Vor allen Nächten
Roman
Vor allen Nächten erzählt die Geschichte eines jüdischen Einwanderersohnes aus den Nordstaaten, der während des amerikanischen Bürgerkriegs zwischen alle Fronten gerät. Dara Horn entfaltet darin eine solche Farbigkeit, wie sie weltberühmte Romane über...
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Produktinformationen zu „Vor allen Nächten “
Klappentext zu „Vor allen Nächten “
Vor allen Nächten erzählt die Geschichte eines jüdischen Einwanderersohnes aus den Nordstaaten, der während des amerikanischen Bürgerkriegs zwischen alle Fronten gerät. Dara Horn entfaltet darin eine solche Farbigkeit, wie sie weltberühmte Romane über diesen großen historischen Stoff nicht hervorbrachten. New York, 1861. Der neunzehnjährige Jacob Rappaport, Sohn jüdischer Einwanderer aus Deutschland, soll mit der einfältigen Emma, Tochter eines Geschäftspartners seines Vaters, verheiratet werden. Außerstande, sich gegen die Pläne des Vaters zur Wehr zu setzen, bleibt ihm am Vorabend des Festes nur die Flucht. Der Bürgerkrieg steht kurz bevor, und Jacob schlägt sich als Soldat auf die Seite der Nordstaatler, die für die Abschaffung der Sklaverei kämpfen. Unerprobt wie er ist, wird er auf waghalsige Mission geschickt. An Bord eines Schmugglerschiffs verfrachtet man ihn nach New Orleans, wo er seinen eigenen Onkel vergiften soll, der sich während des Pessachfestes von Sklaven bedienen lässt und als Spion für die Südstaatler ein Mordkomplott gegen Präsident Abraham Lincoln plant. Kaum ist Jacob in den Norden zurückgekehrt, verschlägt es ihn ein weiteres Mal in den Süden. Diesmal mit einer Mission der anderen Art: Nun soll er Eugenia Levy, feindliche Spionin und Tochter eines alten Bekannten, heiraten und im Auftrag der Kommandanten bespitzeln. Aber auf das, was ihn im Hause Levy erwartet, ist Jacob nicht vorbereitet: Vier bildhübsche Schwestern mit derart verwegenem Charme, dass er bald nicht mehr weiß, auf wessen Seite er steht. Mit Fabulierlust erzählt Dara Horn die Geschichte eines zaudernden Helden, der erst in den Wirren des Krieges lernt, für sich selbst zu sprechen. Ein großer Stoff, den sie mit Witz und atemberaubender Raffinesse zu einem vielschichtigen und entschieden modernen Roman verwebt.
In Vor allen Nächten erzählt Dara Horn die Geschichte von Jacob Rappaport, jüdischer Einwanderersohn aus den Nordstaaten, der während des amerikanischen Bürgerkriegs zwischen alle Fronten gerät: den Kampf gegen die Sklaverei, ein Mordkomplott gegen Präsident Abraham Lincoln, vier bildhübsche Schwestern aus den Südstaaten, deren Charme er hoffnungslos verfällt. Aus dieser Perspektive ist dieser große Stoff der Weltliteratur noch nie beleuchtet worden - und schon gar nicht mit solchem Witz, mit solcher Farbigkeit und der Souveränität einer Autorin unserer Zeit.
Lese-Probe zu „Vor allen Nächten “
Vor allen Nächten von Dara Horn1
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In einem Fass im Bauch eines Schiffes, mit einer Feldflasche zwischen den Knien und einem Päckchen Gift in der Tasche, spürte Jacob Rappaport, wie sich der Knoten in seinem Magen zuzog - nicht weil sein Vorhaben gefährlich, sondern weil es falsch war. Er war neunzehn Jahre alt und hatte bislang geglaubt, er sei nicht verantwortlich für sein Handeln, und all die Irrungen und Wirrungen des Lebens beträfen ihn nicht. Er hatte sich eingeredet, ein Knoten sei wie der andere, es sei einerlei, ob man sich vor anderen fürchte oder vor sich selbst. Doch jetzt, während er die zweite endlose Nacht durchlebte, das Kinn an die Knie und die Arme gegen die Fasswand gepresst, die Wellen im Ohr, die gegen das Schmugglerschiff klatschten, begriff er den Unterschied. Begonnen hatte alles an Pessach im vergangenen Jahr, als er das erste Mal hätte Nein sagen können.
Dieser kalte Märzabend 1861 hing wie ein Vorhang vor seinen Augen, die ganze Feier ein angehaltener Atemzug, ein Warten darauf, dass das Leben endlich begann. Die lange Tafel im Stadthaus seiner Eltern am Madison Square in New York bog sich un ter Wein und Speisen, und ringsherum saßen die Geschäftsfreunde seines Vaters mit ihren Frauen und Kindern - Jacob gegenüber wie üblich Emma Jonas. Emma war ein Jahr jünger als er und ausgesprochen schlicht. Mit ihren siebzehn Jahren spielte sie noch immer mit Puppen; es war offensichtlich, dass sie an einer geistigen Behinderung litt, aber die Rappaports und die Jonas gehörten zu den oberen Zehntausend, oder versuchten zumindest dazuzugehören, und über so etwas redete man nicht. Nach dem rituellen vierten Becher Wein entspann sich eine langatmige Debatte darüber, ob der Krieg unmittelbar bevorstand oder nicht, der Jacob zum Schein folgte, um nicht Emmas leerem, kindischem Blick begegnen zu müssen. Er hörte allerdings kaum hin, bis Emmas Vater, der fast den ganzen Abend lang geschwiegen hatte, plötzlich das Wort ergriff.
