Verratene Vermächtnisse
Neun Essays
Milan Kundera zeigt mit seiner Hommage an die abendländische Kultur, dass er auch ein großartiger Essayist ist. Mit tänzelnder Leichtigkeit schwingt er sich von Kafka zu Strawinsky, von Janácek zu Gombrowicz. Gegen den Verrat an den kostbaren...
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Produktinformationen zu „Verratene Vermächtnisse “
Klappentext zu „Verratene Vermächtnisse “
Milan Kundera zeigt mit seiner Hommage an die abendländische Kultur, dass er auch ein großartiger Essayist ist. Mit tänzelnder Leichtigkeit schwingt er sich von Kafka zu Strawinsky, von Janácek zu Gombrowicz. Gegen den Verrat an den kostbaren Vermächtnissen, weil falsch übersetzt oder ediert wurde, geht Kundera mit scharfen Seitenhieben vor. Ein heiterer und aufschlussreicher Streifzug durch die Schätze der europäischen Kultur.
Lese-Probe zu „Verratene Vermächtnisse “
Verratene Vermächtnisse von Milan KunderaErster Teil
Der Tag, an dem Panurge die Welt nicht mehr zum Lachen bringt
Die Erfindung des Humors
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Madame Grandgousier, schwanger, aß eine Unmenge Kutteln, so dass man ihr ein Adstringens verordnen musste; es war so stark, dass die Gebärmutterwände sich lockerten, der Foetus Gargantuas in eine Ader drang, nach oben schlüpfte und durchs Ohr seiner Mama auf die Welt kam. Von den ersten Sätzen an legt das Buch seine Karten offen: was hier erzählt wird, ist nicht ernst gemeint: was heißen soll: hier werden nicht (wissenschaftliche oder mythische) Wahrheiten bestätigt; man ist nicht verpflichtet, Tatsachen so zu beschreiben, wie sie in Wirklichkeit sind.
Glücklich die Zeit von Rabelais: der Schmetterling des Romans fliegt empor, während auf seinem Körper noch Reste der Puppe haften. Durch seine Riesenerscheinung gehört Pantagruel noch in die Vergangenheit der Zaubermärchen, während Panurge aus der damals noch unbekannten Zukunft des Romans kommt. Der außergewöhnliche Moment der Geburt einer neuen Kunst verleiht Rabelais' Buch einen unglaublichen Reichtum; alles ist darin enthalten: Wahrscheinliches und Unwahrscheinliches, Allegorie, Satire, Riesen und normale Menschen, Anekdoten, Meditationen, reale und phantastische Reisen, gelehrte Streitgespräche, Digressionen nur um der sprachlichen Virtuosität willen. Als Erbe des 19. Jahrhunderts empfindet der Romancier von heute eine neidvolle Sehnsucht nach jenem wunderbar vielfältigen Universum der ersten Romanciers und nach der fröhlichen Freiheit, mit der sie es bewohnten.
Wie Rabelais auf den ersten Seiten seines Buches Gargantua durch Mamas Ohr auf die Bretter der Welt fallen lässt, so fallen in den Satanischen Versen die beiden Helden Salman Rushdies nach einer Flugzeugexplosion in die Tiefe, während sie plaudern, singen, sich komisch und unwahrscheinlich verhalten. Während »über, hinter, unter ihnen im leeren Raum zurückgeklappte Sitze, Pappbecher, Sauerstoffmasken und Passagiere« herumfliegen, schwimmt der eine, Gibril Farishta, »in der Luft, Bruststil, Schmetterlingsstil, rollte er sich zu einer Kugel zusammen, spreizte wie ein Adler Arme und Beine vor der Beinahe-Unendlichkeit dieser Beinahe-Dämmerung«; der andere, Saladin Chamcha, ist »ein pedantischer, kopfüber fallender Schatten, in einem grauen Anzug, alle Jackettknöpfe zugeknöpft, Arme an die Seiten gepresst [...] die Melone auf seinem Kopf«. Mit dieser Szene beginnt der Roman, denn Rushdie weiß wie Rabelais, dass die Vereinbarung zwischen Romancier und Leser von Anfang an zu bestehen hat; es muss klar sein: was hier erzählt wird, ist nicht ernst gemeint, auch wenn es sich um die furchtbarsten Dinge handelt.
