon seit vielen Jahrzehnten einer der beliebtesten Kongressabgeordneten der Vereinigten Staaten war. Mit dreißig war er zum Vertreter seines Wahlkreises in Manhattan gewählt worden, in dem er auch seine Kindheit verbracht hatte. Fünfzig Jahre lang hatte er diesen Posten innegehabt und jeder Versuchung widerstanden, sich für den Senat zu bewerben. An seinem achtzigsten Geburtstag hatte er jedoch beschlossen, nicht mehr zu kandidieren. »Ich habe nicht vor, Strom Thurmonds Rekord zu brechen und der Abgeordnete mit der längsten Amtszeit Washingtons zu werden«, verkündete er. Doch anstatt sich aus dem Berufsleben zurückzuziehen, hatte MacDermott ein Beraterbüro eröffnet, um dafür zu sorgen, dass der Staat und die Stadt New York auch weiterhin auf dem Kurs seiner Partei blieben. Wenn er einen neuen Kandidaten empfahl, kam das für den Betreffenden einem Ritterschlag gleich. Vor einigen Jahren hatte er den berühmtesten Wahlwerbespot seiner Partei entwickelt. Nach der Frage »Was haben die anderen schon groß für euch getan?« wurden schweigende Menschen mit verdatterten Mienen eingeblendet. MacDermott wurde überall auf der Straße erkannt und freundlich und respektvoll begrüßt. »Ich kann nicht mal den Fuß vor die Tür setzen, ohne in eine Kamera grinsen zu müssen«, pflegte er sich bei Nell über die Folgen seines Prominentenstatus zu beschweren. »Wenn die Leute dich übersehen würden, würdest du eingehen wie eine Primel, das weißt du ganz genau«, lautete Nells Standardantwort. Als Nell in der Firma ihres Großvaters ankam, winkte sie der Empfangsdame zu und marschierte schnurstracks in sein Privatbüro. »Welche Laune hat er denn heute?«, erkundigte sie sich bei Liz Hanley, MacDermotts langjähriger Sekretärin. Liz, eine attraktive Sechzigjährige mit dunkelbraunem Haar, war der Inbegriff der Tüchtigkeit. Sie verdrehte die Augen. »Es war eine dunkle und stürmische Nacht«, erwiderte sie. »Ach du meine Güte, so schlimm?«, seufzte Nell. Sie klopfte an die Bürotür und trat ein. »Einen schönen Tag, Herr Kongressabgeordneter.« »Du kommst zu spät, Nell«, polterte Cornelius MacDermott und drehte sich in seinem Bürostuhl zu ihr um. »Nach meiner Uhr nicht. Es ist Punkt drei.« »Ich habe gesagt, du sollst gegen drei hier sein.« »Ich musste noch eine Kolumne abgeben, und mein Redakteur ist leider genau so ein Pünktlichkeitsfanatiker wie du. Wo bleibt denn das Siegerlächeln, mit dem du sonst die Herzen deiner Wähler eroberst?« »Das fällt heute flach. Setz dich, Nell.« MacDermott wies auf das Sofa neben dem Eckfenster, durch das man den östlichen und nördlichen Teil der Stadt erkennen konnte. Dieses Büro hatte er sich wegen der Aussicht auf seinen langjährigen Wahlkreis ausgesucht. Nell nannte ihn sein Lehnsgut.