»Wie siehst du das, Marcus?«, wollte David Jonas von Jacobs Vater wissen. »Ich muss gestehen, ich werde allmählich nervös. Für eine Reederei ist es katastrophal, wenn man sich über Blockaden Gedanken machen muss.«
Jacobs Vater lächelte. Marcus Rappaport, der blonde Mann mit dem runden Kindergesicht, das ihn viel jünger aussehen ließ, als er in Wirklichkeit war, lehnte sich auf seinem Polsterstuhl zurück. Plötzlich beneidete Jacob ihn um seine glückliche Existenz, die er sich aus eigener Kraft geschaffen hatte. Fünfundzwanzig Jahre zuvor, als er so alt war wie Jacob jetzt, war er aus Bayern gekommen, um als menschlicher Packesel quer durch New Jersey von Farm zu Farm zu ziehen, mit einem hundert Pfund schweren Bündel Tuchballen auf dem Rücken, von dem er an die Farmersfrauen verkaufte. Noch vor der Geburt seines einzigen Sohnes hatte er das Handelshaus Rappaport Import-Export gegründet. Jahrelang hatte Jacob ihn regelrecht verehrt. Später schämte er sich für ihn: Der Akzent seines Vaters war ihm peinlich, und als peinlicher noch empfand er, dass Marcus Rappaport sei nen Sohn vor Kunden wie ein Paradestück ausstellte, ihn mit dem selben Stolz herumreichte wie eine Kiste kostbarer Zigarren. Jacob war zusehends beunruhigt ob der Möglichkeit - die wie ein schwacher, aber nachhaltiger Geruch in sein Bewusstsein drang -, dass er für seinen Vater nichts weiter war als eine Anschaffung, noch so ein wohlverdientes Wunderding, das ihm Amerika in seiner unendlichen Fülle zu besitzen erlaubt hatte. Seit Jacob in der Firma mitarbeitete, war ihm aufgefallen, dass sein Vater mitunter in einem ziemlich herablassenden Ton mit ihm sprach, in dem so etwas wie Verachtung für die Unsicherheit des Sohnes mitschwang. Sein Vater war nämlich der fatalen Überzeugung, dass nur ein Dummkopf sich von Selbstzweifeln plagen ließ.
»Da bin ich anderer Ansicht«, sagte Marcus Rappaport immer noch lächelnd zu David Jonas. »Ich sehe das eher als Chance. Nehmen wir an, die gesamte Küstenschifffahrt von hier bis in die Südstaaten wird blockiert: Dann geht es lediglich darum, ein wenig umzudisponieren und als Erster auf andere Routen durch die Karibik auszuweichen. Manch einem graut vielleicht davor, so viele verschiedene Posten neu berechnen zu müssen, aber mir steht ja gottlob Jacob zur Seite, und Jacob ist ein Zahlengenie.«
Jacob zuckte zusammen, was er durch ein Nesteln an seinem Binder zu verbergen suchte, während Emma nichts Besseres zu tun hatte, als in einem der Haggada-Bücher eine der Seiten immer wieder von neuem zu falten - liebevoll, gewissenhaft und ohne jeden Sinn und Zweck.
»Über Jacobs Talente sind wir uns wohl alle einig«, sagte David Jonas. Dann wandte er sich wieder an Jacobs Vater. »Und deshalb bietet sich dir nun eine weitere Chance.«
Jacob warf David einen neugierigen Blick zu. Ganz im Gegensatz zu seiner Tochter hatte der ein langes, schmales Gesicht, dunk le Augen, die hinter runden Brillengläsern aufmerksam blitz ten, und schwarzes Haar, das er über den fast kahlen Oberkopf gekämmt hatte. Über den Tisch mit all den Weinbechern streckte er Jacobs Vater ruhig und selbstbewusst die Hand hin. »Marcus, ich weiß, dass du schon immer an meiner Firma interessiert warst«, sagte er. »Und deshalb möchte ich sie dir verkaufen. Zum halben Preis ihres eigentlichen Wertes.«
Jacobs Vater runzelte fast belustigt die Stirn. »Das kannst du nicht ernst meinen«, sagte er.
»Doch«, erwiderte David Jonas lächelnd. »Ich hätte nämlich auch etwas davon.« Die Gäste am Tisch horchten auf. »Ich beabsichtige, dir die Reederei Jonas zum halben Preis zu überlassen - als Hochzeitsgeschenk, wenn Miss Emma Jonas zu Mrs Jacob Rappaport wird.«
Jacob war wie vom Donner gerührt. Das musste ein Scherz sein. Die abendliche Feier hatte für jeden vier Becher Wein vorgeschrieben - war Emmas Vater betrunken? Nein, danach sah es nicht aus. David Jonas hatte sich mit beiden Händen aufgestützt und sich mit erwartungsvoller Miene über den Tisch gelehnt.
Jacobs Vater lachte. Unsagbar erleichtert sah Jacob ihn an und wollte schon in sein Gelächter einstimmen, da erfolgte die Antwort. »Eine ausnehmend prächtige Idee, David«, verkündete sein Vater. »Ich schlage ein.«
Jacob stockte der Atem. Er starrte seinen Vater an, die zitternden Hände unter dem Tisch versteckt. Dann sah er zu Emma, die nicht einmal den Blick gehoben hatte, so beschäftigt war sie mit dem Falten und Entfalten ihrer Buchseite. Ihm wurde schwindelig. Doch alle Augen waren jetzt auf ihn gerichtet. Sein Vater hob das halb leere Glas und beugte sich freundlich zu ihm hinüber.
»Na, dann auf die Union, was?«, fragte er schmunzelnd.
Jacob schluckte und sah erneut zu Emma; die war nach wie vor mit dem Papier in ihren Fingern beschäftigt. Er richtete den Blick auf seinen Vater, auf seine Mutter, auf das Ehepaar Jonas, auf den Tisch mit den Haggada-Büchern, dem Tafelsilber und den Speisen, auf die erstaunliche neue Welt, die seine Eltern mit so viel Mühe erschaffen hatten, auf die ungeheuren Verheißungen, die ihm in die Wiege gelegt worden waren, und die ungeheuren Verpflichtungen, die er zu ihrer Einlösung eingehen musste. Dann sah er noch einmal zu Emma und begriff, was man von ihm erwartete, was man seit jeher von ihm erwartet hatte. Wie hätte er da Nein sagen können?
»Auf die Union«, sagte er.
Seine und Emmas Eltern brachen in Freudengelächter aus und zerschlugen nach altem Verlobungsbrauch einen Teller, was von den Anwesenden mit jubelndem Beifall quittiert wurde. Jacob Rappaport war verkauft.