Die Vermischung von Unernstem und Furchtbarem: dazu eine Szene aus dem Vierten Buch: Pantagruels Schiff begegnet auf offener See einem Boot mit Kauffahrern; als einer der Händler Panurge ohne Hosenlatz sieht, die Brille an der Mütze befestigt, glaubt er, sich wichtig machen zu müssen, und schimpft ihn einen Hahnrei. Panurge rächt sich auf der Stelle: er kauft ihm einen Hammel ab und wirft ihn ins Meer; da es in der Natur von Schafen liegt, dem Leithammel nachzulaufen, springen alle anderen ebenfalls ins Wasser. Entsetzt packen die Händler sie am Fell und an den Hörnern und werden so ihrerseits ins Meer hinuntergerissen. Panurge hält ein Ruder in der Hand, nicht etwa, um sie zu retten, sondern um sie davon abzuhalten, auf sein Schiff zu klettern; er ermahnt sie wortgewaltig, indem er ihnen alles Unglück dieser Welt schildert sowie das Gute und das Glück des Lebens im Jenseits und beteuert, die Verstorbenen seien glücklicher als die Lebenden. Falls es ihnen dennoch gefallen sollte, unter den Menschen weiterzuleben, wünscht er ihnen, sie mögen wie Jonas einem Walfisch begegnen. Als alle ertrunken sind, gratuliert Bruder Jan Panurge, er hält ihm nur vor, den Händler bezahlt und so Geld hinausgeworfen zu haben. Darauf Panurge: »Potz Keil! Hab doch für mehr als fünfzigtausend Franken Spaß dabei gehabt!«
Die Szene ist irreal, unmöglich; hat sie wenigstens eine Moral? Prangert Rabelais die Knauserigkeit der Händler an, deren Bestrafung uns ergötzen soll? Oder will er uns gegen Panurges Grausamkeit aufbringen? Oder mokiert er sich, antiklerikal, über die Dummheit der von Panurge vorgetragenen religiösen Gemeinplätze? Sie dürfen raten! Jede Antwort ist eine Falle für Dummköpfe.
Octavio Paz: »Weder Homer noch Virgil haben den Humor gekannt; Ariost scheint ihn vorauszuahnen, doch der Humor nimmt erst mit Cervantes Gestalt an [...] Der Humor ist die große Erfindung des modernen Geistes.« Ein grundlegender Gedanke: der Humor wird von den Menschen nicht seit unvordenklichen Zeiten praktiziert; er ist eine mit der Geburt des Romans verbundene Erfindung. Der Humor ist also nicht Lachen, Spott, Satire, sondern vielmehr eine spezifische Art des Komischen, über die Paz sagt (und dies ist der Schlüssel, um das Wesen des Humors zu verstehen), »er macht alles, was er berührt, vieldeutig«. Wer keine Freude an der Szene hat, in der Panurge die Schafhändler ertrinken lässt, während er ihnen eine Lobrede auf das Leben im Jenseits hält, wird nie etwas von der Kunst des Romans verstehen.