Also ließ sie sich auf dem Sofa nieder und sah ihren Großvater erwartungsvoll an. Seine blauen Augen waren ungewöhnlich müde, und auch das aufmerksame Funkeln in seinem Blick suchte man heute vergebens. Obwohl er dank seiner aufrechten Haltung für gewöhnlich selbst im Sitzen größer wirkte, als er eigentlich war, machte es nun den Eindruck, als wäre er geschrumpft. Selbst sein berühmter weißer Haarschopf schien schütter geworden zu sein. Nell bemerkte, dass er die Hände ineinander krampfte und immer wieder die Achseln zuckte, als wolle er sich von einer unsichtbaren Last befreien. Bestürzt stellte sie fest, dass man ihrem Großvater zum ersten Mal, seit sie denken konnte, sein wahres Alter ansah. Lange starrte er in die Ferne, dann stand er auf und setzte sich in einen bequemen Sessel neben dem Sofa. »Nell, wir stecken in einer Krise, und du musst uns helfen. Dieser Mistkerl, Bob Gorman, ist für eine zweite Amtszeit nominiert und will jetzt plötzlich nicht mehr kandidieren. Man hat ihm einen lukrativen Job als Geschäftsführer in einer dieser neuen Internetfirmen angeboten. Er ist zwar bereit, noch bis zur Wahl im Amt zu bleiben, aber angeblich kann er von seinen Abgeordnetendiäten nicht leben. Natürlich habe ich ihn darauf hingewiesen, dass er vor zwei Jahren, als ich ihm die Nominierung verschaffte, von nichts anderem gesprochen hat als von seiner Verpflichtung gegenüber der Bevölkerung.« Nell wartete ab. Sie wusste, dass ihrem Großvater in der vergangenen Woche Gerüchte zu Ohren gekommen waren, Gorman wolle nicht mehr für eine zweite Amtsperiode kandidieren. Offenbar hatten sich diese inzwischen bestätigt. »Nell, es gibt da einen Menschen und meiner Ansicht nach nur einen einzigen , der ihn ersetzen und dafür sorgen könnte, dass unsere Partei diesen Sitz behält.« MacDermott runzelte die Stirn. »Du hättest es schon vor zwei Jahren tun sollen, als ich mich aus der Politik zurückzog, das weißt du ganz genau.« Er hielt inne. »Es liegt dir doch im Blut. Anfangs warst du ja auch Feuer und Flamme, aber Adam hat es dir ausgeredet. Das darf nicht wieder vorkommen.« »Mac, bitte hack nicht ständig auf Adam herum.« »Ich hacke auf niemandem herum, Nell, ich sage dir nur, dass ich dich kenne. Du bist die geborene Politikerin. Seit deiner Jugend habe ich dich als meine Nachfolgerin herangezogen. Zugegeben, ich war über deine Ehe mit Adam Cauliff alles andere als erfreut. Doch vergiss nicht, dass ich ihm den Start in New York erst ermöglicht habe, indem ich ihn an Walters und Arsdale weiterempfahl, ausgezeichnete Architekten und außerdem meine besten Parteifreunde.« Mac presste die Lippen zusammen. »Ich stand ganz schön dumm da, als Adam nach weniger als drei Jahren den Bettel hingeworfen, ihnen ihre Chefsekretärin abgeworben und sein eigenes Büro eröffnet hat. Meinetwegen, in der Geschäftswelt mag so etwas üblich sein. Allerdings kannte Adam meine Pläne für dich und deine Karriereabsichten von Anfang an. Warum hat er seine Meinung geändert? Du solltest für meinen Sitz kandidieren, als ich in den Ruhestand ging, und das wusste er. Schon damals hatte er kein Recht, es dir madig zu machen, und dasselbe gilt auch heute noch.« »Mac, ich bin gerne Journalistin. Auch wenn es dir noch nicht aufgefallen sein sollte, bekomme ich ziemlich großes Feedback.« »Ich gebe zu, dass du verdammt gute politische Kolumnen schreibst. Aber du weißt selbst, dass der Job nicht genug für dich ist.« »Hör zu, mein Zögern hat nicht nur damit zu tun, dass Adam mich gebeten hat, auf eine Kandidatur zu verzichten.