In den sieben Wochen, die es bis zur Hochzeit noch dauerte, malte er sich oft aus, nicht nur eine Existenz zu führen, sondern zwei - ein Jacob Rappaport saß im Zuschauerraum eines Theaters und erfüllte wortlos alle Erwartungen, während ein zweiter Jacob Rappaport auf der Bühne stand und genau das Gegenteil tat. Abend für Abend ließ er mit gemeinsamen Mahlzeiten, Diskussionen, Gezänk und Übereinkünften über sich ergehen und machte sich schließlich an lange Zahlenreihen, die er enträtseln sollte, um seinen eigenen Kaufpreis zu bestimmen. Der gewöhnliche Jacob Rappaport nahm alles, was sich zutrug, schwei gend hin, hielt Emma Jonas' Hand, lächelte seinem Vater zu, ging eifrig die Zahlen durch, rührte Zucker in Emmas Tee. Der andere Jacob Rappaport hingegen, auf Jacobs innerer Bühne, verwünschte seinen Vater lauthals, trieb das Geschäft in den Ruin, ließ Gift in Emmas Tasse rieseln. Er verfolgte diese imaginären Szenen so gebannt, dass ihm angst und bange wurde. Am Vorabend der Hochzeit nahm er Reißaus und meldete sich beim 18. New Yorker Infanterieregiment - unfähig zu begreifen, dass er sich hätte weigern können.
Zu seiner Verblüffung lag Jacob das Leben als Soldat. Er fand es erstaunlich einfach, sich neu zu erfinden, und er war erleichtert, dass alle ihn für einen ganz normalen Farmers-, Schusters- oder Dockarbeitersohn hielten, der zur Armee gegangen war, weil er sein Land liebte und Geld brauchte. Im Sommer und Herbst überstand er mehrere Schlachten und war ebenso schockiert über das, was er erlebt hatte, wie alle anderen. Als der Frühling kam, wurde er eines Abends in die Kommandantur gerufen. Es hieß, der General besuche das Lager, und Jacob ging davon aus, eine Beförderung zu erhalten. Als er den Raum betrat und den Major, den Oberst und den General pfeiferauchend am Tisch sitzen sah, war er sich seiner Sache noch sicherer, konnte sich kaum das Lächeln verkneifen, während er darauf wartete, dass der Major ihn ansprach. Doch dann richtete der General höchstpersönlich das Wort an ihn. »Sergeant Mendoza hat uns berichtet, dass Sie Verwandte in New Orleans haben«, sagte er und stellte seine Pfeife in einen hölzernen Pfeifenhalter. »Genauer gesagt, einen gewissen Mr Harris Hyams. Entspricht das den Tatsachen, Rappaport?«
Jacob holte tief Luft und sog dabei den Rauch der Pfeife ein. Bei der Erwähnung des Namens Mendoza wurde ihm leicht flau. Abraham Mendoza war einundzwanzig, kam ebenfalls aus New York City und war ebenfalls Jude, wenn auch in der sechsten Generation Amerikaner und unangenehm stolz darauf. Jacob fand ihn unerträglich und vermutete, dass die Abneigung auf Gegenseitigkeit beruhte. Trotzdem hatte er sich eines Abends im Feldlager, erschöpft, einsam und leicht angetrunken, Mendoza anvertraut und zum ersten Mal über all das gesprochen, was er zurückgelassen hatte. Mendoza hatte sich interessiert gezeigt, und Jacob hatte bereitwillig erzählt, dankbar, dass er sich endlich die Wahrheit von der Seele reden konnte. Doch dann war Mendoza regelrecht neugierig geworden und hatte ihn über das Geschäft ausgefragt, über die Freunde seines Vaters, über seine Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen - bis Jacob ihn schließlich verärgert zum Teufel geschickt hatte.
»Ja, Sir. Mr Hyams ist mein Onkel«, sagte Jacob.
»Blutsverwandt oder angeheiratet?«, fragte der General.
»Angeheiratet, Sir. Seine Frau ist die Schwester meiner Mutter«, erwiderte Jacob ebenso verblüfft wie enttäuscht. Es schien ihm unwahrscheinlich, dass man ihn über seine Beförderung in Kenntnis zu setzen gedachte, indem man ihn zunächst zu seinem Stammbaum, und dann auch noch ausgerechnet zu Harry Hyams, befragte. Er hatte Harry seit seinem vierzehnten Lebensjahr nicht mehr gesehen, erinnerte sich jedoch an ihn als einen freundlichen, gutmütigen Menschen, der ihm von seinen Reisen Spielsachen, Bücher und Süßigkeiten mitgebracht und ihn mit abenteuerlichen Geschichten von Gespenstern in den Sümpfen Louisianas unterhalten hatte. Jacob blickte die Offiziere an und unterdrückte einen Schauder. Seine Eltern kamen ihm in den Sinn, und er phantasierte sich eine mögliche Erklärung zurecht: vielleicht hatte seine Mutter ihrer Schwester geschrieben, sie solle dafür sorgen, dass er nach Hause geschickt würde.
Der Major bemerkte sein Zittern und lächelte. »Rühren, Rappaport«, sagte er und griff nach seiner Pfeife.
Jacob stellte einen Fuß aus und faltete die Hände hinter dem Rücken, fühlte sich aber noch unwohler als zuvor.