Der Bereich, in dem das moralische Urteil aufgehoben ist
Fragte mich jemand nach dem häufigsten Grund für Missverständnisse zwischen meinen Lesern und mir, würde ich nicht zögern zu antworten: der Humor. Ich lebte noch nicht lange in Frankreich und war alles andere als blasiert. Als ein bedeutender Professor der Medizin mich sehen wollte, weil er Abschiedswalzer mochte, war ich sehr geschmeichelt. Seiner Meinung nach ist mein Roman prophetisch; mit der Person Doktor Skretas, der in einem Badestädtchen scheinbar unfruchtbare Frauen behandelt, indem er ihnen mit einer Spezialnadel heimlich seinen Samen einspritzt, hätte ich das große Problem der Zukunft angesprochen. Er lädt mich zu einer Tagung über künstliche Befruchtung ein. Er zieht ein Blatt Papier aus der Tasche und liest mir den Entwurf seines Vortrags vor. Die Gabe des Spermas sollte anonym, gratis und (in diesem Moment schaut er mir in die Augen) durch eine dreifache Liebe motiviert sein: die Liebe zu einem unbekannten Ei, das seine Berufung erfüllen möchte; die Liebe des Spenders zu seiner eigenen Individualität, die durch die Spende in die Zukunft verlängert wird, und, zum dritten, die Liebe zu einem leidenden, unerfüllten Paar. Dann schaut er mir abermals in die Augen: trotz aller Achtung erlaube er sich, mich zu kritisieren: es sei mir nicht geglückt, die moralische Schönheit des Samenspendens in überzeugender Weise darzustellen. Ich verteidige mich: Der Roman ist komisch! Mein Doktor ist ein Phantast! Man darf nicht alles so ernst nehmen! - Man soll Ihre Romane also nicht ernst nehmen?, fragt er mich argwöhnisch. Ich verheddere mich, und plötzlich wird mir klar: es gibt nichts Schwierigeres, als Humor verständlich zu machen.
Im Vierten Buch bricht auf dem Meer ein Sturm los. Alle stehen auf der Brücke und versuchen, das Schiff zu retten. Einzig Panurge, gelähmt vor Angst, wehklagt nur: sein wunderbares Gejammer erstreckt sich über ganze Seiten. Kaum dass der Sturm sich gelegt hat, kehrt sein Mut zurück, und er tadelt alle für ihre Faulheit. Und dies ist das Sonderbare: dieser Feigling, dieser Faulenzer, Lügner und Komödiant ruft in uns nicht nur keine Empörung wach, gerade im Moment seiner Prahlereien mögen wir ihn am meisten. Solche Passagen sind es, die Rabelais' Buch voll und ganz zum Roman werden lassen: das heißt: zu einem Bereich, in dem das moralische Urteil aufgehoben ist.
Das moralische Urteil aufzuheben bedeutet nicht die Immoralität des Romans, sondern seine Moral. Eine Moral, die sich der unausrottbaren menschlichen Gewohnheit widersetzt, sofort, unablässig und jedermann zu beurteilen, zu urteilen, noch bevor und ohne dass man verstanden hat. Unter dem Blickwinkel der Weisheit des Romans ist diese leidenschaftliche Bereitschaft zu urteilen die abscheulichste Dummheit, das gefährlichste Übel. Nicht dass der Romancier die Berechtigung eines moralischen Urteils generell bestreiten würde, aber er verweist es außerhalb des Romans. Klagen Sie, wenn Sie Lust dazu haben, Panurge seiner Feigheit wegen an, klagen Sie Emma Bovary, klagen Sie Rastignac an, das ist Ihre Sache; der Romancier hat damit nichts zu tun.
Die Schaffung eines imaginären Raums, in dem das moralische Urteil aufgehoben ist, war eine Leistung von unermesslicher Tragweite: nur dort können Romanfiguren sich entfalten, das heißt Individuen, die nicht mit Rücksicht auf eine bereits existierende Wahrheit erdacht wurden, als Beispiele für das Gute oder das Böse oder als Verkörperung objektiver, aufeinanderstoßender Gesetze, sondern als autonome, auf ihre eigene Moral, ihre eigenen Gesetze gegründete Wesen. Die westliche Gesellschaft hat die Gewohnheit angenommen, sich als Gesellschaft der Menschenrechte zu verstehen; bevor ein Mensch jedoch Rechte haben konnte, musste er sich als Individuum konstituieren, sich selbst als solches betrachten und als solches betrachtet werden; dies hätte nicht geschehen können ohne eine lange Ausübung der europäischen Künste und insbesondere des Romans, der den Leser lehrt, neugierig zu sein in Bezug auf den anderen und zu versuchen, Wahrheiten zu verstehen, die sich von den eigenen unterscheiden. In diesem Sinn hat Cioran recht, wenn er die europäische Gesellschaft als die »Gesellschaft des Romans« bezeichnet und von den Europäern als den »Söhnen des Romans« spricht.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Madame Grandgousier, schwanger, aß eine Unmenge Kutteln, so dass man ihr ein Adstringens verordnen musste; es war so stark, dass die Gebärmutterwände sich lockerten, der Foetus Gargantuas in eine Ader drang, nach oben schlüpfte und durchs Ohr seiner Mama auf die Welt kam. Von den ersten Sätzen an legt das Buch seine Karten offen: was hier erzählt wird, ist nicht ernst gemeint: was heißen soll: hier werden nicht (wissenschaftliche oder mythische) Wahrheiten bestätigt; man ist nicht verpflichtet, Tatsachen so zu beschreiben, wie sie in Wirklichkeit sind.
