Warten auf Schnee in Havanna
Als der elfjährige Carlos Eire 1962 ein Flugzeug besteigt, glaubt er, er kommt ins Paradies. Aus Angst vor Fidel Castro schicken ihn seine Eltern - wie 14.000 andere Kinder auch - von Kuba aus alleine in die USA. Zu spät begreift der Junge, dass sein Flug...
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Als der elfjährige Carlos Eire 1962 ein Flugzeug besteigt, glaubt er, er kommt ins Paradies. Aus Angst vor Fidel Castro schicken ihn seine Eltern - wie 14.000 andere Kinder auch - von Kuba aus alleine in die USA. Zu spät begreift der Junge, dass sein Flug über den Ozean in Wirklichkeit der Auszug aus dem Paradies gewesen ist. Wird er seine Eltern je wiedersehen?
''Ein wunderschöner Erinnerungsroman, voll skurriler Beobachtungen und leiser Melancholie.''
Für Sie
"Tief bewegend und wundersch n." - The New Yorker
"Ein wundersch ner Erinnerungsroman, voll skurriler Beobachtungen und leiser Melancholie." - F r Sie
"Eine wundersch ne Geschichte. Eires Erinnerungen lesen sich wie ein gro er Roman. Absolut au ergew hnlich." - Publishers Weekly
Warten auf den Schnee in Havanna vonCarlos Eire
LESEPROBE
Uno
Während ich schlief, veränderte sich die Welt. Zu meiner großen Überraschunghatte mich niemand um Rat gefragt. Von jenem Tag an sollte es immer so sein.Natürlich war das auch vorher nicht anders gewesen. Bis zu jenem Morgen wussteich es nur nicht. Überraschung auf Überraschung: mal eine gute, mal eineschlechte, meistens irgendwo dazwischen. Und immer ohne meine Zustimmung. Ichwar gerade acht und träumte wohl schon seit Stunden kindische Sachen. WasKinder eben so träumen. Mein Vater, der sich lebhaft an sein früheres Leben alsKönig Ludwig XVI.von Frankreich erinnerte, träumte wahrscheinlich von Kostümbällen, pöbelndenMassen und Guillotinen. Meine Mutter, die keine Erinnerung an ihr Leben alsMarie Antoinette hatte, konnte deshalb an seinen Träumen nicht teilhaben.Vielleicht träumte sie von Hibiskusblüten oder feiner Seide. Vielleicht träumtesie - wozu sie auch mich stets ermunterte - von Engeln. »Sueña con losangelitos«, sagte sie immer. Träume von kleinen Engeln. Die Engel warenklein, was bedeutete, dass sie viel zu schnuckelig waren, um gefallene Engel zusein. Teufel können nie schnuckelig sein. Wie immer stachen die Strahlen dertropischen Sonne messerscharf durch die Schlitze der hölzernen Fensterläden.Die schmalen Lichtfinger krochen über mein Bett und brachten ganze Galaxien vonwirbelnden Staubkörnchen zum Vorschein. Verzückt betrachtete ich den Staub wieimmer. Ich kann mich nicht erinnern, aufgestanden zu sein. Allerdings erinnereich mich, dass ich ins Schlafzimmer meiner Eltern ging. Die Fensterläden standenoffen und das Zimmer lag im strahlenden Morgenlicht. Wie immer zog mein Vaterdie Hose über die Schuhe. Er zog immer zuerst Socken und Schuhe an und dann dieHose. Jahrelang habe ich versucht, ihm dieses fast magische Kunststücknachzumachen - mit geringem Erfolg. Die Hosenaufschläge blieben stets an denSchuhen hängen. Ich konnte zerren, so viel ich wollte, sie blieben hängen. Mehrals einmal riskierte ich die ewige Verdammnis und stieß üble Flüche aus. Ichhatte keine Ahnung, dass man seine Hose durchaus über alles stülpen kann, sogarüber Schneeschuhe, sie muss nur genügend ausgebeult sein. Damals wusste ichbloß eins: Ich konnte nicht wie mein Vater sein. Während Ludwig XVI. mühelos die ausgebeulte Hose über diebraunen Budapester zog, verkündete er mir die Neuigkeit: »Batista istabgehauen. Er ist heute Morgen aus Havanna geflohen. Sieht so aus, als hättendie Rebellen gewonnen.« Ich sagte: »Du lügst.