Warum ändert sich alles?
Was meint die Rede vom Fortschritt wirklich? Besteht die Welt, wie Wittgenstein behauptet, nur aus dem, was der Fall ist? Was sollen unsere Kinder lernen? Und wie überlebt man die Wissenschaftsbürokratie? Reinhard Brandt protokolliert den Weltenlauf:...
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Produktinformationen zu „Warum ändert sich alles? “
Was meint die Rede vom Fortschritt wirklich? Besteht die Welt, wie Wittgenstein behauptet, nur aus dem, was der Fall ist? Was sollen unsere Kinder lernen? Und wie überlebt man die Wissenschaftsbürokratie? Reinhard Brandt protokolliert den Weltenlauf: Pointiert hält er fest, was ihm der Alltag zu denken gibt. Wer sich auf seine Notizen einlässt, erkennt in ihnen kunstvoll gebaute Denkstücke, die zum Prüfen und Zweifeln animieren. Nicht anders mag die Philosophie entstanden sein, die sich hier noch ganz schlicht und unschuldig gibt.
Lese-Probe zu „Warum ändert sich alles? “
Warum ändert sich alles? von Reinhard Brandt Nein
[...], daß sich der Fall so abgespielt hat, daß Gott allabendlich
die Tiere und die Menschen fragte, ob sie alle da seien.
Darauf antwortete man nicht, sondern lächelte Gott dem
Herrn und den anderen einfach zu, reichte ihnen, soweit
möglich, auch die Hände. Eines Abends jedoch blickte Eva
einzig Adam an, und Adam erwiderte ihren Blick, und er
sagte auf Gottes alltägliche Frage: »Nein«. Die Vierbeiner
stoben vor Schrecken in ihre Höhlen und die Elstern in ihre
Nester, Gott aber erbebte vor Zorn. Er beendete sogleich das
Da-Sein der Menschen und warf sie hinaus, und er schlug
die Tür des Paradieses zu, und das Universum wankte. Adam
pochte tränenüberströmt ans Tor, Eva aber rührte ihn leicht
am Arm und sagte: »Es gibt jetzt viel zu bedenken und zu tun,
mein Lieber, laß uns gehen.«
Kinder
Kein kleines Kind kann sich über etwas wundern; denn um
sich wundern zu können, bedarf es der Erfahrung und des
Vergleichs. Der Erwachsene wundert sich gehörig, wenn der
Papst leicht gebückt aus dem Fernsehapparat steigt und plötzlich
im Zimmer steht, wenn ein Kaninchen im Park zu sich
selbst in fließendem Englisch sagt »Oh dear! Oh dear! I shall
be too late!« - für die Kinder dagegen ist es so normal wie
die Schokolade beim Bäcker oder die Ankunft der Straßenbahn,
warum auch nicht. Später staunen sie über den Rauch
von brennendem Holz und über das kuriose Phänomen,
daß die Milch im Unterschied zur Coca-Cola von lebendigen
Kühen stammt.
Clownerie
... mehr
Das Lachen hat seine Entwicklungsgeschichte. Das rudimentäre
Lächeln des Säuglings als Reflex des Lächelns im Gegengesicht
steht am Beginn, ein animalisch-humaner Reflex, der
uns von den übrigen Tieren trennt und in die Einbahnstraße
des animal ridens führt. Dann tritt das zweite glucksende,
kichernde, alberne Lachen hinzu, das schon äußerlich klar
von dem ersten zu unterscheiden ist und sich vom reflexhaften
Zulächeln emanzipiert hat. Und dann folgt die Palette
des gequälten, zu lauten, neidischen und überlegenen, zurückgebliebenen
und irren und bellenden Lachens, des zu
freundlichen Lachens bei erwiesener Inkompetenz, des heiteren
und endlich befreiten Lachens.
Gibt es zu jedem Lachen ein korrespondierendes Weinen
und Jammern und verzweifeltes Schluchzen, das sich am
Ende von der Erschütterung im Lachen kaum unterscheidet?
Spiegelt sich das Weinen im Lachen?
Warum lachen Kinder, wenn der Clown kommt? Sie lachen,
bevor sie urteilen und reden können. Sie müssen
den Clou begreifen, der in den Clownskünsten liegt und der
ohne die Negation nicht möglich ist. Der Clown negiert in
seinem Körper, seiner Kleidung, seinen Gesten, seinem gekonnten
Nichtkönnen die Erwachsenen; ohne die Kenntnis
dieser karikierenden Verneinung gibt es beim Clown nichts
zu lachen. Im Zirkus werden die Großen und Erwachsenen
exekutiert; ihr Sein, das sie den Kindern zeigen, löst sich auf
in bloßen, angestrengten Schein - wie können Kinder das
begreifen und sich darüber freuen? Freiheit und Gleichheit:
Der Clown zeigt, daß alle gleich sind, die Hochgewachsenen
und die Zwerge. Es ist eine geradezu artistische Kopfleistung,
die das Kinderpublikum fast in den Rang des Clowns selber
hebt. Die Kinderköpfe beherrschen eine mehrstellige Relation:
Sie lachen über den Clown und lachen dabei die Großen
aus, ihr eigentliches Opfer, dem sie unterlegen sind.
Zur Kulturgeschichte des Lächelns und Lachens gehören
die griechischen kouroi, die Jünglinge, die siegesgewiß und
verhalten lächeln, nicht zu uns, sondern aus sich, aus ihrer
Kraft. Wenn es von Sokrates heißt, er habe in der Todesnacht
heiter gelächelt, dann ist es ein Inneres und ein Hin zu denen,
die bei ihm waren. Die homerischen Götter lachen laut
bei ihren olympischen Festen, und sie weinen. Hat Buddha
geweint? Christus dagegen hat nach den Dokumenten nicht
gelacht; lachte sein Nacheiferer Nietzsche? An Kants Mittagstafel
wurde gelacht, auch in seiner Anthropologie-Vorlesung.
Das Lachen hat sich im 20. Jahrhundert als marktfähig
erwiesen; kein erfolgreicher Mensch, der nicht ein uniformiert-
glaziales Lachen zeigt mit freigelegten Zähnen, sie alle
lachen. Wenn das Lachen der Alten laut wird, soll jemand
verscheucht werden, der schon mitlacht, es ist etwas zu laut,
zu leutselig, zu frei; es paßt nicht mehr, aber verstummt auch
morgen.
Mein
»Es ist aber merkwürdig«, schreibt Kant, »daß das Kind, was
schon ziemlich fertig sprechen kann, doch ziemlich spät
(vielleicht wohl ein Jahr nachher) allererst anfängt, durch
Ich zu reden, so lange aber von sich in der dritten Person
sprach (Karl will essen, gehen u.s.w.), und daß ihm gleichsam
ein Licht aufgegangen zu sein scheint, wenn es den Anfang
macht durch Ich zu sprechen: von welchem Tage an
es niemals mehr in jene Sprechart zurückkehrt. - Vorher
fühlte es bloß sich selbst, jetzt denkt es sich selbst.« Zwischen
den beiden Phasen gibt es eine Epoche, die zwischen dem
Fühlen und Denken vermittelt: Das Kind sagt viel früher
»mein« als »ich«, wenigstens in den Sprachen, die über diese
beiden Begriffe oder Wörter verfügen. »Das ist mein!« gegen
alle Prätendenten dieser Welt. »Ich« wäre also der Endpunkt
in dem Dreischritt eines animalischen Selbstgefühls, einer
Besitzanzeige und eines ultimativen »Ich, ich selbst«.
»Guck mal«, »guarda«, »mira« usw. usf.
Im Sommerbad, auf der Straße, im Kindergarten und in
jedem Kinderzimmer: Ohne den Blick und Zuruf der anderen
wächst kein Kind in sich selbst und die Gesellschaft
hinein, sondern wird verdunkelt ins Abseits gestellt. Sieh dir
das nur an! Toll! Aus dem »Guck mal« werden später die Malerei,
die Plastik, die Mode und die Architektur, der Fußball,
die Olympischen Spiele, das ganze Konzert der Geistes- und
Körperkultur, Einsteins Physik und Bentleys Platonausgabe,
die Einfälle zur Verkürzung des Fließbands und die spektakulären
Überfälle auf andere Länder: »Vater, guck mal!