Glücklich die Zeit von Rabelais: der Schmetterling des Romans fliegt empor, während auf seinem Körper noch Reste der Puppe haften. Durch seine Riesenerscheinung gehört Pantagruel noch in die Vergangenheit der Zaubermärchen, während Panurge aus der damals noch unbekannten Zukunft des Romans kommt. Der außergewöhnliche Moment der Geburt einer neuen Kunst verleiht Rabelais' Buch einen unglaublichen Reichtum; alles ist darin enthalten: Wahrscheinliches und Unwahrscheinliches, Allegorie, Satire, Riesen und normale Menschen, Anekdoten, Meditationen, reale und phantastische Reisen, gelehrte Streitgespräche, Digressionen nur um der sprachlichen Virtuosität willen. Als Erbe des 19. Jahrhunderts empfindet der Romancier von heute eine neidvolle Sehnsucht nach jenem wunderbar vielfältigen Universum der ersten Romanciers und nach der fröhlichen Freiheit, mit der sie es bewohnten.
Wie Rabelais auf den ersten Seiten seines Buches Gargantua durch Mamas Ohr auf die Bretter der Welt fallen lässt, so fallen in den Satanischen Versen die beiden Helden Salman Rushdies nach einer Flugzeugexplosion in die Tiefe, während sie plaudern, singen, sich komisch und unwahrscheinlich verhalten. Während »über, hinter, unter ihnen im leeren Raum zurückgeklappte Sitze, Pappbecher, Sauerstoffmasken und Passagiere« herumfliegen, schwimmt der eine, Gibril Farishta, »in der Luft, Bruststil, Schmetterlingsstil, rollte er sich zu einer Kugel zusammen, spreizte wie ein Adler Arme und Beine vor der Beinahe-Unendlichkeit dieser Beinahe-Dämmerung«; der andere, Saladin Chamcha, ist »ein pedantischer, kopfüber fallender Schatten, in einem grauen Anzug, alle Jackettknöpfe zugeknöpft, Arme an die Seiten gepresst [...] die Melone auf seinem Kopf«. Mit dieser Szene beginnt der Roman, denn Rushdie weiß wie Rabelais, dass die Vereinbarung zwischen Romancier und Leser von Anfang an zu bestehen hat; es muss klar sein: was hier erzählt wird, ist nicht ernst gemeint, auch wenn es sich um die furchtbarsten Dinge handelt.