« »Nein? Womit dann?« »Wir beide wünschen uns Kinder, das weißt du doch. Deshalb hat er mir vorgeschlagen, mit einer politischen Karriere noch zu warten. In zehn Jahren bin ich erst zweiundvierzig. Das ist doch ein gutes Alter, um in die Politik einzusteigen.« Verärgert stand ihr Großvater auf. »Nell, in zehn Jahren ist der Zug für dich abgefahren. Die Welt verändert sich zu schnell, als dass man sich so viel Zeit lassen könnte. Gib es zu, du brennst doch geradezu darauf, deinen Hut in den Ring zu werfen. Erinnerst du dich noch, was du zu mir gesagt hast, als du meintest, du würdest mich von nun an Mac nennen?« Nell beugte sich vor, verschränkte die Hände ineinander und stützte das Kinn darauf. Sie wusste es noch ganz genau. Damals war sie im ersten Semester in Georgetown gewesen, und sie hatte sich gegen seinen anfänglichen Widerstand durchgesetzt. »Du hast mich immer als deine beste Freundin bezeichnet, und alle deine Freunde nennen dich Mac«, hatte sie verkündet. »Wenn ich dich weiter mit Opa anspreche, bleibe ich für immer ein Kind. Aber in der Öffentlichkeit möchte ich deine Assistentin sein.« »Was soll das heißen?«, hatte er erwidert. Nell erinnerte sich, wie sie das Wörterbuch hochgehalten hatte. »Hör dir die Definition an. Ein Assistent ist ein untergeordneter, vertrauter Helfer. Und das bin ich doch zurzeit für dich.« »Zurzeit?« »Bis du in den Ruhestand gehst und ich für deinen Sitz kandidiere.« »Erinnerst du dich, Nell?«, riss Cornelius MacDermotts Stimme sie aus ihren Gedanken. »Damals warst du eine aufmüpfige Studentin, aber du hast es ernst gemeint.« »Ich weiß«, entgegnete sie. Er baute sich vor ihr auf, beugte sich vor und hielt sein Gesicht ganz nah an ihres. »Nutze die Gelegenheit, Nell. Sonst wirst du es einmal bereuen. Wenn Gorman bestätigt, dass er nicht kandidiert, werden sich alle um die Nominierung reißen. Ich will, dass der Parteivorstand dich von Anfang an ganz oben auf die Liste setzt.« »Und wann soll es losgehen?«, fragte sie zögernd. »Beim Jahresempfang am dreißigsten. Du und Adam seid eingeladen. Gorman wird ankündigen, dass er sich nach dem Ende seiner Amtszeit zurückzieht. Er wird ein paar Tränen vergießen und schluchzen, wie schwer ihm die Entscheidung gefallen sei. Doch eines habe ihm den Schritt erleichtert. Dann wird er sich die Augen abtupfen, sich die Nase putzen, auf dich zeigen und ausrufen, dass du, Cornelia MacDermott Cauliff, dich um den Sitz bewirbst, den dein Großvater fünfzig Jahre lang innegehabt hat. Cornelia tritt in die Fußstapfen von Cornelius. Der Anfang eines dritten Jahrtausends.« Offenbar zufrieden mit sich und dieser Zukunftsvision, lächelte er. »Nell, alle werden begeistert sein.« Reumütig erinnerte sich Nell an ihre quälende Ungeduld vor zwei Jahren, als Bob Gorman für Macs Sitz kandidiert hatte. Alles in ihr hatte gedrängt, seinen Platz einzunehmen. Mac hatte Recht. Sie war die geborene Politikerin. Wenn sie jetzt nicht in den Ring stieg, würde es zu spät sein zumindest für eine Kandidatur für diesen Sitz, mit dem sie eigentlich ihre politische Karriere beginnen wollte. »Was stört Adam denn daran, Nell? Früher hat er sich doch auch nicht in deine Angelegenheiten eingemischt.« »Stimmt.« »Habt ihr Probleme miteinander?« »Nein.« Sie bemühte sich, diese Andeutung mit einem beiläufigen Lächeln als absurd abzutun. Seit wann ging das jetzt schon so?, fragte sie sich. Wie lange war Adam schon geistesabwesend und zog sich von ihr zurück? Anfangs war er ihren besorgten Fragen mit einem Scherz ausgewichen.