Was ich, ich gemacht habe! Die Mission ist beendet! Guck
doch bitte, bitte!« ruft noch der fünfzigjährige Kindskopf.
Im »Guck mal« des Kinderzimmers beginnen Glück und Unglück
der Lebensbahn: Da guckt wirklich jemand und muntert
auf: »Super!« Oder es ist niemand da, ein Aus für die
Psyche und den Körper. Und dann kurz darauf der Vergleich,
mit dem nach Rousseau die Menschheit beginnt: »Guck
mal«, und alle sehen hin, oder: woandershin, durch mich
durch.
Kinderseelen
Kinder tollen mit der Wahrheit und Falschheit nach Lust
und Laune und begreifen nicht, warum einige Erwachsene
gerade auf die feinsten und schwierigsten Lügen so übel reagieren.
Viele oder sehr viele oder alle Menschen erhalten ihr
kindliches Gemüt und jonglieren kunstvoll zwischen Lug
und Betrug und dem Bonus der Ehrlichkeit hierhin und
dorthin, Opfer und Täter in den eigenen mentalen Kulissen
und Spiegeln. Das falsche Lächeln war ehrlich gemeint, der
Zuspruch hinein in den Abgrund war klarer Betrug, aber in
der kindlichen Optik des Falschen nichts anderes als ein
Scherz. Wir gewöhnen uns daran, daß der Mond kleiner sein
soll als die Sonne, obwohl ihre Scheiben haargenau gleich
groß sind; wir lernen seit der Antike, daß unsere Erde sich
künstlich um sich selbst dreht, und nach einiger Übung begreifen
wir, daß wir in zwei ineinander verstrickten Welten
leben: der momenthaften mit ihren überzeugenden Einbildungen
und der Ordnungswelt von Wissenschaft und Recht
und Moral.
Leuchtendes Licht und Donnergepolter
Für Oskar Negt
Homer, Odyssee XI 593-600 (Odysseus ist in der Unterwelt)
Auch den Sisyphos sah ich, von schrecklicher Mühe gefoltert,
Einen schweren Marmor mit großer Gewalt fortheben.
Angestemmt, arbeitet' er stark mit Händen und Füßen,
Ihn von der Au aufwälzend zum Berge. Doch glaubt' er ihn
jetzo
Auf den Gipfel zu drehn, da mit einmal stürzte die Last um;
Hurtig mit Donnergepolter entrollte der tückische Marmor.
Und von vorn arbeitet' er, angestemmt, daß der Angstschweiß
Seinen Gliedern entfloß und Staub sein Antlitz umwölkte.
Warum lesen nicht alle Schüler diese Verse? Wer hätte keinen
Spaß an diesem »Hurtig mit Donnergepolter«? Oder
Nausikaa, die zum Waschen an den Strand fährt und Odysseus
trifft, oder Polyphem oder ... Wie verbiestert müssen
europäische Schulen sein, daß sie den Jugendlichen diese
Verse vorenthalten? Oder später Pindar:
Eintagswesen! Was ist einer denn, was ist einer nicht?
Eines Schatten Traum ist der Mensch. Doch kommt ein
gottgegebener Glanz,
Liegt auf ihm leuchtendes Licht und gibt ihm ein frohes
Dasein.
Ironie
Sokrates, der Menschenbildner, hatte zwei Eigentümlichkeiten,
die wichtige Merkpunkte für jede Erziehung sein sollten:
Er lachte oder lächelte, und er war ironisch. Beides faszinierte
die Hörer. Beißende Ironie kann fehlplaziert und
tödlich sein; was ist die hirnstimulierende, dem Lachen nahe,
freundliche Ironie?
Daß man etwas anderes sagt, als man meint, ist es noch
nicht, denn das tun auch die Lügner und ein Pulk von anderen
ironielosen Leuten: Alle, die zu müde sind, um ihre Meinung
korrekt auszudrücken, die unzähligen Zerstreuten und
dann die Heerschar von Sprechern, die mit der Sprache einfach
nicht zurechtkommen. Vielleicht: Daß man sehr wohl
denkt, was man sagt, aber es dennoch nicht meint? Der Advokat
sagt, was er denkt, um den Prozeß zu gewinnen, aber er
meint nicht, was er denkt und sagt, weil er wie alle anderen
überzeugt ist, daß sein Mandant der Mörder ist, ohne Ironie.
Worin also liegt der bejahend-verneinende Winkelzug der
Ironie? Vielleicht so: Wer ironisch spricht, sagt etwas und gibt
etwas anderes zu verstehen. Das ist richtig, aber noch zu weit,
denn auch James Bond sagt, er wolle von Venedig nach Hongkong
fliegen, gibt aber mit diesen Worten zu verstehen, daß
er den Abend zu zweit in einer Gondel verbringen möchte.
Besser wäre: Wer ironisch spricht, sagt etwas und gibt das Gegenteil
zu erkennen. Die Hörer oder Leser benötigen nur die
Fähigkeit, dasjenige ins mitgedachte Gegenteil zu verkehren,
was direkt gesagt wird. Die Anweisung dazu liegt in einem verschmitzten
Lächeln der Prosa oder Poesie. Auch das reicht
freilich noch nicht, denn der Ironiker möchte, daß man seine
direkte Rede schwebend im Modus des »vielleicht doch« versteht.
Was durch sein Gegenteil beleuchtet wird, ist von diesem
insgeheim vielleicht auch eingenommen. Ein parakonsistentes
Ja und Nein; nachweisbar ist meist weder das eine
noch das andere, manchmal beides, ein Spiel und ernst gemeinter
Scherz.
Wann beginnen Kinder, die Ironie in der Rede ihrer in-
telligenten Eltern zu begreifen? Wann reden sie selbst im
Modus der Ironie?
Was ist Bildung?
Bei der Beantwortung müssen wir durch zwei Extreme hindurchsteuern.
Die eine Auffassung bestimmt die Bildung aus
der Selbstrealisierung des Menschen, aus dem Binnenraum
seiner Natur, die andere beantwortet die Frage von außen: Bildung
besteht im Besitz von Kompetenzen, die morgen verlangt
werden. Die erste Antwort läuft Gefahr, nach dem zeitlosen
Wesen des Menschen zu suchen und in eine abseitige
Innerlichkeit zu geraten, die zweite folgt der Außensteuerung
durch den Markt und macht die Bildung zu einer Installation
von Fähigkeiten, die vermutlich von der Industrie- und Informationsgesellschaft
verlangt werden, Krippenplätze nur mit
Computer.
Zwischen beidem liegt ungefähr folgende Antwort: Bildung
ist die Fähigkeit, als selbstbewußte/r Weltbürger/in
in der jeweiligen Zivilgesellschaft zu leben. Dazu bedarf es
bestimmter Grundkenntnisse, über die alle verfügen müssen,
und zugleich der Eigenentwicklung, die das jeweilige Individuum
charakterisiert. Zum letzten gehört, daß man Genie
und Versager sein kann und daß beides einbezogen wird in
das Mitspielen in der Gesellschaft, so daß der Versager in seiner
Rolle der King ist, ein allseits geachteter Depp.
Kein Mensch hat seine Erzeuger um seine Geburt gebeten.
Wenn er in das Leben hinübergezogen wird und diesen Akt
hinterher mit großem Geschrei kommentiert, dann liegt im
Protest die Aufforderung an die Schuldigen, ihn gefälligst
physisch und geistig gut zu versorgen und nach bestem Wissen
und Vermögen zu einem gesunden, fähigen, sittlichen
Weltbürger zu machen. Bildung ist in diesem Sinn ein globales
Naturrecht, das allen positiven Gesetzgebungen zuvorliegt.