Die Vermischung von Unernstem und Furchtbarem: dazu eine Szene aus dem Vierten Buch: Pantagruels Schiff begegnet auf offener See einem Boot mit Kauffahrern; als einer der Händler Panurge ohne Hosenlatz sieht, die Brille an der Mütze befestigt, glaubt er, sich wichtig machen zu müssen, und schimpft ihn einen Hahnrei. Panurge rächt sich auf der Stelle: er kauft ihm einen Hammel ab und wirft ihn ins Meer; da es in der Natur von Schafen liegt, dem Leithammel nachzulaufen, springen alle anderen ebenfalls ins Wasser. Entsetzt packen die Händler sie am Fell und an den Hörnern und werden so ihrerseits ins Meer hinuntergerissen. Panurge hält ein Ruder in der Hand, nicht etwa, um sie zu retten, sondern um sie davon abzuhalten, auf sein Schiff zu klettern; er ermahnt sie wortgewaltig, indem er ihnen alles Unglück dieser Welt schildert sowie das Gute und das Glück des Lebens im Jenseits und beteuert, die Verstorbenen seien glücklicher als die Lebenden. Falls es ihnen dennoch gefallen sollte, unter den Menschen weiterzuleben, wünscht er ihnen, sie mögen wie Jonas einem Walfisch begegnen. Als alle ertrunken sind, gratuliert Bruder Jan Panurge, er hält ihm nur vor, den Händler bezahlt und so Geld hinausgeworfen zu haben. Darauf Panurge: »Potz Keil! Hab doch für mehr als fünfzigtausend Franken Spaß dabei gehabt!«
Die Szene ist irreal, unmöglich; hat sie wenigstens eine Moral? Prangert Rabelais die Knauserigkeit der Händler an, deren Bestrafung uns ergötzen soll? Oder will er uns gegen Panurges Grausamkeit aufbringen? Oder mokiert er sich, antiklerikal, über die Dummheit der von Panurge vorgetragenen religiösen Gemeinplätze? Sie dürfen raten! Jede Antwort ist eine Falle für Dummköpfe.
Octavio Paz: »Weder Homer noch Virgil haben den Humor gekannt; Ariost scheint ihn vorauszuahnen, doch der Humor nimmt erst mit Cervantes Gestalt an [...] Der Humor ist die große Erfindung des modernen Geistes.« Ein grundlegender Gedanke: der Humor wird von den Menschen nicht seit unvordenklichen Zeiten praktiziert; er ist eine mit der Geburt des Romans verbundene Erfindung. Der Humor ist also nicht Lachen, Spott, Satire, sondern vielmehr eine spezifische Art des Komischen, über die Paz sagt (und dies ist der Schlüssel, um das Wesen des Humors zu verstehen), »er macht alles, was er berührt, vieldeutig«. Wer keine Freude an der Szene hat, in der Panurge die Schafhändler ertrinken lässt, während er ihnen eine Lobrede auf das Leben im Jenseits hält, wird nie etwas von der Kunst des Romans verstehen.
Der Bereich, in dem das moralische Urteil aufgehoben ist
Fragte mich jemand nach dem häufigsten Grund für Missverständnisse zwischen meinen Lesern und mir, würde ich nicht zögern zu antworten: der Humor. Ich lebte noch nicht lange in Frankreich und war alles andere als blasiert. Als ein bedeutender Professor der Medizin mich sehen wollte, weil er Abschiedswalzer mochte, war ich sehr geschmeichelt. Seiner Meinung nach ist mein Roman prophetisch; mit der Person Doktor Skretas, der in einem Badestädtchen scheinbar unfruchtbare Frauen behandelt, indem er ihnen mit einer Spezialnadel heimlich seinen Samen einspritzt, hätte ich das große Problem der Zukunft angesprochen. Er lädt mich zu einer Tagung über künstliche Befruchtung ein. Er zieht ein Blatt Papier aus der Tasche und liest mir den Entwurf seines Vortrags vor. Die Gabe des Spermas sollte anonym, gratis und (in diesem Moment schaut er mir in die Augen) durch eine dreifache Liebe motiviert sein: die Liebe zu einem unbekannten Ei, das seine Berufung erfüllen möchte; die Liebe des Spenders zu seiner eigenen Individualität, die durch die Spende in die Zukunft verlängert wird, und, zum dritten, die Liebe zu einem leidenden, unerfüllten Paar. Dann schaut er mir abermals in die Augen: trotz aller Achtung erlaube er sich, mich zu kritisieren: es sei mir nicht geglückt, die moralische Schönheit des Samenspendens in überzeugender Weise darzustellen. Ich verteidige mich: Der Roman ist komisch! Mein Doktor ist ein Phantast! Man darf nicht alles so ernst nehmen! - Man soll Ihre Romane also nicht ernst nehmen?, fragt er mich argwöhnisch. Ich verheddere mich, und plötzlich wird mir klar: es gibt nichts Schwierigeres, als Humor verständlich zu machen.