In letzter Zeit jedoch reagierte er zunehmend gereizt. Erst vor kurzem hatte sie ihm geradeheraus gesagt, sie wolle es wissen, falls mit ihrer Ehe irgendetwas im Argen lag. »Egal, was es ist, du musst es mir erzählen, Adam. Die Ungewissheit ist das Allerschlimmste.« »Wo ist Adam überhaupt?«, erkundigte sich ihr Großvater jetzt. »In Philadelphia.« »Seit wann?« »Seit gestern. Er hält einen Vortrag bei einer Tagung für Architekten und Innenarchitekten. Morgen kommt er zurück.« »Ich erwarte, dass er am dreißigsten mit dir bei dem Empfang erscheint und dir zu deiner Entscheidung gratuliert. In Ordnung?« »Ich bezweifle, dass er mir dafür Beifall klatschen wird«, sagte sie ein wenig niedergeschlagen. »Bei eurer Hochzeit war er ganz begeistert davon, Ehemann einer zukünfigten Politikerin zu werden. Weshalb hat er es sich anders überlegt?« Du bist der Grund, dachte Nell. Adam ist eifersüchtig, weil du so viel von meiner Zeit in Anspruch genommen hast. Am Anfang ihrer Ehe war Adam froh gewesen, dass sie auch weiterhin als Macs Assistentin arbeitete. Doch als ihr Großvater in den Ruhestand ging, hatte sich das schlagartig geändert. »Nell, jetzt können wir endlich ein Leben führen, in dem sich nicht alles um den allmächtigen Cornelius MacDermott dreht«, hatte Adam gemeint. »Ich habe es satt, dass du ständig nach seiner Pfeife tanzt. Glaubst du, das wird besser, wenn du für seinen früheren Sitz kandidierst? Dann will ich dir mal etwas sagen: Er wird dir keine Chance zum Atmen lassen und dich weiter herumkommandieren.« Der erhoffte Nachwuchs blieb aus, aber Adam redete immer weiter von Kindern. »Du hast bis jetzt nur für die Politik gelebt«, flehte er. »Gönn dir ein wenig Ruhe, Nell. Das Journal möchte, dass du eine regelmäßige Kolumne schreibst. Vielleicht tut dir die Freiheit gut.« Sein Bitten hatte sie in dem Entschluss bestärkt, auf eine Kandidatur zu verzichten. Doch als Nell nun die Argumente ihres Großvaters überdachte und sich überlegte, wie er sie auf die ihm eigene Weise gelenkt und ermutigt hatte, musste sie sich ehrlicherweise eingestehen: Es genügte ihr nicht, die Politik von außen zu kommentieren. Sie wollte dabei sein. »Mac, ich werde meine Karten offen auf den Tisch legen«, sagte sie schließlich. »Adam ist mein Mann, und ich liebe ihn. Du hingegen kannst ihn nicht einmal leiden.« »Das stimmt nicht.« »Dann lass es mich anders ausdrücken. Seit Adam seine eigene Firma aufgemacht hat, suchst du ständig ein Haar in der Suppe. Falls ich für diesen Posten kandidiere, wird es wieder sein wie früher. Du und ich werden den Großteil des Tages zusammen verbringen. Damit das klappt, musst du mir versprechen, dass du Adam genauso behandeln wirst, wie du es im umgekehrten Fall von ihm erwarten würdest.« »Kandidierst du, wenn ich schwöre, ihn liebevoll an meine Brust zu drücken?« Als Nell eine Stunde später Cornelius MacDermotts Büro verließ, hatte sie ihm die Zusage gegeben, sich um Bob Gormans Sitz im Kongress zu bewerben.
Copyright © 2000 by Mary Higgins Clark
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2000 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House
Übersetzung: «Karin Dufner»
Siebzehn Jahre später Donnerstag, 8. Juni 1
Eilig machte sich Nell auf den Weg von ihrer Wohnung an der Ecke Park Avenue und 73. Straße zum Büro ihres Großvaters, Ecke 72. Straße und York Street. Da er sie so dringend zu sich beordert und auf ihr pünktliches Erscheinen um drei Uhr gepocht hatte, vermutete sie, dass sich die Krise um Bob Gorman zugespitzt hatte. Und deshalb freute sie sich nicht unbedingt auf die bevorstehende Sitzung. Da sie tief in Gedanken versunken war, bemerkte sie die bewundernden Blicke nicht, die einige Passanten ihr zuwarfen. Schließlich waren sie und Adam glücklich verheiratet. Allerdings wusste Nell, dass viele Menschen sie attraktiv fanden. Sie war hoch gewachsen, schlank und hatte eine sportliche