Die Adressaten dieses Rechts sind erstens die Eltern,
wenn sie denn vorhanden sind, und zweitens die Menschen-
gesellschaft, die von den Staaten vertreten wird. Der Staat
zwingt die Neugeborenen nach einer kurzen Säuglings-Atempause
hinein in die Schule, Schulpflicht ist Rechtspflicht; die
Schule formt die Schüler dazu, möglichst selbständige Bürger
zu werden, mit Überspringern und Sitzenbleibern, beide haben
das Recht, zu aktiven Gliedern der Gesellschaft geformt
zu werden
Gebildet
Hört man in das Wort hinein, entdeckt man Folgendes: Wir
bestehen aus vier Teilen, dem Erkennen, Fühlen und Wollen,
und das alles zusammengefaßt in einem Körper. Das ist
schon die Meinung Homers. Die Abfolge: Zuerst erkennt
man etwas, das Erkannte erregt zweitens Lust oder Unlust,
Attraktion oder Repulsion, und darauf folgt drittens der
Wille zur entsprechenden körperlichen Handlung. Der gebildete
Mensch, so folgern wir, hat aus diesen natürlichen
Teilen etwas Zusammenstimmendes gemacht, wozu es freilich
der Glücksumstände bedarf, deswegen die Bitte um die
Einhilfe der Götter. Die Natur ist für die Bildung nicht zuständig;
schon die Haustiere wie Hunde und Pferde benötigen
eine gute Dressur, um mit sich und den Menschen und
der Umwelt zurechtzukommen, um so mehr die Menschen
selbst: Ein gutes zeitgemäßes Erkenntnistraining, eine musische
Formung der Gefühle, die Erziehung zum vernünftigen
Umgang mit den eigenen Entschlüssen und für den Körper
Handstand und Rolle vorwärts und rückwärts.
Gedächtnis I
Auch das menschliche Gedächtnis hat seine Geschichte;
etwas auswendig zu können bedeutete vor 200 Jahren etwas
anderes als heute. Vor 1789 stand neben Lesen und Rechnen
das Memorieren im Mittelpunkt der Elementarerziehung,
später lernte man Predigten, Vorlesungen und vor allem klassische
Texte möglichst im Wortlaut; Dissertationen sollten
nichts Neues enthalten. Zu Platons Zeiten konnten gebildete
Griechen die Ilias und Odyssee auswendig, und zu öffentlichen
Rezitationen kamen Tausende zusammen. Die Formierung
des Menschen durch sein Gedächtnis, die Initiation durch
die geistige Einverleibung des tradierten Wissens gehört einer
Vergangenheit an, auf die wir nur noch museal und historistisch
verweisen, für unsere eigene Bildung und ihre Anstalten
ist sie ohne Relevanz, es sei denn, man belebt sie in
einer aktualisierten Form.
»Arché« heißt Anfang und Herrschaft; Herrschaft datierte
sich ursprünglich an den Anfang zurück und legitimierte
sich durch die Vorvorväter; die Mythen zeigen, daß jedes erfolgreiche
Herrschaftshaus am Anfang göttlichen Ursprungs
und deswegen zur Herrschaft berechtigt ist. Auch alles Gute
und Wahre geht auf den Anfang zurück, das Böse und die
Lüge werden als abtrünnig gebrandmarkt und verfolgt. Die
Erinnerung an die vergangenen Taten und Leiden der Geschlechter
ist also notwendig, um das Herrscherprivileg der
feudalen Häuser zu stützen. Selbst revolutionäre Bewegungen
wollen nur restituieren, was am Anfang war. »Als Adam
grub und Eva spann, wo war denn da der Edelmann?« Luther
protestiert gegen die römische Kirche, weil sie von den christlichen
Anfängen abgefallen ist. Die Freiheitsbewegungen des
17. und 18. Jahrhunderts sind verbunden mit der Erstürmung
der Rathäuser und Stadtarchive, in denen die anfängliche Gesellschaftsform
dokumentiert ist, es ist nicht die Freiheit als
solche, die gefordert wird, sondern »the old liberties«. Aus
der Vergangenheit leiten sich nicht nur Herrschaft und Freiheit
ab, sondern die Identität des Gemeinwesens und seiner
Bürger. Die pathologischen Deformationen der IRA und der
ETA zeigen noch die Macht dieser Identitätsbildungen.
Es ist günstig, die Zeitenwende von der Vergangenheit fort
in die Gegenwart und Zukunft symbolisch in das Jahr 1789
zu legen; in ihm faßt sich die politische und die gedankliche
Revolution der europäischen Aufklärung zusammen. Wenn
Kant die Kritik der reinen Vernunft von 1781 als einen Gerichtshof
darstellt, vor dem sich Thron und Altar zu rechtfertigen
haben, dann erklärt er die Berufung auf ererbte Herrschaft
der Kirche und des Adels für obsolet; die Rechtsansprüche
müssen sich republikanisch legitimieren, oder sie sind verfallen.
Das politische Ergebnis dieser Zeitenwende ist die Demokratie,
in der die Herrschaft aufgehoben ist in der Selbstherrschaft
der Beherrschten und in der die selbst gewählte
Regierung sich nicht in der Vergangenheit bewährt, sondern
in der Problemlösung der Gegenwart. Wer die Probleme
nicht lösen kann, wird abgewählt und ersetzt. Was zählt, ist
die Fähigkeit für die Zukunft, nicht das Andenken an den Anfang.
Die Einwanderungsbehörden der USA tilgten das bürgerliche
Gedächtnis der Ankömmlinge: Jeder Adelstitel wurde
ausgeschwärzt; der Bürger betrat die Neue Welt ohne den
Ballast ungleicher Erinnerungen. Seit 1789 ist die Weltauffassung
präsentistisch; was eine Person nicht im Moment zu
leisten fähig ist, kann vergessen werden, es zählen nur die
Gegenwart und die Zukunft, daneben gibt es einige Erinnerungsstätten
und Museen für die Freizeit. Auch: »Seit die
Dampfmaschine Herrin der Welt ist, ist jeder Titel eine Absurdität
« (Stendhal). »I like the dreams of future better than
the history of the past« (Thomas Jefferson). »Out with the
old, in with the new.«
Der globale Markt eliminiert aus seinen Angeboten die
Erinnerung und setzt auf den unmittelbaren Verzehr. Die
Produktionsstätten können weltweit in Billigländer verlagert
werden, lokale Traditionen haben allenfalls einen dekorativen
Wert. Das Know-how entstammt keiner Handwerkertradition,
sondern wird dem letzten Computerprogramm
entnommen, das in nichts an seine anonymen Entwickler erinnert.
Kurz: Das Erinnern, das Aus- und Inwendiglernen, ist
aus den Bildungsanstalten radikal eliminiert worden, weil
Politik und Ökonomie ohne Erinnerung operieren. Wer für
die Aktivierung des Gedächtnisses plädiert, muß sich diese
Ausgangsposition vergegenwärtigen. Im Elementarbereich
sind die gemeinsam auswendig gelernten Gedichte (gute
Gedichte, nicht die Tagesproduktion, die morgen vergessen
wird) von größtem Bildungswert für das Individuum und die
Lerngruppe; den Schülern wird die Chance gegeben, sich
vor der Klasse darzustellen und mimisch und rhetorisch das
Gelernte zu präsentieren. In den weiteren Bildungsgängen
ist das Auswendigkönnen immer noch ein unentbehrliches
Mittel, Kulturtraditionen zu erhalten und neu zu erfinden.
Alle Kultur ist imprägniert von ihrer Vergangenheit, die mitgehört,
mitgesehen, mitgedacht werden muß, um sie beurteilen
zu können.
Inhalt
Die europäischen Bildungsanstalten waren zwei Komponenten
der Kultur verpflichtet und leiteten aus ihnen die verbindlichen
Inhalte ab, dem Christentum und der Antike. Die
Kenntnis der beiden Ursprünge war obligatorisch für alle, sei
sie rudimentär durch den Elementarunterricht oder ausgefeilt
und genau. Bis in das 18. Jahrhundert wurden Vorlesungen
und Prüfungen und alle akademischen Dissertationen
auf lateinisch verfaßt; der christliche Glaube mit seiner Orientierung
in den beiden Testamenten war die selbstverständliche
Voraussetzung für jede öffentliche Tätigkeit, kein Jude
oder gar Heide konnte vor der Mitte des 19. Jahrhunderts
Professor an einer Universität oder Minister werden. Aus bei-
dem folgte ein unbezweifelter Kanon von Inhalten, die auswendig
gelernt wurden und Faktum und Norm waren, von Sevilla
bis Riga und Oslo bis Palermo. Ein Kanon beansprucht,
unveränderlich zu gelten, manchmal mit der besonderen
Note, im genauen Wortlaut keine Änderung zu dulden. Daher
darf der Priester bei der Lesung der Heiligen Schrift
nicht seinem liquiden Gedächtnis trauen und den Text auswendig
vortragen, sondern das Lesen Wort für Wort ist verbindlich.
