Verloren, mein Vater

"5.Kapitel
Im September des Jahres 1949 klopfte ein Mann an die Wohnungstür meiner Großmutter und ihrer Kinder. Meine Mutter war neun Jahre alt, ihr Bruder elf, und sie wohnten in Berlin. Das alte Haus in der Kleestraße war im letzten Kriegsjahr zerbombt worden, man errichtete dort ein Krankenhaus. Als meine Großmutter und ihre Kinder nach Berlin zurückkamen, zogen sie in die Wohnung ihrer Eltern, Pfeigweg, im Berliner Südwesten. Ihr Vater, mein Urgroßvater, war Maler gewesen, auch Kunsterzieher, seine Frau war tagsüber zu Hause. Im Frühling 1943 hatten sie die Bilder im Wohnzimmer abgenommen, auch die im Schlafzimmer, sie steckten sie in große Brotsäcke und versteckten sie auf dem Dachboden. Dann erhängten sie sich, nebeneinander. In die Wohnung des Malers und seiner Frau zog meine Großmutter mit ihrer kleinen Familie. Ihr Mann war verschleppt worden, nach Rußland wohl, und der Mann, der im September 1949 vor der Tür im Pfeigweg stand, behauptete, sein Freund gewesen zu sein, s ein Bettnachbar im Lazarett der Kriegsgefangenen, irgendwo in Estland. Ich versuche mir den Tag vorzustellen, es muß ein sonniger Herbsttag gewesen sein, im späten September. Das Thermometer war noch einmal geklettert, schon die Nacht war mild gewesen. Es wurde gehämmert und gegraben damals, den ganzen Tag und die halbe Nacht, Berlin war eine Baustelle. Meine Mutter, ein Mädchen mit langen noch blonden Zöpfen, zu Affenschaukeln zusammengebunden, öffnete die Tür, es war früher Nachmittag, ihre Mutter war unterwegs, sie brachte wohl die in Heimarbeit ausgeschnittenen, sortierten und aufgeklebten Zeitungsartikel ins Wirtschaftsarchiv. Ein Mann stand vor der Tür, er trug Stiefel, einen Bart und eine Schirmmütze. Er sagte seinen Namen, Kempf, und würde am Abend wiederkommen, hoffte, dann die Mutter anzutreffen. Er sagte noch, es ginge um ihren Mann."

Fridolin Schley wurde 1976 in München geboren. Er studiert an der dortigen Hochschule für Fernsehen und Film, sowie Germanistik, Politik und Geschichte an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität. Im Wintersemester 1999 und im Sommersemester 2000 nahm er am neugegründeten Studiengang für Creative Writing der LMU München teil. Er wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Bayerischen Staatsförderpreis.