»Kein Mensch macht Sie für Ihre Verwandten südlich der Mason-Dixon-Linie verantwortlich, Rappaport«, sagte der General fast väterlich. Seine Stimme klang tröstlich, beruhigend, und eine nur allzu bekannte Erleichterung machte sich zwischen Jacobs Schulterblättern breit. Es war ein Gefühl, das er ursprünglich damit assoziiert hatte, dass er die Tür zum Büro seines Vaters schloss, nachdem ein schwieriger Kunde gegangen war - damit, dass man endlich wieder unter sich war. Als der General weiterredete, atmete Jacob tief durch. »Wir fragen uns lediglich, was Sie wohl von diesem Harris Hyams halten.«
Vielleicht ging es doch um eine Beförderung, schoss es Jacob durch den Kopf, vielleicht musste er nur noch einen letzten Test bestehen. Wie unlogisch dieser Gedankengang war - dass ein General auf Durchreise ihm diese Fragen stellte, um ihn zu be fördern, dass eine derartige Befragung zu einer solch unge wöhnlichen Tageszeit stattfand und dass ausgerechnet diese Fragen für seine Zukunft im Regiment relevant sein sollten - all das blendete er aus. Er dachte nicht einmal an Harry Hyams; um ihn ging es gar nicht. Vielmehr dachte er an die zahllosen patriotischen Reden, die er in den vergangenen neun Monaten gehört hatte, und erwiderte listig: »Harris Hyams ist ein Skla venhalter und ein Rebell, Sir, und verdient deshalb nur die größte Verachtung.«
Die drei Offiziere schmunzelten. Mit seinen neunzehn Jahren konnte Jacob in fremden Gesichtern Bewunderung und Herablassung noch nicht voneinander unterscheiden; er wusste auch nicht, dass er stets mit Letzterem zu rechnen hatte. Siegesgewiss unterdrückte er ein Schmunzeln seinerseits. Wieder ein Wölkchen Pfeifenrauch. »Was macht er denn so, Ihr Harris Hyams?«
Das »Ihr« ließ Jacob zusammenzucken. Und dann kam ihm eine Erinnerung, eine eher körperliche als verstandesmäßige. In seiner Vorstellung wurde er wieder zu jenem kleinen Jungen, zu dem sich Harry einst hinuntergebeugt hatte. Er spürte den Griff von Harrys Händen unter den Achseln und den Luftzug im Nacken, als diese Hände ihn schwungvoll hochgehoben hatten. Rasch schob er die Erinnerung beiseite. »Ich habe ihn seit Jahren nicht gesehen, Sir«, sagte er, immer noch in der Hoffnung, den Test zu bestehen. »Die Firma meines Vaters hat gelegentlich mit ihm zusammengearbeitet. Damals hat er in New Orleans mit Zucker gehandelt.«
Der General kaute auf seiner Pfeife; zu dritt beäugten die Offiziere Jacob wie von einer Richterbank. »Offenbar haben sich seine beruflichen Bestrebungen geändert, seit Sie und er zuletzt in Verbindung waren«, sagte der General feixend. Auch die beiden anderen Offiziere feixten, wie Jacob mit Befremden feststellte. Mit einer bedächtigen Bewegung stellte der General die Pfeife zurück in den Halter; der Rauch verdichtete sich zu einem zarten Schleier vor Jacobs Augen. Dann sah der General ihn an und sagte: »Harris Hyams ist ein Spion für die Konföderierten.«
Genauso gut hätte er behaupten können, Harry Hyams sei der König von Schottland. Absurd, dachte Jacob. »Ein Spion, Sir?« Ob das wieder ein Test war?
»Und zwar ein ranghoher«, sagte der Major und klopfte mit dem Zeigefinger auf den Tisch. »Mit Verbindungen zu Judah Benjamin.«
»Was denn für Verbindungen, Sir?«, fragte Jacob. Allein der Name erregte Übelkeit in ihm: Judah P. Benjamin, der erste Jude, der je im Senat der Vereinigten Staaten gesessen hatte und nun das erste jüdische Kabinettsmitglied der Geschichte war - ein Mann jedoch, der seine Talente ausgerechnet der Konföderation zur Verfügung stellte, in der er mit Leidenschaft als Außenminister diente und der engste Vertraute von Jefferson Davis war. Jeder Jude in den Nordstaaten wurde bei der Erwähnung seines Namens blass. Jacob musste sich fast übergeben.
»Benjamin ist offenbar sein Cousin ersten Grades. Nicht Ihrer natürlich, denn Sie sind ja über die Ehefrau mit ihm verwandt. Worüber wir sehr froh sind.« Er lächelte.
Jacob lächelte ebenfalls. Wieder überkam ihn unverhofft Erleichterung, und er warf sich in die Brust. Plötzlich spürte er inmitten des intimen Pfeifendufts ganz deutlich, dass er mit Fug und Recht in diesem Raum stand: mit jeder Faser seines Körpers auf diese Offiziere eingestellt, erfreut über das, was sie freute, verärgert über das, was sie ärgerte, mit seinem ganzen Wesen ein Ausdruck dessen, was sie befürworteten oder ablehnten. Für einen beglückenden Augenblick malte er sich aus, der Sohn des Generals zu sein.
»Hyams hat in den letzten paar Monaten häufig die Grenzstaaten bereist«, fuhr der General fort. »Wie Sie wissen, hatte er früher, noch vor dem Krieg, oft in den Nordstaaten zu tun und verfügt daher über viele Verbindungen dorthin.« Er hielt inne und musterte Jacob. Unwillkürlich wich Jacob seinem Blick aus und sah zu Boden. Sollte damit sein Vater gemeint sein? »Immer wieder hat er unbemerkt die Grenze passiert, aber inzwi schen ist es uns gelungen, die Briefe, die er nach Richmond geschickt hat, abzufangen. Unglücklicherweise ist er in ein Komplott verwickelt.« Er machte eine melodramatische Pause, die Jacob ihm verübelt hätte, wäre er nicht so fasziniert gewesen.
»Was denn für ein Komplott, Sir?«, fragte Jacob.
»Ein Mordkomplott. Gegen Präsident Lincoln.«
Gegen Lincoln?
»Das - das ist nicht möglich, Sir«, stammelte Jacob.
»Und warum nicht?«, erkundigte sich der Oberst.
Die drei Offiziere waren offenkundig interessiert - und überzeugt, dass er ihnen etwas zu sagen hatte, das sie noch nicht wussten. Jacob versuchte, sich daran zu erinnern, was sein Vater über Harry und den Zuckerhandel gesagt hatte, aber es fiel ihm nichts ein; dieses Thema hatte ihn seit jeher gelangweilt. Er erinnerte sich lediglich an die Auseinandersetzung zwischen den Gästen am Sedertisch im vergangenen Jahr: wie Otto Strauss immer wieder behauptet hatte, die Abolitionisten hätten recht, die Sklavenfrage sei nicht nur ein moralisches, sondern auch ein wirtschaftliches Problem, kein Geschäft, das auf Sklavenarbeit setze, würde die neuesten industriellen Entwicklungen überleben, und wie Hermann Seligman immer wieder dagegengehalten hatte, vom moralischen Standpunkt her hätte Otto zwar recht, vom wirtschaftlichen her aber unrecht, dass er mit ihm im Prinzip übereinstimme, Otto aber doch zugeben müsse, er propagiere hier eine Revolution, und Revolutionen endeten fast immer in einer Katastrophe, wie die Verhaftung und Verurteilung seines Vetters in einem deutschen Kleinstaat so eindrucksvoll beweise; jeder, der diesen Weg einschlagen wolle, solle sich also frühzeitig überlegen, was er zu tun gedenke, sobald die Welt, so korrupt sie auch immer schon gewesen sein mochte, endgültig untergehe, und nichts an Ottos Argumentation lege nahe, dass er auch nur die geringsten Vorkehrungen getroffen habe - und da fiel Jacob ein, wie sein Vater die zankenden Gäste zur Räson gebracht hatte, indem er darauf hinwies - was er Jacob gegenüber mit enervierender Häu figkeit tat -, dass sie mit oder ohne Krieg dem lieben Gott dankbar sein sollten, schlicht für Amerika, für den erstaunlichen Umstand, dass sie dieses Gespräch überhaupt führen konnten; sie sollten jetzt aufhören zu streiten und hinnehmen, was immer ihnen bevorstand, sie sollten willens sein, alles für dieses Land zu tun, gleich unter welchen Umständen, aus Dankbarkeit für die ungeheuerliche Tatsache, dass sie hier waren, dass sie mit ihren freien Kindern am Sedertisch sitzen durften, ohne dass jemand sie drangsalierte oder demütigte. All das hatte Jacob damals allerdings nicht im Geringsten interessiert. Er war vollauf damit beschäftigt gewesen, Emma Jonas' Blicken auszuweichen. »Mr Hyams ist ... nicht so ein Mensch, Sir«, sagte Jacob schließlich.
