Vorgeschriebene Flughöhe
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VorgeschriebeneFlughöhe von Regine Sylvester
LESEPROBE
Es soll Kirschsuppe geben. Wir habendas Bäumchen abgeerntet und sitzen halb nackt im Garten, um die Sauerkirschenzu entkernen. Der Saft spritzt. Unsere Haut ist voller Flecken, die frischensind dunkelrot, die älteren schon blau.
Ich benutzefür das Entkernen einen kleinen Löffel, Magda schaufelt eine vergleichbareKirschkernmenge mit ihren langen roten Fingernägeln in der halben Zeit heraus,und Martin arbeitet mit einem Spezialgerät, das er vor ein paar Tagen auf demWochenmarkt gekauft hat, aber nicht sicher beherrscht. Er kann kaum etwassehen, weil auf seiner Brille rote Spritzer sitzen. Martin ist Historiker, undich denke, dass er mit dem regelmäßigen Erwerb von avantgardistischenSpargelschälern, Flaschenöffnern, Pürierstäben oder Mehrzweckscheren seinen persönlichenAnschluss an die Moderne sucht. Die Geräte funktionieren selten.
Ich kannmeine Freunde besuchen, wann ich will. Ich rufe trotzdem vorher an. In ihremLandhaus gibt es ein Zimmer mit einem Garderobenständer, einem Bett, einemStuhl und einem Tisch für meinen Apple. Ich nehme immer Arbeit mit. Zwarschalte ich den Computer selten ein, aber es gibt mir ein besseres Gewissen,dass ich es jederzeit tun könnte. Mein iBook ist weiß mit giftgrünen Kantenund lauert mit aufgesperrtem Rachen im Raum, wie ein exotischer Fisch, dergerne zuschnappen würde.
Seit meinSohn in Amsterdam studiert, rette ich mich immer öfter aus der Einsamkeit desWochenendes hierher. Unsere Gespräche sind von Belang und trotzdem heiter,unangestrengt. Niemand kann mir wie Martin die Politik erklären. Wir reden überBücher und Filme, und es müssen nicht die sein, die gerade im Feuilleton besprochenwerden.
Wir machennichts Besonderes. Wir spielen mit dem jungen Hund, der sich in unsere Sandalenverbeißt und danach wie toll über das Grundstück jagt. Wir graben den Gartenum. Ich stehe solidarisch mit Martin bei den Handwerkern, die eineNachlässigkeit ausbügeln müssen. Wir kochen, wir besprechen positiv dieEntwicklung eines mickernden Oleanders, wir sehen fern, wir spielen Karten.Meine Freunde kennen mich im Nachthemd und nackt beim Schwimmen im See.
Morgensstehe ich als Erste auf, mit Überwindung, und ziehe Sportsachen an. Ich rennedie abschüssige Straße herunter, renne bis zum See und walke dann einmal umdas Ufer. Das dauert eine knappe Stunde. Mir begegnet kein Mensch, was mirsehr recht ist, denn Walken sieht dumm aus. Aber es ist gesund und schont, imUnterschied zum Jogging, die Gelenke. Das kann man in jederFitness-Zeitschrift nachlesen. Marie deckt mich mit solcher Lektüre ein.
An einerBiegung des Weges, an der kleinen Badestelle mit Grasnarben, bleibe ich immerstehen und halte meine Hand ins Wasser. Im Winter zerbreche ich das dünne Eisvorne am Ufer in kleine Stücke, die ich über den zugefrorenen See rutschenlasse.
Hier wares.
© 2002 Argon Verlag GmbH Berlin
Autoren-Porträt von Regine Sylvester
Regine Sylvester, geboren in Berlin, ist Journalistin undDrehbuchautorin. Seit 1996 Redakteurin bei der 'Berliner Zeitung'. 2000ausgezeichnet mit dem Theodor-Wolff-Preis.
- Autor: Regine Sylvester
- 2004, 252 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596155959
- ISBN-13: 9783596155958
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