Das Lateinische und Griechische waren tote Sprachen
und teilten so die Unveränderbarkeit der Texte. Wo
auch immer Cicero gelesen wurde, es war idealiter derselbe
stabile Text. Die Neuformationen in Politik und Glauben begriffen
sich grundsätzlich als Rückkehr zu den eigentlichen
Ursprüngen.
Mit der Zeitenwende von 1789 sind diese Konsense aufgekündigt,
die Vergangenheit ist jetzt tatsächlich vergangen
und kann unverbindlich in attraktiven Museen und Ausstellungen
konserviert werden. Die Exponate werden nach anderen
Gesichtspunkten gewählt als dem ihrer ursprünglichen
Mächtigkeit, sie sollen den Betrachter informieren und erfreuen.
Der Ort ist beliebig, die Zusammenstellung auf den
Besucher bezogen. Die Differenz von unverrückbarer Vergangenheit
in einem festen Ritual einerseits und ihrer beliebigen
Ausstellung andererseits ähnelt der Differenz von Feiertag
und Ferien. Die Feiertage werden durch die allgemeine
Kultur verbindlich für alle festgelegt, die Ferien können nach
subjektiven Bedürfnissen auf der Zeitschiene so verteilt werden,
daß ein sozialverträgliches Gleichgewicht von Arbeit
und Nichtarbeit entsteht. Die Feiertage werden zu Ferien gemacht,
weil ihre Herkunft vergessen ist und jeder tun und
lassen kann, was er will. Im Angebot: Weihnachten in der Karibik
oder in Bahrein; Ostern in Island.
In den Bildungsanstalten schwindet der normative Wert
der Inhalte, die entsprechend durch beliebig andere ersetzt
werden können; sie sind sowieso nur Anlässe für den Erwerb
der Kompetenz, irgend etwas überzeugend darzustellen,
mit PowerPoint und vielen Bildern. Dadurch wird der
Inhalt selbst austauschbar, das Was ist gleichgültig, es kommt
die Wirkung des Wie an. »Voltaire war kein Sultan im Orient?
Nun gut, dann wählen wir ein anderes Beispiel.«
Die antike Mathematik hatte einen ontologischen Wert;
sowohl Pythagoras wie auch Platon sehen in den Zahlen und
geometrischen Gegenständen besonders ausgezeichnete Entitäten
und Strukturen alles Seienden und des Erkennens.
Der heutige Mathematiker sieht in ihnen dagegen nur effiziente
Instrumente, die abgetrennt von der Anwendung keinen
besonderen Rang innehaben. Zur Mathematik mag man
heute eine persönliche Neigung und Begabung haben, man
kann die Proportionen in der Architektur des Mittelalters
und der Barockbauten bewundern, aber von einer ontologischen
und epistemischen Dignität der mathematischen Objekte
zu sprechen, wäre abwegig und nur Ausdruck einer
Nostalgie, wir beugen das Knie doch nicht mehr. Bei Platon
dagegen war das Quadrivium des siebenteiligen Bildungsganges
mathematisch konzipiert, es umfaßte Zahlenlehren,
Geometrie, theoretische Musik und theoretische Astronomie.
»Niemand möge hier ohne Geometrie eintreten« soll über
dem Tor der Akademie gestanden haben. Alle Bildung bezog
sich auf genau festgelegte Inhalte, die in sich den Bildungswert
enthielten - eine von ihnen gelöste Kompetenz-Didaktik
und Bild-Pädagogik war nicht möglich, die unveränderlichen
Inhalte selbst waren Seelenführer.
Negation
Man kann zweierlei bemerken: Was da ist, und dann, aufwendiger
und seltener, was nicht da ist. Was da ist, winkt uns
zu und drängt sich auf; und dennoch: »Hören Sie den Lärm
gar nicht?« »Welchen Lärm?« »Den Wasserfall [ersatzweise:
den Verkehr, RB], hören Sie doch!« »Ach so, das höre ich
nicht mehr, das geht den ganzen Tag so.«
Was nicht da ist, wird erst durch einen Umweg bemerkt;
hören und sehen und fühlen und riechen kann man es nicht.
»Der Fischadler ist in diesem Jahr ausgeblieben.« »Ach. Das
habe ich nicht gesehen.« »Auch nicht die Pappeln?« »Welche?
« »Die hier vor kurzem gefällt wurden.« »Ach.«
»Einer flog über das Kuckucksnest.« »Tatsächlich?«
Ein Foto: Lenin mit großer Geste auf einer Rednertribüne,
das Bild verkündet die nackte, gut dokumentierte Wahrheit.
Und doch ist es eine Lüge der Partei, denn neben Lenin stand
ursprünglich Trotzki, der später in Ungnade fiel und aus der
Geschichte und dem Foto weggeschwärzt wurde. Um das Bild
beurteilen zu können, muß man seine ausgelöschte Vergan-
genheit kennen, das bloße Hinsehen und Lesen genügt
nicht, weil das Sehen keinen Zugang zur Negation hat, die
nur das Denken und die vom Denken geleitete Erkenntnis
entdeckt.
The King: »They are both gone to the town. Just look along
the road, and tell me if you can see either of them.«
»I see nobody on the road,« said Alice.
»I wish I had such eyes,« the King remarked in a fretful
tone. »To be able to see Nobody! And at that distance
too!«
Der Mensch unterscheidet sich von den Tieren durch die
Fähigkeit des Denkens oder Urteilens. Urteilen und Denken
ist nur möglich, wenn Bejahung und Verneinung gleichermaßen
präsent und möglich sind und die Freiheit der Reflexion
genau dort eintritt, wo die Natur aufhört. Denken ist
gebunden an das einzelne Subjekt, und dieses kann nur denken,
wenn es dasselbe sowohl bejahen wie auch verneinen
kann - eine Freiheit, die wir Menschen haben, die wir notwendig
und zwanghaft Selbstdenker sind, im Gegensatz zu
allen Tieren und zu den Synapsen in unserem Gehirn; wer
diese Freiheit leugnet, macht von ihr Gebrauch.
Der Biologe erkennt, welche Farben von den Bienen wahrgenommen
werden und, was nur wir erkennen, welche Farben
sie nicht wahrnehmen, denn in alle Ewigkeit wird keine
Biene wissen, daß sie das langwellige Rot nicht sehen kann.
Der Mensch kann Infrarotstrahlung nicht optisch, sondern
nur als Wärme empfinden, und diesen Sachverhalt kann er,
im Unterschied zu den Tieren, urteilend erkennen, aber, wie
die Tiere, nicht empfinden oder wahrnehmen.
Zur Bildung gehört die Vergegenwärtigung des Nichtda-
Seienden, nicht des Beliebigen, sondern des Wichtigen.
Man muß bemerken, daß in den Schulen nicht mehr gemeinsam
gesungen wird, und daraus ergibt sich die Nachfrage:
Warum? Das Nichtsingen läßt sich nicht hören und nicht
sehen oder riechen, und trotzdem findet es statt und gehört
zur Schule, der Nichtgesang. Wenn ein Knopf an der Jacke
fehlt, ein Zahn im Mund, ein Auge im Gesicht, bemerken wir
das Fehlende automatisch und zwanghaft; aber wenn in der
Stadt keine schwarzen Leichenwagen mehr am Tage fahren,
wenn es keinem Bürger mehr möglich ist, Trauerkleider zu
tragen, wenn auf dem Friedhof zunehmend die Familiengräber
fehlen, dann setzt das Bemerken dieser Nichtigkeiten
mehr voraus. Zu dem, was da ist, gehört der Gegenpart
des Fehlenden, aber nur für den, der sein Nichtsein bemerkt;
wahrnehmen, sehen, hören, schmecken, riechen und anfühlen
kann man es nicht. So leid es einem tut und so pathetisch
es klingt: Das Nichtsein gehört nicht zum Sein, aber zu unserem
Dasein.