Übersetzung: Christiane Buchner und Martina Tichy
© 2009 BV Berlin Verlag GmbH, Berlin
In einem Fass im Bauch eines Schiffes, mit einer Feldflasche zwischen den Knien und einem Päckchen Gift in der Tasche, spürte Jacob Rappaport, wie sich der Knoten in seinem Magen zuzog - nicht weil sein Vorhaben gefährlich, sondern weil es falsch war. Er war neunzehn Jahre alt und hatte bislang geglaubt, er sei nicht verantwortlich für sein Handeln, und all die Irrungen und Wirrungen des Lebens beträfen ihn nicht. Er hatte sich eingeredet, ein Knoten sei wie der andere, es sei einerlei, ob man sich vor anderen fürchte oder vor sich selbst. Doch jetzt, während er die zweite endlose Nacht durchlebte, das Kinn an die Knie und die Arme gegen die Fasswand gepresst, die Wellen im Ohr, die gegen das Schmugglerschiff klatschten, begriff er den Unterschied. Begonnen hatte alles an Pessach im vergangenen Jahr, als er das erste Mal hätte Nein sagen können.
Dieser kalte Märzabend 1861 hing wie ein Vorhang vor seinen Augen, die ganze Feier ein angehaltener Atemzug, ein Warten darauf, dass das Leben endlich begann. Die lange Tafel im Stadthaus seiner Eltern am Madison Square in New York bog sich un ter Wein und Speisen, und ringsherum saßen die Geschäftsfreunde seines Vaters mit ihren Frauen und Kindern - Jacob gegenüber wie üblich Emma Jonas. Emma war ein Jahr jünger als er und ausgesprochen schlicht. Mit ihren siebzehn Jahren spielte sie noch immer mit Puppen; es war offensichtlich, dass sie an einer geistigen Behinderung litt, aber die Rappaports und die Jonas gehörten zu den oberen Zehntausend, oder versuchten zumindest dazuzugehören, und über so etwas redete man nicht. Nach dem rituellen vierten Becher Wein entspann sich eine langatmige Debatte darüber, ob der Krieg unmittelbar bevorstand oder nicht, der Jacob zum Schein folgte, um nicht Emmas leerem, kindischem Blick begegnen zu müssen. Er hörte allerdings kaum hin, bis Emmas Vater, der fast den ganzen Abend lang geschwiegen hatte, plötzlich das Wort ergriff.
»Wie siehst du das, Marcus?«, wollte David Jonas von Jacobs Vater wissen. »Ich muss gestehen, ich werde allmählich nervös. Für eine Reederei ist es katastrophal, wenn man sich über Blockaden Gedanken machen muss.«
Jacobs Vater lächelte. Marcus Rappaport, der blonde Mann mit dem runden Kindergesicht, das ihn viel jünger aussehen ließ, als er in Wirklichkeit war, lehnte sich auf seinem Polsterstuhl zurück. Plötzlich beneidete Jacob ihn um seine glückliche Existenz, die er sich aus eigener Kraft geschaffen hatte. Fünfundzwanzig Jahre zuvor, als er so alt war wie Jacob jetzt, war er aus Bayern gekommen, um als menschlicher Packesel quer durch New Jersey von Farm zu Farm zu ziehen, mit einem hundert Pfund schweren Bündel Tuchballen auf dem Rücken, von dem er an die Farmersfrauen verkaufte. Noch vor der Geburt seines einzigen Sohnes hatte er das Handelshaus Rappaport Import-Export gegründet. Jahrelang hatte Jacob ihn regelrecht verehrt. Später schämte er sich für ihn: Der Akzent seines Vaters war ihm peinlich, und als peinlicher noch empfand er, dass Marcus Rappaport sei nen Sohn vor Kunden wie ein Paradestück ausstellte, ihn mit dem selben Stolz herumreichte wie eine Kiste kostbarer Zigarren. Jacob war zusehends beunruhigt ob der Möglichkeit - die wie ein schwacher, aber nachhaltiger Geruch in sein Bewusstsein drang -, dass er für seinen Vater nichts weiter war als eine Anschaffung, noch so ein wohlverdientes Wunderding, das ihm Amerika in seiner unendlichen Fülle zu besitzen erlaubt hatte. Seit Jacob in der Firma mitarbeitete, war ihm aufgefallen, dass sein Vater mitunter in einem ziemlich herablassenden Ton mit ihm sprach, in dem so etwas wie Verachtung für die Unsicherheit des Sohnes mitschwang. Sein Vater war nämlich der fatalen Überzeugung, dass nur ein Dummkopf sich von Selbstzweifeln plagen ließ.
»Da bin ich anderer Ansicht«, sagte Marcus Rappaport immer noch lächelnd zu David Jonas. »Ich sehe das eher als Chance. Nehmen wir an, die gesamte Küstenschifffahrt von hier bis in die Südstaaten wird blockiert: Dann geht es lediglich darum, ein wenig umzudisponieren und als Erster auf andere Routen durch die Karibik auszuweichen. Manch einem graut vielleicht davor, so viele verschiedene Posten neu berechnen zu müssen, aber mir steht ja gottlob Jacob zur Seite, und Jacob ist ein Zahlengenie.«
Jacob zuckte zusammen, was er durch ein Nesteln an seinem Binder zu verbergen suchte, während Emma nichts Besseres zu tun hatte, als in einem der Haggada-Bücher eine der Seiten immer wieder von neuem zu falten - liebevoll, gewissenhaft und ohne jeden Sinn und Zweck.