Figur. Ihr kurzes, kastanienbraunes Haar wellte sich in der feuchten Luft, ihre Augen waren dunkelblau, und sie hatte einen hübsch geschwungenen Mund. Als junges Mädchen hatte Nell ihren Großvater häufig auf Empfänge begleitet, doch zu ihrem Kummer hatten die Medien sie immer nur als »aparte Erscheinung« bezeichnet. »Apart das ist so, als würde mir ein Mann sagen, dass es ohnehin nur auf die inneren Werte ankommt. Es klingt so gönnerhaft. Nur einmal möchte ich, dass man mich >schön<, >elegant<, >hinreißend< oder einfach nur >chic< nennt«, hatte sie mit zwanzig geklagt. Und ihr Großvater hatte wie immer darauf erwidert: »Sei um Himmels willen nicht so albern. Du solltest dich freuen, dass du Verstand mitbekommen hast und weißt, wie man ihn einsetzt.« Leider wusste Nell genau, worüber ihr Großvater heute mit ihr sprechen wollte, denn er würde von ihr verlangen, dass sie besagten Verstand in seinem Sinne benutzte. Seine Pläne mit ihr und Adams Einwände dagegen würden garantiert auch ein Thema sein. Cornelius MacDermott war inzwischen zweiundachtzig Jahre alt, hatte aber kaum etwas von der Durchsetzungsfähigkeit eingebüßt, dank derer er nun schon seit vielen Jahrzehnten einer der beliebtesten Kongressabgeordneten der Vereinigten Staaten war. Mit dreißig war er zum Vertreter seines Wahlkreises in Manhattan gewählt worden, in dem er auch seine Kindheit verbracht hatte. Fünfzig Jahre lang hatte er diesen Posten innegehabt und jeder Versuchung widerstanden, sich für den Senat zu bewerben. An seinem achtzigsten Geburtstag hatte er jedoch beschlossen, nicht mehr zu kandidieren. »Ich habe nicht vor, Strom Thurmonds Rekord zu brechen und der Abgeordnete mit der längsten Amtszeit Washingtons zu werden«, verkündete er. Doch anstatt sich aus dem Berufsleben zurückzuziehen, hatte MacDermott ein Beraterbüro eröffnet, um dafür zu sorgen, dass der Staat und die Stadt New York auch weiterhin auf dem Kurs seiner Partei blieben. Wenn er einen neuen Kandidaten empfahl, kam das für den Betreffenden einem Ritterschlag gleich. Vor einigen Jahren hatte er den berühmtesten Wahlwerbespot seiner Partei entwickelt. Nach der Frage »Was haben die anderen schon groß für euch getan?« wurden schweigende Menschen mit verdatterten Mienen eingeblendet. MacDermott wurde überall auf der Straße erkannt und freundlich und respektvoll begrüßt. »Ich kann nicht mal den Fuß vor die Tür setzen, ohne in eine Kamera grinsen zu müssen«, pflegte er sich bei Nell über die Folgen seines Prominentenstatus zu beschweren. »Wenn die Leute dich übersehen würden, würdest du eingehen wie eine Primel, das weißt du ganz genau«, lautete Nells Standardantwort. Als Nell in der Firma ihres Großvaters ankam, winkte sie der Empfangsdame zu und marschierte schnurstracks in sein Privatbüro. »Welche Laune hat er denn heute?«, erkundigte sie sich bei Liz Hanley, MacDermotts langjähriger Sekretärin. Liz, eine attraktive Sechzigjährige mit dunkelbraunem Haar, war der Inbegriff der Tüchtigkeit. Sie verdrehte die Augen. »Es war eine dunkle und stürmische Nacht«, erwiderte sie. »Ach du meine Güte, so schlimm?«, seufzte Nell. Sie klopfte an die Bürotür und trat ein. »Einen schönen Tag, Herr Kongressabgeordneter.« »Du kommst zu spät, Nell«, polterte Cornelius MacDermott und drehte sich in seinem Bürostuhl zu ihr um. »Nach meiner Uhr nicht. Es ist Punkt drei.« »Ich habe gesagt, du sollst gegen drei hier sein.« »Ich musste noch eine Kolumne abgeben, und mein Redakteur ist leider genau so ein Pünktlichkeitsfanatiker wie du. Wo bleibt denn das Siegerlächeln, mit dem du sonst die Herzen deiner Wähler eroberst?« »Das fällt heute flach. Setz dich, Nell.« MacDermott wies auf das Sofa neben dem Eckfenster, durch das man den östlichen und nördlichen Teil der Stadt erkennen konnte. Dieses Büro hatte er sich wegen der Aussicht auf seinen langjährigen Wahlkreis ausgesucht. Nell nannte ihn sein Lehnsgut.