Der gebildete Blick ist immer komparatistisch und bezieht
das, was nicht da ist, durch Erinnern und Nachdenken mit
ein. Zur Bildung gehört der wache Verdacht - Kuckucksnest?
Wie das? Der Verdacht ist nur sinnvoll, wenn er begründet ist,
und dann flächendeckend. Viele sprechen Prosa und wissen
es nicht; »Prosa« - und nicht?
Vielleicht können Tiere lachen, vielleicht ist deswegen die
Definition des Menschen als eines animal risibile zu weit, weil
auch die Wale und die Lieblingskatzen lachen oder wenig
stens in Andeutung lächeln können, aber sie können nicht
negieren, sie können klagen, aber nicht Kritik üben wie So-
krates, Kant und Karl Marx. A propos Marx; die »nagende
Kritik der Mäuse« ist bloße Metapher.
© Weltbild
Das Lachen hat seine Entwicklungsgeschichte. Das rudimentäre
Lächeln des Säuglings als Reflex des Lächelns im Gegengesicht
steht am Beginn, ein animalisch-humaner Reflex, der
uns von den übrigen Tieren trennt und in die Einbahnstraße
des animal ridens führt. Dann tritt das zweite glucksende,
kichernde, alberne Lachen hinzu, das schon äußerlich klar
von dem ersten zu unterscheiden ist und sich vom reflexhaften
Zulächeln emanzipiert hat. Und dann folgt die Palette
des gequälten, zu lauten, neidischen und überlegenen, zurückgebliebenen
und irren und bellenden Lachens, des zu
freundlichen Lachens bei erwiesener Inkompetenz, des heiteren
und endlich befreiten Lachens.
Gibt es zu jedem Lachen ein korrespondierendes Weinen
und Jammern und verzweifeltes Schluchzen, das sich am
Ende von der Erschütterung im Lachen kaum unterscheidet?
Spiegelt sich das Weinen im Lachen?
Warum lachen Kinder, wenn der Clown kommt? Sie lachen,
bevor sie urteilen und reden können. Sie müssen
den Clou begreifen, der in den Clownskünsten liegt und der
ohne die Negation nicht möglich ist. Der Clown negiert in
seinem Körper, seiner Kleidung, seinen Gesten, seinem gekonnten
Nichtkönnen die Erwachsenen; ohne die Kenntnis
dieser karikierenden Verneinung gibt es beim Clown nichts
zu lachen. Im Zirkus werden die Großen und Erwachsenen
exekutiert; ihr Sein, das sie den Kindern zeigen, löst sich auf
in bloßen, angestrengten Schein - wie können Kinder das
begreifen und sich darüber freuen? Freiheit und Gleichheit:
Der Clown zeigt, daß alle gleich sind, die Hochgewachsenen
und die Zwerge. Es ist eine geradezu artistische Kopfleistung,
die das Kinderpublikum fast in den Rang des Clowns selber
hebt. Die Kinderköpfe beherrschen eine mehrstellige Relation:
Sie lachen über den Clown und lachen dabei die Großen
aus, ihr eigentliches Opfer, dem sie unterlegen sind.
Zur Kulturgeschichte des Lächelns und Lachens gehören
die griechischen kouroi, die Jünglinge, die siegesgewiß und
verhalten lächeln, nicht zu uns, sondern aus sich, aus ihrer
Kraft. Wenn es von Sokrates heißt, er habe in der Todesnacht
heiter gelächelt, dann ist es ein Inneres und ein Hin zu denen,
die bei ihm waren. Die homerischen Götter lachen laut
bei ihren olympischen Festen, und sie weinen. Hat Buddha
geweint? Christus dagegen hat nach den Dokumenten nicht
gelacht; lachte sein Nacheiferer Nietzsche? An Kants Mittagstafel
wurde gelacht, auch in seiner Anthropologie-Vorlesung.
Das Lachen hat sich im 20. Jahrhundert als marktfähig
erwiesen; kein erfolgreicher Mensch, der nicht ein uniformiert-
glaziales Lachen zeigt mit freigelegten Zähnen, sie alle
lachen. Wenn das Lachen der Alten laut wird, soll jemand
verscheucht werden, der schon mitlacht, es ist etwas zu laut,
zu leutselig, zu frei; es paßt nicht mehr, aber verstummt auch
morgen.
Mein
»Es ist aber merkwürdig«, schreibt Kant, »daß das Kind, was
schon ziemlich fertig sprechen kann, doch ziemlich spät
(vielleicht wohl ein Jahr nachher) allererst anfängt, durch
Ich zu reden, so lange aber von sich in der dritten Person
sprach (Karl will essen, gehen u.s.w.), und daß ihm gleichsam
ein Licht aufgegangen zu sein scheint, wenn es den Anfang
macht durch Ich zu sprechen: von welchem Tage an
es niemals mehr in jene Sprechart zurückkehrt. - Vorher
fühlte es bloß sich selbst, jetzt denkt es sich selbst.« Zwischen
den beiden Phasen gibt es eine Epoche, die zwischen dem
Fühlen und Denken vermittelt: Das Kind sagt viel früher
»mein« als »ich«, wenigstens in den Sprachen, die über diese
beiden Begriffe oder Wörter verfügen. »Das ist mein!« gegen
alle Prätendenten dieser Welt. »Ich« wäre also der Endpunkt
in dem Dreischritt eines animalischen Selbstgefühls, einer
Besitzanzeige und eines ultimativen »Ich, ich selbst«.
»Guck mal«, »guarda«, »mira« usw. usf.
Im Sommerbad, auf der Straße, im Kindergarten und in
jedem Kinderzimmer: Ohne den Blick und Zuruf der anderen
wächst kein Kind in sich selbst und die Gesellschaft
hinein, sondern wird verdunkelt ins Abseits gestellt. Sieh dir
das nur an! Toll! Aus dem »Guck mal« werden später die Malerei,
die Plastik, die Mode und die Architektur, der Fußball,
die Olympischen Spiele, das ganze Konzert der Geistes- und
Körperkultur, Einsteins Physik und Bentleys Platonausgabe,
die Einfälle zur Verkürzung des Fließbands und die spektakulären
Überfälle auf andere Länder: »Vater, guck mal!
Was ich, ich gemacht habe! Die Mission ist beendet! Guck
doch bitte, bitte!« ruft noch der fünfzigjährige Kindskopf.
Im »Guck mal« des Kinderzimmers beginnen Glück und Unglück
der Lebensbahn: Da guckt wirklich jemand und muntert
auf: »Super!« Oder es ist niemand da, ein Aus für die
Psyche und den Körper. Und dann kurz darauf der Vergleich,
mit dem nach Rousseau die Menschheit beginnt: »Guck
mal«, und alle sehen hin, oder: woandershin, durch mich
durch.
Kinderseelen
Kinder tollen mit der Wahrheit und Falschheit nach Lust
und Laune und begreifen nicht, warum einige Erwachsene
gerade auf die feinsten und schwierigsten Lügen so übel reagieren.
Viele oder sehr viele oder alle Menschen erhalten ihr
kindliches Gemüt und jonglieren kunstvoll zwischen Lug
und Betrug und dem Bonus der Ehrlichkeit hierhin und
dorthin, Opfer und Täter in den eigenen mentalen Kulissen
und Spiegeln. Das falsche Lächeln war ehrlich gemeint, der
Zuspruch hinein in den Abgrund war klarer Betrug, aber in
der kindlichen Optik des Falschen nichts anderes als ein
Scherz. Wir gewöhnen uns daran, daß der Mond kleiner sein
soll als die Sonne, obwohl ihre Scheiben haargenau gleich
groß sind; wir lernen seit der Antike, daß unsere Erde sich
künstlich um sich selbst dreht, und nach einiger Übung begreifen
wir, daß wir in zwei ineinander verstrickten Welten
leben: der momenthaften mit ihren überzeugenden Einbildungen
und der Ordnungswelt von Wissenschaft und Recht
und Moral.
Leuchtendes Licht und Donnergepolter
Für Oskar Negt
Homer, Odyssee XI 593-600 (Odysseus ist in der Unterwelt)
Auch den Sisyphos sah ich, von schrecklicher Mühe gefoltert,
Einen schweren Marmor mit großer Gewalt fortheben.