Im Vierten Buch bricht auf dem Meer ein Sturm los. Alle stehen auf der Brücke und versuchen, das Schiff zu retten. Einzig Panurge, gelähmt vor Angst, wehklagt nur: sein wunderbares Gejammer erstreckt sich über ganze Seiten. Kaum dass der Sturm sich gelegt hat, kehrt sein Mut zurück, und er tadelt alle für ihre Faulheit. Und dies ist das Sonderbare: dieser Feigling, dieser Faulenzer, Lügner und Komödiant ruft in uns nicht nur keine Empörung wach, gerade im Moment seiner Prahlereien mögen wir ihn am meisten. Solche Passagen sind es, die Rabelais' Buch voll und ganz zum Roman werden lassen: das heißt: zu einem Bereich, in dem das moralische Urteil aufgehoben ist.
Das moralische Urteil aufzuheben bedeutet nicht die Immoralität des Romans, sondern seine Moral. Eine Moral, die sich der unausrottbaren menschlichen Gewohnheit widersetzt, sofort, unablässig und jedermann zu beurteilen, zu urteilen, noch bevor und ohne dass man verstanden hat. Unter dem Blickwinkel der Weisheit des Romans ist diese leidenschaftliche Bereitschaft zu urteilen die abscheulichste Dummheit, das gefährlichste Übel. Nicht dass der Romancier die Berechtigung eines moralischen Urteils generell bestreiten würde, aber er verweist es außerhalb des Romans. Klagen Sie, wenn Sie Lust dazu haben, Panurge seiner Feigheit wegen an, klagen Sie Emma Bovary, klagen Sie Rastignac an, das ist Ihre Sache; der Romancier hat damit nichts zu tun.
Die Schaffung eines imaginären Raums, in dem das moralische Urteil aufgehoben ist, war eine Leistung von unermesslicher Tragweite: nur dort können Romanfiguren sich entfalten, das heißt Individuen, die nicht mit Rücksicht auf eine bereits existierende Wahrheit erdacht wurden, als Beispiele für das Gute oder das Böse oder als Verkörperung objektiver, aufeinanderstoßender Gesetze, sondern als autonome, auf ihre eigene Moral, ihre eigenen Gesetze gegründete Wesen. Die westliche Gesellschaft hat die Gewohnheit angenommen, sich als Gesellschaft der Menschenrechte zu verstehen; bevor ein Mensch jedoch Rechte haben konnte, musste er sich als Individuum konstituieren, sich selbst als solches betrachten und als solches betrachtet werden; dies hätte nicht geschehen können ohne eine lange Ausübung der europäischen Künste und insbesondere des Romans, der den Leser lehrt, neugierig zu sein in Bezug auf den anderen und zu versuchen, Wahrheiten zu verstehen, die sich von den eigenen unterscheiden. In diesem Sinn hat Cioran recht, wenn er die europäische Gesellschaft als die »Gesellschaft des Romans« bezeichnet und von den Europäern als den »Söhnen des Romans« spricht.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Milan Kundera
Milan Kundera, 1929 in Brünn, ehemals Tschechoslowakei, geboren, ging 1975 ins Exil nach Frankreich, wo er seither lebte und publizierte. Sein Werk wurde in alle Weltsprachen übersetzt und mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Nelly-Sachs-Preis (1987), dem Staatspreis für Literatur der Tschechischen Republik (2007) und dem Franz-Kafka-Preis (2020). Milan Kundera starb im Juli 2023 in Paris.
Bibliographische Angaben
- Autor: Milan Kundera
- 2014, 2. Aufl., 352 Seiten, Maße: 12,5 x 18,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Susanna Roth
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596197503
- ISBN-13: 9783596197507
- Erscheinungsdatum: 20.05.2014
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