»Über Jacobs Talente sind wir uns wohl alle einig«, sagte David Jonas. Dann wandte er sich wieder an Jacobs Vater. »Und deshalb bietet sich dir nun eine weitere Chance.«
Jacob warf David einen neugierigen Blick zu. Ganz im Gegensatz zu seiner Tochter hatte der ein langes, schmales Gesicht, dunk le Augen, die hinter runden Brillengläsern aufmerksam blitz ten, und schwarzes Haar, das er über den fast kahlen Oberkopf gekämmt hatte. Über den Tisch mit all den Weinbechern streckte er Jacobs Vater ruhig und selbstbewusst die Hand hin. »Marcus, ich weiß, dass du schon immer an meiner Firma interessiert warst«, sagte er. »Und deshalb möchte ich sie dir verkaufen. Zum halben Preis ihres eigentlichen Wertes.«
Jacobs Vater runzelte fast belustigt die Stirn. »Das kannst du nicht ernst meinen«, sagte er.
»Doch«, erwiderte David Jonas lächelnd. »Ich hätte nämlich auch etwas davon.« Die Gäste am Tisch horchten auf. »Ich beabsichtige, dir die Reederei Jonas zum halben Preis zu überlassen - als Hochzeitsgeschenk, wenn Miss Emma Jonas zu Mrs Jacob Rappaport wird.«
Jacob war wie vom Donner gerührt. Das musste ein Scherz sein. Die abendliche Feier hatte für jeden vier Becher Wein vorgeschrieben - war Emmas Vater betrunken? Nein, danach sah es nicht aus. David Jonas hatte sich mit beiden Händen aufgestützt und sich mit erwartungsvoller Miene über den Tisch gelehnt.
Jacobs Vater lachte. Unsagbar erleichtert sah Jacob ihn an und wollte schon in sein Gelächter einstimmen, da erfolgte die Antwort. »Eine ausnehmend prächtige Idee, David«, verkündete sein Vater. »Ich schlage ein.«
Jacob stockte der Atem. Er starrte seinen Vater an, die zitternden Hände unter dem Tisch versteckt. Dann sah er zu Emma, die nicht einmal den Blick gehoben hatte, so beschäftigt war sie mit dem Falten und Entfalten ihrer Buchseite. Ihm wurde schwindelig. Doch alle Augen waren jetzt auf ihn gerichtet. Sein Vater hob das halb leere Glas und beugte sich freundlich zu ihm hinüber.
»Na, dann auf die Union, was?«, fragte er schmunzelnd.
Jacob schluckte und sah erneut zu Emma; die war nach wie vor mit dem Papier in ihren Fingern beschäftigt. Er richtete den Blick auf seinen Vater, auf seine Mutter, auf das Ehepaar Jonas, auf den Tisch mit den Haggada-Büchern, dem Tafelsilber und den Speisen, auf die erstaunliche neue Welt, die seine Eltern mit so viel Mühe erschaffen hatten, auf die ungeheuren Verheißungen, die ihm in die Wiege gelegt worden waren, und die ungeheuren Verpflichtungen, die er zu ihrer Einlösung eingehen musste. Dann sah er noch einmal zu Emma und begriff, was man von ihm erwartete, was man seit jeher von ihm erwartet hatte. Wie hätte er da Nein sagen können?
»Auf die Union«, sagte er.
Seine und Emmas Eltern brachen in Freudengelächter aus und zerschlugen nach altem Verlobungsbrauch einen Teller, was von den Anwesenden mit jubelndem Beifall quittiert wurde. Jacob Rappaport war verkauft.
In den sieben Wochen, die es bis zur Hochzeit noch dauerte, malte er sich oft aus, nicht nur eine Existenz zu führen, sondern zwei - ein Jacob Rappaport saß im Zuschauerraum eines Theaters und erfüllte wortlos alle Erwartungen, während ein zweiter Jacob Rappaport auf der Bühne stand und genau das Gegenteil tat. Abend für Abend ließ er mit gemeinsamen Mahlzeiten, Diskussionen, Gezänk und Übereinkünften über sich ergehen und machte sich schließlich an lange Zahlenreihen, die er enträtseln sollte, um seinen eigenen Kaufpreis zu bestimmen. Der gewöhnliche Jacob Rappaport nahm alles, was sich zutrug, schwei gend hin, hielt Emma Jonas' Hand, lächelte seinem Vater zu, ging eifrig die Zahlen durch, rührte Zucker in Emmas Tee. Der andere Jacob Rappaport hingegen, auf Jacobs innerer Bühne, verwünschte seinen Vater lauthals, trieb das Geschäft in den Ruin, ließ Gift in Emmas Tasse rieseln. Er verfolgte diese imaginären Szenen so gebannt, dass ihm angst und bange wurde. Am Vorabend der Hochzeit nahm er Reißaus und meldete sich beim 18. New Yorker Infanterieregiment - unfähig zu begreifen, dass er sich hätte weigern können.
Zu seiner Verblüffung lag Jacob das Leben als Soldat. Er fand es erstaunlich einfach, sich neu zu erfinden, und er war erleichtert, dass alle ihn für einen ganz normalen Farmers-, Schusters- oder Dockarbeitersohn hielten, der zur Armee gegangen war, weil er sein Land liebte und Geld brauchte. Im Sommer und Herbst überstand er mehrere Schlachten und war ebenso schockiert über das, was er erlebt hatte, wie alle anderen. Als der Frühling kam, wurde er eines Abends in die Kommandantur gerufen. Es hieß, der General besuche das Lager, und Jacob ging davon aus, eine Beförderung zu erhalten. Als er den Raum betrat und den Major, den Oberst und den General pfeiferauchend am Tisch sitzen sah, war er sich seiner Sache noch sicherer, konnte sich kaum das Lächeln verkneifen, während er darauf wartete, dass der Major ihn ansprach. Doch dann richtete der General höchstpersönlich das Wort an ihn. »Sergeant Mendoza hat uns berichtet, dass Sie Verwandte in New Orleans haben«, sagte er und stellte seine Pfeife in einen hölzernen Pfeifenhalter. »Genauer gesagt, einen gewissen Mr Harris Hyams. Entspricht das den Tatsachen, Rappaport?«
Jacob holte tief Luft und sog dabei den Rauch der Pfeife ein. Bei der Erwähnung des Namens Mendoza wurde ihm leicht flau. Abraham Mendoza war einundzwanzig, kam ebenfalls aus New York City und war ebenfalls Jude, wenn auch in der sechsten Generation Amerikaner und unangenehm stolz darauf. Jacob fand ihn unerträglich und vermutete, dass die Abneigung auf Gegenseitigkeit beruhte. Trotzdem hatte er sich eines Abends im Feldlager, erschöpft, einsam und leicht angetrunken, Mendoza anvertraut und zum ersten Mal über all das gesprochen, was er zurückgelassen hatte. Mendoza hatte sich interessiert gezeigt, und Jacob hatte bereitwillig erzählt, dankbar, dass er sich endlich die Wahrheit von der Seele reden konnte. Doch dann war Mendoza regelrecht neugierig geworden und hatte ihn über das Geschäft ausgefragt, über die Freunde seines Vaters, über seine Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen - bis Jacob ihn schließlich verärgert zum Teufel geschickt hatte.