Also ließ sie sich auf dem Sofa nieder und sah ihren Großvater erwartungsvoll an. Seine blauen Augen waren ungewöhnlich müde, und auch das aufmerksame Funkeln in seinem Blick suchte man heute vergebens. Obwohl er dank seiner aufrechten Haltung für gewöhnlich selbst im Sitzen größer wirkte, als er eigentlich war, machte es nun den Eindruck, als wäre er geschrumpft. Selbst sein berühmter weißer Haarschopf schien schütter geworden zu sein. Nell bemerkte, dass er die Hände ineinander krampfte und immer wieder die Achseln zuckte, als wolle er sich von einer unsichtbaren Last befreien. Bestürzt stellte sie fest, dass man ihrem Großvater zum ersten Mal, seit sie denken konnte, sein wahres Alter ansah. Lange starrte er in die Ferne, dann stand er auf und setzte sich in einen bequemen Sessel neben dem Sofa. »Nell, wir stecken in einer Krise, und du musst uns helfen. Dieser Mistkerl, Bob Gorman, ist für eine zweite Amtszeit nominiert und will jetzt plötzlich nicht mehr kandidieren. Man hat ihm einen lukrativen Job als Geschäftsführer in einer dieser neuen Internetfirmen angeboten. Er ist zwar bereit, noch bis zur Wahl im Amt zu bleiben, aber angeblich kann er von seinen Abgeordnetendiäten nicht leben. Natürlich habe ich ihn darauf hingewiesen, dass er vor zwei Jahren, als ich ihm die Nominierung verschaffte, von nichts anderem gesprochen hat als von seiner Verpflichtung gegenüber der Bevölkerung.« Nell wartete ab. Sie wusste, dass ihrem Großvater in der vergangenen Woche Gerüchte zu Ohren gekommen waren, Gorman wolle nicht mehr für eine zweite Amtsperiode kandidieren. Offenbar hatten sich diese inzwischen bestätigt. »Nell, es gibt da einen Menschen und meiner Ansicht nach nur einen einzigen , der ihn ersetzen und dafür sorgen könnte, dass unsere Partei diesen Sitz behält.« MacDermott runzelte die Stirn. »Du hättest es schon vor zwei Jahren tun sollen, als ich mich aus der Politik zurückzog, das weißt du ganz genau.« Er hielt inne. »Es liegt dir doch im Blut. Anfangs warst du ja auch Feuer und Flamme, aber Adam hat es dir ausgeredet. Das darf nicht wieder vorkommen.« »Mac, bitte hack nicht ständig auf Adam herum.« »Ich hacke auf niemandem herum, Nell, ich sage dir nur, dass ich dich kenne. Du bist die geborene Politikerin. Seit deiner Jugend habe ich dich als meine Nachfolgerin herangezogen. Zugegeben, ich war über deine Ehe mit Adam Cauliff alles andere als erfreut. Doch vergiss nicht, dass ich ihm den Start in New York erst ermöglicht habe, indem ich ihn an Walters und Arsdale weiterempfahl, ausgezeichnete Architekten und außerdem meine besten Parteifreunde.« Mac presste die Lippen zusammen. »Ich stand ganz schön dumm da, als Adam nach weniger als drei Jahren den Bettel hingeworfen, ihnen ihre Chefsekretärin abgeworben und sein eigenes Büro eröffnet hat. Meinetwegen, in der Geschäftswelt mag so etwas üblich sein. Allerdings kannte Adam meine Pläne für dich und deine Karriereabsichten von Anfang an. Warum hat er seine Meinung geändert? Du solltest für meinen Sitz kandidieren, als ich in den Ruhestand ging, und das wusste er. Schon damals hatte er kein Recht, es dir madig zu machen, und dasselbe gilt auch heute noch.« »Mac, ich bin gerne Journalistin. Auch wenn es dir noch nicht aufgefallen sein sollte, bekomme ich ziemlich großes Feedback.« »Ich gebe zu, dass du verdammt gute politische Kolumnen schreibst. Aber du weißt selbst, dass der Job nicht genug für dich ist.« »Hör zu, mein Zögern hat nicht nur damit zu tun, dass Adam mich gebeten hat, auf eine Kandidatur zu verzichten.