Weihnachtsmann
Die wahre Geschichte
Woher kommt der Weinachtsmann? Eine wissenschaftliche Detektivgeschichte
"Weihnachtmann", "Nikolaus", "Santa Claus" - um diese harmlosen Figuren gibt es oft Streit. Die einen glauben zu wissen, welcher der "Richtige" ist, andere kritisieren den...
"Weihnachtmann", "Nikolaus", "Santa Claus" - um diese harmlosen Figuren gibt es oft Streit. Die einen glauben zu wissen, welcher der "Richtige" ist, andere kritisieren den...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Weihnachtsmann “
Klappentext zu „Weihnachtsmann “
Woher kommt der Weinachtsmann? Eine wissenschaftliche Detektivgeschichte"Weihnachtmann", "Nikolaus", "Santa Claus" - um diese harmlosen Figuren gibt es oft Streit. Die einen glauben zu wissen, welcher der "Richtige" ist, andere kritisieren den Weihnachtskonsum als unchristlich. Alle reden vom Weihnachtsmann, aber nur eine kleine Minderheit glaubt an ihn - die Kinder. Schaut man jedoch die Rituale und Bilder der euroamerikanischen Weihnacht von außen an, überrascht die spektakuläre, für jeden schnell nachprüfbare Ähnlichkeit des Weihnachtsmannes zu verwandten Figuren in Asien wie der chinesische "Gott des langen Lebens" oder der mongolische "Weiße Alte". Der Religionsforscher Thomas Hauschild ist ihnen allen begegnet, hat sie gesammelt, vermessen und verglichen. Und er bringt uns bei, diese winterlichen ewigjungen Eremiten als Leitbilder eines weltweiten Klima- und Familienkultes der Zukunft zu begreifen.
Lese-Probe zu „Weihnachtsmann “
Der Weihnachtsmann von Thomas Hauschild Einleitung
Im Asyl
... mehr
Ich werde Euch die Geschichte vom Weihnachtsmann erzählen. Schon knackt das Eis unter meinen Stiefeln. Es ist spät geworden, bald wird es dunkel sein. Ich trabe los, im dicken roten Mantel, ein künstlicher Bart kitzelt mein Gesicht. Die rote Zipfelmütze ist mein Signal, von weither schon starren die Leute mich an. Doch wenn ich näher komme, verliert sich ihr Blick in meinem Bart, um schließlich an den Stiefeln hängen zu bleiben. Ich bin ein Mensch, der sonst eher schlendert oder schleicht, aber jetzt setze ich Fuß auf Fuß, Hacke auf Hacke, stapfe durch das Gerinnsel aus Eis und Matsch, aus Asche und Kies. Ständig habe ich das Gefühl, bergauf zu gehen, das liegt wohl an Mantel und Sack, die an meinem Rücken ziehen. Ich schwinge meinen Zigeunerbesen, dick und schwer, das bringt das vordere Ende meiner Maskerade wieder in Schwung. Ich bin zu einer Figur geworden: Weihnachtsmann, Santa Claus. Als ich einen Jugendlichen mit Hiphop-Kutte und Banditenhosen überhole, zieht er instinktiv den Kopf ein, schielt unter der Kutte hervor auf meine Stiefel und auf den Besen. Ohne dass ich darüber nachgedacht hätte, dringt ein dumpfes Lachen aus meiner Kehle. „Ho-Ho-Ho". Hinter mir bleibt es still.