Angestemmt, arbeitet' er stark mit Händen und Füßen,
Ihn von der Au aufwälzend zum Berge. Doch glaubt' er ihn
jetzo
Auf den Gipfel zu drehn, da mit einmal stürzte die Last um;
Hurtig mit Donnergepolter entrollte der tückische Marmor.
Und von vorn arbeitet' er, angestemmt, daß der Angstschweiß
Seinen Gliedern entfloß und Staub sein Antlitz umwölkte.
Warum lesen nicht alle Schüler diese Verse? Wer hätte keinen
Spaß an diesem »Hurtig mit Donnergepolter«? Oder
Nausikaa, die zum Waschen an den Strand fährt und Odysseus
trifft, oder Polyphem oder ... Wie verbiestert müssen
europäische Schulen sein, daß sie den Jugendlichen diese
Verse vorenthalten? Oder später Pindar:
Eintagswesen! Was ist einer denn, was ist einer nicht?
Eines Schatten Traum ist der Mensch. Doch kommt ein
gottgegebener Glanz,
Liegt auf ihm leuchtendes Licht und gibt ihm ein frohes
Dasein.
Ironie
Sokrates, der Menschenbildner, hatte zwei Eigentümlichkeiten,
die wichtige Merkpunkte für jede Erziehung sein sollten:
Er lachte oder lächelte, und er war ironisch. Beides faszinierte
die Hörer. Beißende Ironie kann fehlplaziert und
tödlich sein; was ist die hirnstimulierende, dem Lachen nahe,
freundliche Ironie?
Daß man etwas anderes sagt, als man meint, ist es noch
nicht, denn das tun auch die Lügner und ein Pulk von anderen
ironielosen Leuten: Alle, die zu müde sind, um ihre Meinung
korrekt auszudrücken, die unzähligen Zerstreuten und
dann die Heerschar von Sprechern, die mit der Sprache einfach
nicht zurechtkommen. Vielleicht: Daß man sehr wohl
denkt, was man sagt, aber es dennoch nicht meint? Der Advokat
sagt, was er denkt, um den Prozeß zu gewinnen, aber er
meint nicht, was er denkt und sagt, weil er wie alle anderen
überzeugt ist, daß sein Mandant der Mörder ist, ohne Ironie.
Worin also liegt der bejahend-verneinende Winkelzug der
Ironie? Vielleicht so: Wer ironisch spricht, sagt etwas und gibt
etwas anderes zu verstehen. Das ist richtig, aber noch zu weit,
denn auch James Bond sagt, er wolle von Venedig nach Hongkong
fliegen, gibt aber mit diesen Worten zu verstehen, daß
er den Abend zu zweit in einer Gondel verbringen möchte.
Besser wäre: Wer ironisch spricht, sagt etwas und gibt das Gegenteil
zu erkennen. Die Hörer oder Leser benötigen nur die
Fähigkeit, dasjenige ins mitgedachte Gegenteil zu verkehren,
was direkt gesagt wird. Die Anweisung dazu liegt in einem verschmitzten
Lächeln der Prosa oder Poesie. Auch das reicht
freilich noch nicht, denn der Ironiker möchte, daß man seine
direkte Rede schwebend im Modus des »vielleicht doch« versteht.
Was durch sein Gegenteil beleuchtet wird, ist von diesem
insgeheim vielleicht auch eingenommen. Ein parakonsistentes
Ja und Nein; nachweisbar ist meist weder das eine
noch das andere, manchmal beides, ein Spiel und ernst gemeinter
Scherz.
Wann beginnen Kinder, die Ironie in der Rede ihrer in-
telligenten Eltern zu begreifen? Wann reden sie selbst im
Modus der Ironie?
Was ist Bildung?
Bei der Beantwortung müssen wir durch zwei Extreme hindurchsteuern.
Die eine Auffassung bestimmt die Bildung aus
der Selbstrealisierung des Menschen, aus dem Binnenraum
seiner Natur, die andere beantwortet die Frage von außen: Bildung
besteht im Besitz von Kompetenzen, die morgen verlangt
werden. Die erste Antwort läuft Gefahr, nach dem zeitlosen
Wesen des Menschen zu suchen und in eine abseitige
Innerlichkeit zu geraten, die zweite folgt der Außensteuerung
durch den Markt und macht die Bildung zu einer Installation
von Fähigkeiten, die vermutlich von der Industrie- und Informationsgesellschaft
verlangt werden, Krippenplätze nur mit
Computer.
Zwischen beidem liegt ungefähr folgende Antwort: Bildung
ist die Fähigkeit, als selbstbewußte/r Weltbürger/in
in der jeweiligen Zivilgesellschaft zu leben. Dazu bedarf es
bestimmter Grundkenntnisse, über die alle verfügen müssen,
und zugleich der Eigenentwicklung, die das jeweilige Individuum
charakterisiert. Zum letzten gehört, daß man Genie
und Versager sein kann und daß beides einbezogen wird in
das Mitspielen in der Gesellschaft, so daß der Versager in seiner
Rolle der King ist, ein allseits geachteter Depp.
Kein Mensch hat seine Erzeuger um seine Geburt gebeten.
Wenn er in das Leben hinübergezogen wird und diesen Akt
hinterher mit großem Geschrei kommentiert, dann liegt im
Protest die Aufforderung an die Schuldigen, ihn gefälligst
physisch und geistig gut zu versorgen und nach bestem Wissen
und Vermögen zu einem gesunden, fähigen, sittlichen
Weltbürger zu machen. Bildung ist in diesem Sinn ein globales
Naturrecht, das allen positiven Gesetzgebungen zuvorliegt.
Die Adressaten dieses Rechts sind erstens die Eltern,
wenn sie denn vorhanden sind, und zweitens die Menschen-
gesellschaft, die von den Staaten vertreten wird. Der Staat
zwingt die Neugeborenen nach einer kurzen Säuglings-Atempause
hinein in die Schule, Schulpflicht ist Rechtspflicht; die
Schule formt die Schüler dazu, möglichst selbständige Bürger
zu werden, mit Überspringern und Sitzenbleibern, beide haben
das Recht, zu aktiven Gliedern der Gesellschaft geformt
zu werden
Gebildet
Hört man in das Wort hinein, entdeckt man Folgendes: Wir
bestehen aus vier Teilen, dem Erkennen, Fühlen und Wollen,
und das alles zusammengefaßt in einem Körper. Das ist
schon die Meinung Homers. Die Abfolge: Zuerst erkennt
man etwas, das Erkannte erregt zweitens Lust oder Unlust,
Attraktion oder Repulsion, und darauf folgt drittens der
Wille zur entsprechenden körperlichen Handlung. Der gebildete
Mensch, so folgern wir, hat aus diesen natürlichen
Teilen etwas Zusammenstimmendes gemacht, wozu es freilich
der Glücksumstände bedarf, deswegen die Bitte um die
Einhilfe der Götter. Die Natur ist für die Bildung nicht zuständig;
schon die Haustiere wie Hunde und Pferde benötigen
eine gute Dressur, um mit sich und den Menschen und
der Umwelt zurechtzukommen, um so mehr die Menschen
selbst: Ein gutes zeitgemäßes Erkenntnistraining, eine musische
Formung der Gefühle, die Erziehung zum vernünftigen
Umgang mit den eigenen Entschlüssen und für den Körper
Handstand und Rolle vorwärts und rückwärts.
Gedächtnis I
Auch das menschliche Gedächtnis hat seine Geschichte;
etwas auswendig zu können bedeutete vor 200 Jahren etwas
anderes als heute. Vor 1789 stand neben Lesen und Rechnen
das Memorieren im Mittelpunkt der Elementarerziehung,
später lernte man Predigten, Vorlesungen und vor allem klassische
Texte möglichst im Wortlaut; Dissertationen sollten
nichts Neues enthalten. Zu Platons Zeiten konnten gebildete
Griechen die Ilias und Odyssee auswendig, und zu öffentlichen
Rezitationen kamen Tausende zusammen. Die Formierung
des Menschen durch sein Gedächtnis, die Initiation durch
die geistige Einverleibung des tradierten Wissens gehört einer
Vergangenheit an, auf die wir nur noch museal und historistisch
verweisen, für unsere eigene Bildung und ihre Anstalten
ist sie ohne Relevanz, es sei denn, man belebt sie in
einer aktualisierten Form.