« »Nein? Womit dann?« »Wir beide wünschen uns Kinder, das weißt du doch. Deshalb hat er mir vorgeschlagen, mit einer politischen Karriere noch zu warten. In zehn Jahren bin ich erst zweiundvierzig. Das ist doch ein gutes Alter, um in die Politik einzusteigen.« Verärgert stand ihr Großvater auf. »Nell, in zehn Jahren ist der Zug für dich abgefahren. Die Welt verändert sich zu schnell, als dass man sich so viel Zeit lassen könnte. Gib es zu, du brennst doch geradezu darauf, deinen Hut in den Ring zu werfen. Erinnerst du dich noch, was du zu mir gesagt hast, als du meintest, du würdest mich von nun an Mac nennen?« Nell beugte sich vor, verschränkte die Hände ineinander und stützte das Kinn darauf. Sie wusste es noch ganz genau. Damals war sie im ersten Semester in Georgetown gewesen, und sie hatte sich gegen seinen anfänglichen Widerstand durchgesetzt. »Du hast mich immer als deine beste Freundin bezeichnet, und alle deine Freunde nennen dich Mac«, hatte sie verkündet. »Wenn ich dich weiter mit Opa anspreche, bleibe ich für immer ein Kind. Aber in der Öffentlichkeit möchte ich deine Assistentin sein.« »Was soll das heißen?«, hatte er erwidert. Nell erinnerte sich, wie sie das Wörterbuch hochgehalten hatte. »Hör dir die Definition an. Ein Assistent ist ein untergeordneter, vertrauter Helfer. Und das bin ich doch zurzeit für dich.« »Zurzeit?« »Bis du in den Ruhestand gehst und ich für deinen Sitz kandidiere.« »Erinnerst du dich, Nell?«, riss Cornelius MacDermotts Stimme sie aus ihren Gedanken. »Damals warst du eine aufmüpfige Studentin, aber du hast es ernst gemeint.« »Ich weiß«, entgegnete sie. Er baute sich vor ihr auf, beugte sich vor und hielt sein Gesicht ganz nah an ihres. »Nutze die Gelegenheit, Nell. Sonst wirst du es einmal bereuen. Wenn Gorman bestätigt, dass er nicht kandidiert, werden sich alle um die Nominierung reißen. Ich will, dass der Parteivorstand dich von Anfang an ganz oben auf die Liste setzt.« »Und wann soll es losgehen?«, fragte sie zögernd. »Beim Jahresempfang am dreißigsten. Du und Adam seid eingeladen. Gorman wird ankündigen, dass er sich nach dem Ende seiner Amtszeit zurückzieht. Er wird ein paar Tränen vergießen und schluchzen, wie schwer ihm die Entscheidung gefallen sei. Doch eines habe ihm den Schritt erleichtert. Dann wird er sich die Augen abtupfen, sich die Nase putzen, auf dich zeigen und ausrufen, dass du, Cornelia MacDermott Cauliff, dich um den Sitz bewirbst, den dein Großvater fünfzig Jahre lang innegehabt hat. Cornelia tritt in die Fußstapfen von Cornelius. Der Anfang eines dritten Jahrtausends.« Offenbar zufrieden mit sich und dieser Zukunftsvision, lächelte er. »Nell, alle werden begeistert sein.« Reumütig erinnerte sich Nell an ihre quälende Ungeduld vor zwei Jahren, als Bob Gorman für Macs Sitz kandidiert hatte. Alles in ihr hatte gedrängt, seinen Platz einzunehmen. Mac hatte Recht. Sie war die geborene Politikerin. Wenn sie jetzt nicht in den Ring stieg, würde es zu spät sein zumindest für eine Kandidatur für diesen Sitz, mit dem sie eigentlich ihre politische Karriere beginnen wollte. »Was stört Adam denn daran, Nell? Früher hat er sich doch auch nicht in deine Angelegenheiten eingemischt.« »Stimmt.« »Habt ihr Probleme miteinander?« »Nein.« Sie bemühte sich, diese Andeutung mit einem beiläufigen Lächeln als absurd abzutun. Seit wann ging das jetzt schon so?, fragte sie sich. Wie lange war Adam schon geistesabwesend und zog sich von ihr zurück? Anfangs war er ihren besorgten Fragen mit einem Scherz ausgewichen.