»Ja, Sir. Mr Hyams ist mein Onkel«, sagte Jacob.
»Blutsverwandt oder angeheiratet?«, fragte der General.
»Angeheiratet, Sir. Seine Frau ist die Schwester meiner Mutter«, erwiderte Jacob ebenso verblüfft wie enttäuscht. Es schien ihm unwahrscheinlich, dass man ihn über seine Beförderung in Kenntnis zu setzen gedachte, indem man ihn zunächst zu seinem Stammbaum, und dann auch noch ausgerechnet zu Harry Hyams, befragte. Er hatte Harry seit seinem vierzehnten Lebensjahr nicht mehr gesehen, erinnerte sich jedoch an ihn als einen freundlichen, gutmütigen Menschen, der ihm von seinen Reisen Spielsachen, Bücher und Süßigkeiten mitgebracht und ihn mit abenteuerlichen Geschichten von Gespenstern in den Sümpfen Louisianas unterhalten hatte. Jacob blickte die Offiziere an und unterdrückte einen Schauder. Seine Eltern kamen ihm in den Sinn, und er phantasierte sich eine mögliche Erklärung zurecht: vielleicht hatte seine Mutter ihrer Schwester geschrieben, sie solle dafür sorgen, dass er nach Hause geschickt würde.
Der Major bemerkte sein Zittern und lächelte. »Rühren, Rappaport«, sagte er und griff nach seiner Pfeife.
Jacob stellte einen Fuß aus und faltete die Hände hinter dem Rücken, fühlte sich aber noch unwohler als zuvor.
»Kein Mensch macht Sie für Ihre Verwandten südlich der Mason-Dixon-Linie verantwortlich, Rappaport«, sagte der General fast väterlich. Seine Stimme klang tröstlich, beruhigend, und eine nur allzu bekannte Erleichterung machte sich zwischen Jacobs Schulterblättern breit. Es war ein Gefühl, das er ursprünglich damit assoziiert hatte, dass er die Tür zum Büro seines Vaters schloss, nachdem ein schwieriger Kunde gegangen war - damit, dass man endlich wieder unter sich war. Als der General weiterredete, atmete Jacob tief durch. »Wir fragen uns lediglich, was Sie wohl von diesem Harris Hyams halten.«
Vielleicht ging es doch um eine Beförderung, schoss es Jacob durch den Kopf, vielleicht musste er nur noch einen letzten Test bestehen. Wie unlogisch dieser Gedankengang war - dass ein General auf Durchreise ihm diese Fragen stellte, um ihn zu be fördern, dass eine derartige Befragung zu einer solch unge wöhnlichen Tageszeit stattfand und dass ausgerechnet diese Fragen für seine Zukunft im Regiment relevant sein sollten - all das blendete er aus. Er dachte nicht einmal an Harry Hyams; um ihn ging es gar nicht. Vielmehr dachte er an die zahllosen patriotischen Reden, die er in den vergangenen neun Monaten gehört hatte, und erwiderte listig: »Harris Hyams ist ein Skla venhalter und ein Rebell, Sir, und verdient deshalb nur die größte Verachtung.«
Die drei Offiziere schmunzelten. Mit seinen neunzehn Jahren konnte Jacob in fremden Gesichtern Bewunderung und Herablassung noch nicht voneinander unterscheiden; er wusste auch nicht, dass er stets mit Letzterem zu rechnen hatte. Siegesgewiss unterdrückte er ein Schmunzeln seinerseits. Wieder ein Wölkchen Pfeifenrauch. »Was macht er denn so, Ihr Harris Hyams?«
Das »Ihr« ließ Jacob zusammenzucken. Und dann kam ihm eine Erinnerung, eine eher körperliche als verstandesmäßige. In seiner Vorstellung wurde er wieder zu jenem kleinen Jungen, zu dem sich Harry einst hinuntergebeugt hatte. Er spürte den Griff von Harrys Händen unter den Achseln und den Luftzug im Nacken, als diese Hände ihn schwungvoll hochgehoben hatten. Rasch schob er die Erinnerung beiseite. »Ich habe ihn seit Jahren nicht gesehen, Sir«, sagte er, immer noch in der Hoffnung, den Test zu bestehen. »Die Firma meines Vaters hat gelegentlich mit ihm zusammengearbeitet. Damals hat er in New Orleans mit Zucker gehandelt.«
Der General kaute auf seiner Pfeife; zu dritt beäugten die Offiziere Jacob wie von einer Richterbank. »Offenbar haben sich seine beruflichen Bestrebungen geändert, seit Sie und er zuletzt in Verbindung waren«, sagte der General feixend. Auch die beiden anderen Offiziere feixten, wie Jacob mit Befremden feststellte. Mit einer bedächtigen Bewegung stellte der General die Pfeife zurück in den Halter; der Rauch verdichtete sich zu einem zarten Schleier vor Jacobs Augen. Dann sah der General ihn an und sagte: »Harris Hyams ist ein Spion für die Konföderierten.«
Genauso gut hätte er behaupten können, Harry Hyams sei der König von Schottland. Absurd, dachte Jacob. »Ein Spion, Sir?« Ob das wieder ein Test war?