»Arché« heißt Anfang und Herrschaft; Herrschaft datierte
sich ursprünglich an den Anfang zurück und legitimierte
sich durch die Vorvorväter; die Mythen zeigen, daß jedes erfolgreiche
Herrschaftshaus am Anfang göttlichen Ursprungs
und deswegen zur Herrschaft berechtigt ist. Auch alles Gute
und Wahre geht auf den Anfang zurück, das Böse und die
Lüge werden als abtrünnig gebrandmarkt und verfolgt. Die
Erinnerung an die vergangenen Taten und Leiden der Geschlechter
ist also notwendig, um das Herrscherprivileg der
feudalen Häuser zu stützen. Selbst revolutionäre Bewegungen
wollen nur restituieren, was am Anfang war. »Als Adam
grub und Eva spann, wo war denn da der Edelmann?« Luther
protestiert gegen die römische Kirche, weil sie von den christlichen
Anfängen abgefallen ist. Die Freiheitsbewegungen des
17. und 18. Jahrhunderts sind verbunden mit der Erstürmung
der Rathäuser und Stadtarchive, in denen die anfängliche Gesellschaftsform
dokumentiert ist, es ist nicht die Freiheit als
solche, die gefordert wird, sondern »the old liberties«. Aus
der Vergangenheit leiten sich nicht nur Herrschaft und Freiheit
ab, sondern die Identität des Gemeinwesens und seiner
Bürger. Die pathologischen Deformationen der IRA und der
ETA zeigen noch die Macht dieser Identitätsbildungen.
Es ist günstig, die Zeitenwende von der Vergangenheit fort
in die Gegenwart und Zukunft symbolisch in das Jahr 1789
zu legen; in ihm faßt sich die politische und die gedankliche
Revolution der europäischen Aufklärung zusammen. Wenn
Kant die Kritik der reinen Vernunft von 1781 als einen Gerichtshof
darstellt, vor dem sich Thron und Altar zu rechtfertigen
haben, dann erklärt er die Berufung auf ererbte Herrschaft
der Kirche und des Adels für obsolet; die Rechtsansprüche
müssen sich republikanisch legitimieren, oder sie sind verfallen.
Das politische Ergebnis dieser Zeitenwende ist die Demokratie,
in der die Herrschaft aufgehoben ist in der Selbstherrschaft
der Beherrschten und in der die selbst gewählte
Regierung sich nicht in der Vergangenheit bewährt, sondern
in der Problemlösung der Gegenwart. Wer die Probleme
nicht lösen kann, wird abgewählt und ersetzt. Was zählt, ist
die Fähigkeit für die Zukunft, nicht das Andenken an den Anfang.
Die Einwanderungsbehörden der USA tilgten das bürgerliche
Gedächtnis der Ankömmlinge: Jeder Adelstitel wurde
ausgeschwärzt; der Bürger betrat die Neue Welt ohne den
Ballast ungleicher Erinnerungen. Seit 1789 ist die Weltauffassung
präsentistisch; was eine Person nicht im Moment zu
leisten fähig ist, kann vergessen werden, es zählen nur die
Gegenwart und die Zukunft, daneben gibt es einige Erinnerungsstätten
und Museen für die Freizeit. Auch: »Seit die
Dampfmaschine Herrin der Welt ist, ist jeder Titel eine Absurdität
« (Stendhal). »I like the dreams of future better than
the history of the past« (Thomas Jefferson). »Out with the
old, in with the new.«
Der globale Markt eliminiert aus seinen Angeboten die
Erinnerung und setzt auf den unmittelbaren Verzehr. Die
Produktionsstätten können weltweit in Billigländer verlagert
werden, lokale Traditionen haben allenfalls einen dekorativen
Wert. Das Know-how entstammt keiner Handwerkertradition,
sondern wird dem letzten Computerprogramm
entnommen, das in nichts an seine anonymen Entwickler erinnert.
Kurz: Das Erinnern, das Aus- und Inwendiglernen, ist
aus den Bildungsanstalten radikal eliminiert worden, weil
Politik und Ökonomie ohne Erinnerung operieren. Wer für
die Aktivierung des Gedächtnisses plädiert, muß sich diese
Ausgangsposition vergegenwärtigen. Im Elementarbereich
sind die gemeinsam auswendig gelernten Gedichte (gute
Gedichte, nicht die Tagesproduktion, die morgen vergessen
wird) von größtem Bildungswert für das Individuum und die
Lerngruppe; den Schülern wird die Chance gegeben, sich
vor der Klasse darzustellen und mimisch und rhetorisch das
Gelernte zu präsentieren. In den weiteren Bildungsgängen
ist das Auswendigkönnen immer noch ein unentbehrliches
Mittel, Kulturtraditionen zu erhalten und neu zu erfinden.
Alle Kultur ist imprägniert von ihrer Vergangenheit, die mitgehört,
mitgesehen, mitgedacht werden muß, um sie beurteilen
zu können.
Inhalt
Die europäischen Bildungsanstalten waren zwei Komponenten
der Kultur verpflichtet und leiteten aus ihnen die verbindlichen
Inhalte ab, dem Christentum und der Antike. Die
Kenntnis der beiden Ursprünge war obligatorisch für alle, sei
sie rudimentär durch den Elementarunterricht oder ausgefeilt
und genau. Bis in das 18. Jahrhundert wurden Vorlesungen
und Prüfungen und alle akademischen Dissertationen
auf lateinisch verfaßt; der christliche Glaube mit seiner Orientierung
in den beiden Testamenten war die selbstverständliche
Voraussetzung für jede öffentliche Tätigkeit, kein Jude
oder gar Heide konnte vor der Mitte des 19. Jahrhunderts
Professor an einer Universität oder Minister werden. Aus bei-
dem folgte ein unbezweifelter Kanon von Inhalten, die auswendig
gelernt wurden und Faktum und Norm waren, von Sevilla
bis Riga und Oslo bis Palermo. Ein Kanon beansprucht,
unveränderlich zu gelten, manchmal mit der besonderen
Note, im genauen Wortlaut keine Änderung zu dulden. Daher
darf der Priester bei der Lesung der Heiligen Schrift
nicht seinem liquiden Gedächtnis trauen und den Text auswendig
vortragen, sondern das Lesen Wort für Wort ist verbindlich.
Das Lateinische und Griechische waren tote Sprachen
und teilten so die Unveränderbarkeit der Texte. Wo
auch immer Cicero gelesen wurde, es war idealiter derselbe
stabile Text. Die Neuformationen in Politik und Glauben begriffen
sich grundsätzlich als Rückkehr zu den eigentlichen
Ursprüngen.
Mit der Zeitenwende von 1789 sind diese Konsense aufgekündigt,
die Vergangenheit ist jetzt tatsächlich vergangen
und kann unverbindlich in attraktiven Museen und Ausstellungen
konserviert werden. Die Exponate werden nach anderen
Gesichtspunkten gewählt als dem ihrer ursprünglichen
Mächtigkeit, sie sollen den Betrachter informieren und erfreuen.
Der Ort ist beliebig, die Zusammenstellung auf den
Besucher bezogen. Die Differenz von unverrückbarer Vergangenheit
in einem festen Ritual einerseits und ihrer beliebigen
Ausstellung andererseits ähnelt der Differenz von Feiertag
und Ferien. Die Feiertage werden durch die allgemeine
Kultur verbindlich für alle festgelegt, die Ferien können nach
subjektiven Bedürfnissen auf der Zeitschiene so verteilt werden,
daß ein sozialverträgliches Gleichgewicht von Arbeit
und Nichtarbeit entsteht. Die Feiertage werden zu Ferien gemacht,
weil ihre Herkunft vergessen ist und jeder tun und
lassen kann, was er will. Im Angebot: Weihnachten in der Karibik
oder in Bahrein; Ostern in Island.
In den Bildungsanstalten schwindet der normative Wert
der Inhalte, die entsprechend durch beliebig andere ersetzt
werden können; sie sind sowieso nur Anlässe für den Erwerb
der Kompetenz, irgend etwas überzeugend darzustellen,
mit PowerPoint und vielen Bildern. Dadurch wird der
Inhalt selbst austauschbar, das Was ist gleichgültig, es kommt
die Wirkung des Wie an. »Voltaire war kein Sultan im Orient?