In letzter Zeit jedoch reagierte er zunehmend gereizt. Erst vor kurzem hatte sie ihm geradeheraus gesagt, sie wolle es wissen, falls mit ihrer Ehe irgendetwas im Argen lag. »Egal, was es ist, du musst es mir erzählen, Adam. Die Ungewissheit ist das Allerschlimmste.« »Wo ist Adam überhaupt?«, erkundigte sich ihr Großvater jetzt. »In Philadelphia.« »Seit wann?« »Seit gestern. Er hält einen Vortrag bei einer Tagung für Architekten und Innenarchitekten. Morgen kommt er zurück.« »Ich erwarte, dass er am dreißigsten mit dir bei dem Empfang erscheint und dir zu deiner Entscheidung gratuliert. In Ordnung?« »Ich bezweifle, dass er mir dafür Beifall klatschen wird«, sagte sie ein wenig niedergeschlagen. »Bei eurer Hochzeit war er ganz begeistert davon, Ehemann einer zukünfigten Politikerin zu werden. Weshalb hat er es sich anders überlegt?« Du bist der Grund, dachte Nell. Adam ist eifersüchtig, weil du so viel von meiner Zeit in Anspruch genommen hast. Am Anfang ihrer Ehe war Adam froh gewesen, dass sie auch weiterhin als Macs Assistentin arbeitete. Doch als ihr Großvater in den Ruhestand ging, hatte sich das schlagartig geändert. »Nell, jetzt können wir endlich ein Leben führen, in dem sich nicht alles um den allmächtigen Cornelius MacDermott dreht«, hatte Adam gemeint. »Ich habe es satt, dass du ständig nach seiner Pfeife tanzt. Glaubst du, das wird besser, wenn du für seinen früheren Sitz kandidierst? Dann will ich dir mal etwas sagen: Er wird dir keine Chance zum Atmen lassen und dich weiter herumkommandieren.« Der erhoffte Nachwuchs blieb aus, aber Adam redete immer weiter von Kindern. »Du hast bis jetzt nur für die Politik gelebt«, flehte er. »Gönn dir ein wenig Ruhe, Nell. Das Journal möchte, dass du eine regelmäßige Kolumne schreibst. Vielleicht tut dir die Freiheit gut.« Sein Bitten hatte sie in dem Entschluss bestärkt, auf eine Kandidatur zu verzichten. Doch als Nell nun die Argumente ihres Großvaters überdachte und sich überlegte, wie er sie auf die ihm eigene Weise gelenkt und ermutigt hatte, musste sie sich ehrlicherweise eingestehen: Es genügte ihr nicht, die Politik von außen zu kommentieren. Sie wollte dabei sein. »Mac, ich werde meine Karten offen auf den Tisch legen«, sagte sie schließlich. »Adam ist mein Mann, und ich liebe ihn. Du hingegen kannst ihn nicht einmal leiden.« »Das stimmt nicht.« »Dann lass es mich anders ausdrücken. Seit Adam seine eigene Firma aufgemacht hat, suchst du ständig ein Haar in der Suppe. Falls ich für diesen Posten kandidiere, wird es wieder sein wie früher. Du und ich werden den Großteil des Tages zusammen verbringen. Damit das klappt, musst du mir versprechen, dass du Adam genauso behandeln wirst, wie du es im umgekehrten Fall von ihm erwarten würdest.« »Kandidierst du, wenn ich schwöre, ihn liebevoll an meine Brust zu drücken?« Als Nell eine Stunde später Cornelius MacDermotts Büro verließ, hatte sie ihm die Zusage gegeben, sich um Bob Gormans Sitz im Kongress zu bewerben.
Copyright © 2000 by Mary Higgins Clark
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2000 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House
Übersetzung: «Karin Dufner»
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Bibliographische Angaben
- Autor: Mary Higgins Clark
- 2002, 383 Seiten, Maße: 12 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Karin Dufner
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453196015
- ISBN-13: 9783453196018
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