»Und zwar ein ranghoher«, sagte der Major und klopfte mit dem Zeigefinger auf den Tisch. »Mit Verbindungen zu Judah Benjamin.«
»Was denn für Verbindungen, Sir?«, fragte Jacob. Allein der Name erregte Übelkeit in ihm: Judah P. Benjamin, der erste Jude, der je im Senat der Vereinigten Staaten gesessen hatte und nun das erste jüdische Kabinettsmitglied der Geschichte war - ein Mann jedoch, der seine Talente ausgerechnet der Konföderation zur Verfügung stellte, in der er mit Leidenschaft als Außenminister diente und der engste Vertraute von Jefferson Davis war. Jeder Jude in den Nordstaaten wurde bei der Erwähnung seines Namens blass. Jacob musste sich fast übergeben.
»Benjamin ist offenbar sein Cousin ersten Grades. Nicht Ihrer natürlich, denn Sie sind ja über die Ehefrau mit ihm verwandt. Worüber wir sehr froh sind.« Er lächelte.
Jacob lächelte ebenfalls. Wieder überkam ihn unverhofft Erleichterung, und er warf sich in die Brust. Plötzlich spürte er inmitten des intimen Pfeifendufts ganz deutlich, dass er mit Fug und Recht in diesem Raum stand: mit jeder Faser seines Körpers auf diese Offiziere eingestellt, erfreut über das, was sie freute, verärgert über das, was sie ärgerte, mit seinem ganzen Wesen ein Ausdruck dessen, was sie befürworteten oder ablehnten. Für einen beglückenden Augenblick malte er sich aus, der Sohn des Generals zu sein.
»Hyams hat in den letzten paar Monaten häufig die Grenzstaaten bereist«, fuhr der General fort. »Wie Sie wissen, hatte er früher, noch vor dem Krieg, oft in den Nordstaaten zu tun und verfügt daher über viele Verbindungen dorthin.« Er hielt inne und musterte Jacob. Unwillkürlich wich Jacob seinem Blick aus und sah zu Boden. Sollte damit sein Vater gemeint sein? »Immer wieder hat er unbemerkt die Grenze passiert, aber inzwi schen ist es uns gelungen, die Briefe, die er nach Richmond geschickt hat, abzufangen. Unglücklicherweise ist er in ein Komplott verwickelt.« Er machte eine melodramatische Pause, die Jacob ihm verübelt hätte, wäre er nicht so fasziniert gewesen.
»Was denn für ein Komplott, Sir?«, fragte Jacob.
»Ein Mordkomplott. Gegen Präsident Lincoln.«
Gegen Lincoln?
»Das - das ist nicht möglich, Sir«, stammelte Jacob.
»Und warum nicht?«, erkundigte sich der Oberst.
Die drei Offiziere waren offenkundig interessiert - und überzeugt, dass er ihnen etwas zu sagen hatte, das sie noch nicht wussten. Jacob versuchte, sich daran zu erinnern, was sein Vater über Harry und den Zuckerhandel gesagt hatte, aber es fiel ihm nichts ein; dieses Thema hatte ihn seit jeher gelangweilt. Er erinnerte sich lediglich an die Auseinandersetzung zwischen den Gästen am Sedertisch im vergangenen Jahr: wie Otto Strauss immer wieder behauptet hatte, die Abolitionisten hätten recht, die Sklavenfrage sei nicht nur ein moralisches, sondern auch ein wirtschaftliches Problem, kein Geschäft, das auf Sklavenarbeit setze, würde die neuesten industriellen Entwicklungen überleben, und wie Hermann Seligman immer wieder dagegengehalten hatte, vom moralischen Standpunkt her hätte Otto zwar recht, vom wirtschaftlichen her aber unrecht, dass er mit ihm im Prinzip übereinstimme, Otto aber doch zugeben müsse, er propagiere hier eine Revolution, und Revolutionen endeten fast immer in einer Katastrophe, wie die Verhaftung und Verurteilung seines Vetters in einem deutschen Kleinstaat so eindrucksvoll beweise; jeder, der diesen Weg einschlagen wolle, solle sich also frühzeitig überlegen, was er zu tun gedenke, sobald die Welt, so korrupt sie auch immer schon gewesen sein mochte, endgültig untergehe, und nichts an Ottos Argumentation lege nahe, dass er auch nur die geringsten Vorkehrungen getroffen habe - und da fiel Jacob ein, wie sein Vater die zankenden Gäste zur Räson gebracht hatte, indem er darauf hinwies - was er Jacob gegenüber mit enervierender Häu figkeit tat -, dass sie mit oder ohne Krieg dem lieben Gott dankbar sein sollten, schlicht für Amerika, für den erstaunlichen Umstand, dass sie dieses Gespräch überhaupt führen konnten; sie sollten jetzt aufhören zu streiten und hinnehmen, was immer ihnen bevorstand, sie sollten willens sein, alles für dieses Land zu tun, gleich unter welchen Umständen, aus Dankbarkeit für die ungeheuerliche Tatsache, dass sie hier waren, dass sie mit ihren freien Kindern am Sedertisch sitzen durften, ohne dass jemand sie drangsalierte oder demütigte. All das hatte Jacob damals allerdings nicht im Geringsten interessiert. Er war vollauf damit beschäftigt gewesen, Emma Jonas' Blicken auszuweichen. »Mr Hyams ist ... nicht so ein Mensch, Sir«, sagte Jacob schließlich.
Übersetzung: Christiane Buchner und Martina Tichy
© 2009 BV Berlin Verlag GmbH, Berlin
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Autoren-Porträt von Dara Horn
Dara Horn, geb. 1977, promoviert an der Harvard University über hebräische und jiddische Literatur. Für ihren ersten Roman wurde sie vielfach ausgezeichnet. Sie lebt in New York.Christiane Buchner übersetzt englischsprachige Gegenwartsliteratur, u. a. Dara Horn, Gary Shteyngart, Naomi Alderman, und lehrt seit 2000 Literarische Übersetzung.
Bibliographische Angaben
- Autor: Dara Horn
- 2011, 477 Seiten, Maße: 11,8 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Christiane Buchner u. Martina Tichy
- Übersetzer: Christiane Buchner, Martina Tichy
- Verlag: Berlin Verlag Taschenbuch
- ISBN-10: 3833306955
- ISBN-13: 9783833306952
Rezension zu „Vor allen Nächten “
"Ein mitreißender, anrührender und informativer Roman über den amerikanischen Bürgerkrieg - aber auch über den richtigen Zeitpunkt, nein zu sagen."FAZ"Eine feine Mischung aus Spionage-Thriller und historischem Roman."Brigitte
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