Nun gut, dann wählen wir ein anderes Beispiel.«
Die antike Mathematik hatte einen ontologischen Wert;
sowohl Pythagoras wie auch Platon sehen in den Zahlen und
geometrischen Gegenständen besonders ausgezeichnete Entitäten
und Strukturen alles Seienden und des Erkennens.
Der heutige Mathematiker sieht in ihnen dagegen nur effiziente
Instrumente, die abgetrennt von der Anwendung keinen
besonderen Rang innehaben. Zur Mathematik mag man
heute eine persönliche Neigung und Begabung haben, man
kann die Proportionen in der Architektur des Mittelalters
und der Barockbauten bewundern, aber von einer ontologischen
und epistemischen Dignität der mathematischen Objekte
zu sprechen, wäre abwegig und nur Ausdruck einer
Nostalgie, wir beugen das Knie doch nicht mehr. Bei Platon
dagegen war das Quadrivium des siebenteiligen Bildungsganges
mathematisch konzipiert, es umfaßte Zahlenlehren,
Geometrie, theoretische Musik und theoretische Astronomie.
»Niemand möge hier ohne Geometrie eintreten« soll über
dem Tor der Akademie gestanden haben. Alle Bildung bezog
sich auf genau festgelegte Inhalte, die in sich den Bildungswert
enthielten - eine von ihnen gelöste Kompetenz-Didaktik
und Bild-Pädagogik war nicht möglich, die unveränderlichen
Inhalte selbst waren Seelenführer.
Negation
Man kann zweierlei bemerken: Was da ist, und dann, aufwendiger
und seltener, was nicht da ist. Was da ist, winkt uns
zu und drängt sich auf; und dennoch: »Hören Sie den Lärm
gar nicht?« »Welchen Lärm?« »Den Wasserfall [ersatzweise:
den Verkehr, RB], hören Sie doch!« »Ach so, das höre ich
nicht mehr, das geht den ganzen Tag so.«
Was nicht da ist, wird erst durch einen Umweg bemerkt;
hören und sehen und fühlen und riechen kann man es nicht.
»Der Fischadler ist in diesem Jahr ausgeblieben.« »Ach. Das
habe ich nicht gesehen.« »Auch nicht die Pappeln?« »Welche?
« »Die hier vor kurzem gefällt wurden.« »Ach.«
»Einer flog über das Kuckucksnest.« »Tatsächlich?«
Ein Foto: Lenin mit großer Geste auf einer Rednertribüne,
das Bild verkündet die nackte, gut dokumentierte Wahrheit.
Und doch ist es eine Lüge der Partei, denn neben Lenin stand
ursprünglich Trotzki, der später in Ungnade fiel und aus der
Geschichte und dem Foto weggeschwärzt wurde. Um das Bild
beurteilen zu können, muß man seine ausgelöschte Vergan-
genheit kennen, das bloße Hinsehen und Lesen genügt
nicht, weil das Sehen keinen Zugang zur Negation hat, die
nur das Denken und die vom Denken geleitete Erkenntnis
entdeckt.
The King: »They are both gone to the town. Just look along
the road, and tell me if you can see either of them.«
»I see nobody on the road,« said Alice.
»I wish I had such eyes,« the King remarked in a fretful
tone. »To be able to see Nobody! And at that distance
too!«
Der Mensch unterscheidet sich von den Tieren durch die
Fähigkeit des Denkens oder Urteilens. Urteilen und Denken
ist nur möglich, wenn Bejahung und Verneinung gleichermaßen
präsent und möglich sind und die Freiheit der Reflexion
genau dort eintritt, wo die Natur aufhört. Denken ist
gebunden an das einzelne Subjekt, und dieses kann nur denken,
wenn es dasselbe sowohl bejahen wie auch verneinen
kann - eine Freiheit, die wir Menschen haben, die wir notwendig
und zwanghaft Selbstdenker sind, im Gegensatz zu
allen Tieren und zu den Synapsen in unserem Gehirn; wer
diese Freiheit leugnet, macht von ihr Gebrauch.
Der Biologe erkennt, welche Farben von den Bienen wahrgenommen
werden und, was nur wir erkennen, welche Farben
sie nicht wahrnehmen, denn in alle Ewigkeit wird keine
Biene wissen, daß sie das langwellige Rot nicht sehen kann.
Der Mensch kann Infrarotstrahlung nicht optisch, sondern
nur als Wärme empfinden, und diesen Sachverhalt kann er,
im Unterschied zu den Tieren, urteilend erkennen, aber, wie
die Tiere, nicht empfinden oder wahrnehmen.
Zur Bildung gehört die Vergegenwärtigung des Nichtda-
Seienden, nicht des Beliebigen, sondern des Wichtigen.
Man muß bemerken, daß in den Schulen nicht mehr gemeinsam
gesungen wird, und daraus ergibt sich die Nachfrage:
Warum? Das Nichtsingen läßt sich nicht hören und nicht
sehen oder riechen, und trotzdem findet es statt und gehört
zur Schule, der Nichtgesang. Wenn ein Knopf an der Jacke
fehlt, ein Zahn im Mund, ein Auge im Gesicht, bemerken wir
das Fehlende automatisch und zwanghaft; aber wenn in der
Stadt keine schwarzen Leichenwagen mehr am Tage fahren,
wenn es keinem Bürger mehr möglich ist, Trauerkleider zu
tragen, wenn auf dem Friedhof zunehmend die Familiengräber
fehlen, dann setzt das Bemerken dieser Nichtigkeiten
mehr voraus. Zu dem, was da ist, gehört der Gegenpart
des Fehlenden, aber nur für den, der sein Nichtsein bemerkt;
wahrnehmen, sehen, hören, schmecken, riechen und anfühlen
kann man es nicht. So leid es einem tut und so pathetisch
es klingt: Das Nichtsein gehört nicht zum Sein, aber zu unserem
Dasein.
Der gebildete Blick ist immer komparatistisch und bezieht
das, was nicht da ist, durch Erinnern und Nachdenken mit
ein. Zur Bildung gehört der wache Verdacht - Kuckucksnest?
Wie das? Der Verdacht ist nur sinnvoll, wenn er begründet ist,
und dann flächendeckend. Viele sprechen Prosa und wissen
es nicht; »Prosa« - und nicht?
Vielleicht können Tiere lachen, vielleicht ist deswegen die
Definition des Menschen als eines animal risibile zu weit, weil
auch die Wale und die Lieblingskatzen lachen oder wenig
stens in Andeutung lächeln können, aber sie können nicht
negieren, sie können klagen, aber nicht Kritik üben wie So-
krates, Kant und Karl Marx. A propos Marx; die »nagende
Kritik der Mäuse« ist bloße Metapher.
© Weltbild
... weniger
Bibliographische Angaben
- Autor: Reinhard Brandt
- 2008, 195 Seiten, Maße: 12,1 x 20,2 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: HANSER
- ISBN-10: 3446231129
- ISBN-13: 9783446231122
- Erscheinungsdatum: 29.07.2008
Rezension zu „Warum ändert sich alles? “
"Nun hat auch Reinhard Brandt seine "Minima moralia" veröffentlicht. Die Reflexionen, die er über das Leben anstellt, stehen unter der Überschrift "Warum ändert sich alles?". Die Frage ist natürlich nicht reaktionär oder defätistisch gemeint, sondern drückt ein philosophisches Staunen darüber aus, dass überhaupt etwas ist und nicht etwa nichts. Die Fähigkeit, sich zu ändern, ist für den Autor denn auch der Weg, in einer Art "creatio continua" sich im Sein zu erhalten statt ins Nichts zurückzusinken. Als einer der wichtigsten Kantforscher weiß Brandt Funken zu schlagen aus dem ebenso unmöglichen wie notwendigen Unternehmen, Normatives zu begründen. Man schmökert oft und gern in diesem Bändchen. Es macht das Herz weit, nicht eng. Schön ist, dass der Autor keine seiner Überlegungen auf die Spietze treibt; das lässt sein Buch frei von Rechthaberei sein." Süddeutsche Zeitung, 13.08.08
Kommentar zu "Warum ändert sich alles?"
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