« »Nein, es stimmt. Ich schwöre«,sagte er. Marie Antoinette, meine Mutter, legte gerade Lippenstift auf undversicherte mir, dass es stimmte. Sie saß an ihrem Schminktisch, einemwunderschönen Möbelstück aus Mahagoni, das über drei Spiegel verfügte. Einerhing vor ihr an der Wand, links und rechts waren die beiden andern mitScharnieren dran befestigt, sodass man sie nach Belieben verstellen konnte. Ichstellte die Seitenspiegel immer so, dass sie sich genau gegenüberstanden undunendlich viele Abbildungen ihrer selbst schufen. Manchmal schaute ich hineinund versank in der Unendlichkeit. »Du bleibst heute besser im Haus«, sagtemeine Mutter. »Gott weiß, was alles passieren kann. Du steckst nicht mal den Kopfaus der Tür, verstanden?« Vielleicht hatte sie ja auch von Guillotinengeträumt. Oder es war lediglich ein mitfühlender mütterlicher Rat. Vielleichtwusste sie ja, dass es den Köpfen der oberen Schichten auf der Straßegewöhnlich nicht gut erging, wenn Revolutionen triumphierten - selbst wenn die Köpfenur Kindern gehörten. Es war der 1. Januar 1959. Am Vorabend waren wir alle beieiner Hochzeit gewesen, in einer Kirche im Herzen der Altstadt von Havanna. Aufdem Heimweg hatten wir die Straßen ganz für uns. Nicht ein einziges anderesAuto war unterwegs. Nicht eine Seele auf dem Malecón, der breiten Prachtstraße,die am Wasser entlangführte. Nicht mal eine einsame Prostituierte. Pausenlossprachen Ludwig XVI.und Marie Antoinette davon, wie unheimlich leer die Stadt sei. Havanna war vielzu ruhig für eine Silvesternacht. Ich kann mich nicht erinnern, was meinälterer Bruder Tony am andern Morgen oder während des ganzen Tages machte. Vielleichtumwickelte er Eidechsen mit dünnem Kupferdraht und klemmte ihn dann an denTrafo unserer Modelleisenbahn. Er hatte seinen Spaß, ihnen per Stromstoß denRest zu geben. Und wie. Sein Lieblingssatz lautete: »Schocktherapie, jawoll! Daswird ihnen schon ihren Eidechsenirrglauben austreiben.« Daran, was meinadoptierter Bruder Ernesto machte, will ich mich gar nicht erinnern.Wahrscheinlich etwas viel Grässlicheres, als Eidechsen per Stromstoß den Restzu geben. Mein älterer Bruder und mein adoptierter Bruder waren in einemfrüheren Leben Bourbonenprinzen gewesen. Mein adoptierter Bruder war derDauphin gewesen, der französische Thronfolger. Mein Vater hatte ihn eines Tagesauf der Straße, wo er Lotterielose verkaufte, wiedererkannt und auf der Stelle mitnach Hause genommen. Ich war der Außenseiter. Ich war der Einzige, der früherkein Bourbone gewesen war. Wer ich gewesen war, wollte mein Vater mir nichtsagen. »Du bist noch nicht so weit«, sagte er. »Aber du warst etwas ganzBesonderes. « Lucía, die Schwester meines Vaters, blieb an jenem Tag so unsichtbarwie immer. Sie lebte bei uns im Haus und war auch eine Bourbonenprinzessingewesen. Doch jetzt, in diesem Leben, war sie eine alte Jungfer: eineMüßiggängerin mit jeder Menge Zeit und ohne Freund oder Freundin. Man hatte sieso vollständig abgeschirmt von der korrupten Kultur Kubas und den Avancen derjungen Männer, die von dieser Kultur durchdrungen waren, dass sie - hoch undtrocken - auf der einsamen Insel unseres Hauses gestrandet war. Unserer Inselauf der Insel. Unserem sicheren Zufluchtshafen, der uns vor niederem Geschmackund unziemlichen Taten - wie dem Tanzen zu Trommeln - schützte. Ihr ganzesLeben als erwachsene Frau hatte sie in Gesellschaft ihrer Mutter und ihrerunverheirateten Tante verbracht, die - wie sie selbst - eine Jungfrau ohneGelübde geblieben war. Nachdem ihre Mutter und ihre Tante gestorben waren,hatte sie sich in ein Zimmer im hinteren Teil des Hauses zurückgezogen, das siefast nie verließ. Ob sie irgendwelche Sehnsüchte hatte, werde ich nie erfahren.Sie schien keine zu haben. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie sich an jenemTag, als Batista aus dem Amt gejagt wurde und Fidel Castro und seine Rebellentriumphierten, irgendwie geäußert hätte. Aber ein paar Tage später sagte sie,diese Männer, die aus den Bergen heruntergekommen waren, hätten einenHaarschnitt und eine Rasur nötig. Unser Hausmädchen arbeitete an jenem Tag sowie immer. Sie hieß Inocencia, und das Schwarz ihrer Haut spielte leicht ins Purpurrote.Sie kochte, machte das Haus sauber und kümmerte sich um die Schmutzwäsche. Siewar immer da. Sie schien keine Familie zu haben. Sie wohnte in einem Zimmer,das man ohne Verbindungstür an den hinteren Teil des Hauses angebaut hatte. Umins Haus zu gelangen, musste sie ihr kleines Zimmer verlassen, ein paar Meterdurch den Innenhof und dann durch die Hintertür in die Küche gehen. Sie hatteein eigenes kleines Bad, das ich manchmal benutzte, wenn ich draußen spielte. Einmal,lange vor jenem Tag, als sich die Welt veränderte, öffnete ich die Tür zudiesem Bad und sah Inocencia. Sie war nackt. Ich erinnere mich noch, dass siekreischte und ich wie erstarrt stehen blieb. Stocksteif stand ich da, ein Kindvon vier Jahren, und starrte das Gebirge ihrer afrikanischen Brüste an. Einpaar Tage später, als ich mit meiner Mutter auf dem Markt war, zeigte ich aufein Gestell voller Auberginen und rief: »¡Tetas de negra!« SchwarzeTitten! Marie Antoinette hielt mir den Mund zu und zog mich schnell weg,während die Händler lachten und obszöne Bemerkungen machten. Ich konnte nichtverstehen, was ich falsch gemacht hatte. Die Auberginen sahen genauso aus wieInocencias Brüste, bis hin zu der Tatsache, dass beide Höfe und Nippel hatten.Nur dass die von Inocencia bläulich schwarz und die der Auberginen grün waren.Später in meinem Leben suchte ich nach Beweisen dafür, dass es einen Gott gab.Jene Ähnlichkeit war für mich der erste, dass es ihn gab. Seit jenem Tagerinnerten mich Auberginen immer an unsere Nacktheit und Scham. Ein paar Monatenach jenem Neujahrstag kündigte Inocencia. Sie wurde ersetzt durch eine dünne,drahtige Frau namens Caridad, das spanische Wort für Nächstenliebe. Sie wareine zornige Frau und eine Diebin, die meine Eltern schließlich feuerten. Sieliebte Fidel. Und sie hörte den ganzen Tag in der Küche Radio. Das war dereinzige Ort, an dem ich kubanische Musik zu hören bekam. Mein Vater, ehedemLudwig XVI.,gestattete im Hauptteil des Hauses ausschließlich klassische Musik. Er hatteeinige der Komponisten, deren Musik er spielte, noch persönlich kennen gelerntund verging in der Erinnerung an jene Konzerte in Versailles. Kubanische Musikwar nur in der Küche und im Zimmer des Hausmädchens erlaubt. Wenn meine Elternnicht in der Nähe waren, machte sich Caridad einen Spaß daraus, mich zutriezen. »Bald wirst du das alles hier nicht mehr haben.« - »Bald wischst dubei mir den Fußboden auf.« - »Bald werden wir uns unten in euerm feinen Strandclubtreffen, und dann machst du die Mülleimer sauber und ich schwimme.« Mitgefährlichem Grinsen drohte sie mir, mich mit einem Fluch zu belegen, wenn ichmeinen Eltern etwas davon erzählte. »Ich kenne jeden Fluch. Changó hat immerein Ohr für mich. Ich gebe ihm die besten Zigarren und jede Menge Feuerwasser. Ichwerde dich und deine ganze Familie verhexen. Chan- gó und ich hetzen dir eineganze Armee von Teufeln auf den Hals.« (...)
© Heyne Verlag
Übersetzung: Wolfgang Müller
1979 machte Eire seinen Doktor in Philosophie in Yale und lehrte anschließend siebzehn Jahre an der University of Minnesota und der University of Virginia. Seit 1997 hat er den Lehrstuhl für Geschichte und Religionswissenschaften an der Yale University inne. Er lebt mit seiner Frau Jane und seinen drei Kindern in Guilford, Connecticut. "Warten auf Schnee in Havanna" ist sein erstes Buch ohne Fußnoten.
- Autor: Carlos Eire
- 2005, 522 Seiten, Maße: 12 x 18,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Müller, Wolfgang
- Übersetzer: Wolfgang Müller
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453400968
- ISBN-13: 9783453400962
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