Weiter geht's, in der Vorstadt sind die Straßen menschenleer. Vernachlässigte Mietshäuser der 1920er Jahre wechseln sich ab mit hübsch ökologisch erneuerten schwäbischen Einfamilienhäusern an beengten Kleingärten voll winterlichem Mulm und abgetragenem Gehölz. Ich kenne mich nicht mehr, im Schwung der Maskerade nehme ich die Kurve zu der halb verlassen liegenden alten Sägerei. Meine behandschuhte Faust kommt mir vor wie ein Stück von einem anderen Menschen. Mit hohlem Schlag lässt diese Hand die verquollene Holztür eines Gebäudes zittern, das vielleicht einmal dazu gedient hat, den Weg frisch geschlagener Schwarzwälder Tannenstämme in die halbstaatliche Holzindustrie des Deutschen Reichs zu bahnen. Schweigen im eisigen Wind, von irgendwoher kreischt eine einsame Säge. Dann öffnet sich die Tür einen Spalt. „Pssst, die Kinder sind schon hinten." Auch Frau Hohlers Blick zielt nach unten: „Ha, Ha, wo haben Sie nur diese Stiefel her ... und der Besen, richtig echt, ist ja toll!" Hastig füllen wir weitere Geschenke in den Sack aus Rupfen. Es hatte Tage gedauert, bis ich den ergattern konnte, in einem alten Haushaltsgeschäft. Frau Hohler drückt mir einen Zettel in die Hand, der in Großschrift Namen und Eigenschaften der Kinder auflistet. „Woran erkenne ich, wer was bekommt?" - „Das ist egal, die können ja tauschen!" Sie zieht mich den dunklen Gang entlang zu einer Tür, aus deren Ritzen helles Licht dringt und verhaltenes Gemurmel. Jetzt bin ich ganz und gar Klaus. Tief sauge ich die vom künstlichen Bart gefilterte Luft ein, auf der Zunge habe ich weiße Fasern aus chinesischem Plastik. Mit einem Ruck öffnet Frau Hohler die Tür - vor mir ein hell erleuchteter Raum mit Tannenbaum im vollen Schmuck und zwanzig aufgeregte Kinder. Die Kleinen starren freudig-verkrampft auf meine Gesichtsmaske. Die Größeren mustern meine Stiefel.
Es läuft wie am Schnürchen, „Ho-Ho-Hooo!" rufe ich. Die Kinder nicken verständig, das haben sie erwartet, wie ein gebildetes Konzertpublikum bei der Vorführung eines gelungenen Streichquartetts den Auftakt erwartet. Als Konsumenten amerikanischer Videos wissen sie, was „Ho" bedeutet (was denn eigentlich?), nur bei den deutschen Weihnachtsliedern schnallt die Mehrheit schon wieder ab. Dann singen sie aber doch, „Oh Tannenbaum ...", mal in schwachem, mal in trittfesterem Deutsch, offensichtlich haben sie das vorher geübt. Sie singen mit hohen, dünnen, dunklen und tiefen Stimmen, doch nicht alle singen mit. Dann Stille. Betreten schauen wir uns an, schnell drückt Frau Hohler mir die Liste in die Hand und das erste Geschenk. „Fitim, du hast dich gut in das Heimleben eingefügt, aber manchmal bist du noch zu wild, das kann besser werden! Und hier ist dein Geschenk!" Ein Gesicht leuchtet mir über den störenden Bartflausen zu, hell wie ein Scheinwerfer. Noch nie habe ich ein so hell strahlendes Gesichtchen gesehen. Weiter geht es, neue Leuchtegesichter drängen in meinen von der Maske beengten Gesichtskreis: „Roza und Luftar, ihr dürft nicht immer streiten - sonst seid ihr doch so liebe Kinder. Bald kommt euer Papa aus dem Kosovo, was soll der nur dazu sagen ... und hier sind Geschenke für euch, vom Weihnachtsmann persönlich!" Roza reißt die Verpackung von Luftars Geschenk auf, Luftar zerrt an Roza, und schon wollen sie wieder streiten. Nach den Leuchtegesichtern mache ich nun eine zweite Entdeckung: Wenn ich die Hand an meinen alten Zigeunerbesen lege, ist sofort Ruhe. „Ruhe!", ruft auch Frau Hohler in die Stille. Dann geht es weiter mit Lauresha, Serkan, Yasemin und Alban. Mir gegenüber, gerade noch sichtbar am Rand des beengten Gesichtskreises der Maske, steht ein größerer Junge. Schritt für Schritt rückt er näher. Als der Streit zwischen Roza und Luftar wieder aufkeimt und ich abgelenkt bin, macht er Ernst: „Du bist doch gar nicht der Weihnachtsmann." Alle Kinder schauen auf meine Füße, dann auf Ramiz. „Doooch!", heult Adelina, aber Ramiz tritt den letzten Schritt vor und greift in den Sack, den Frau Hohler in den Händen hält. Meine Reaktion ist nicht überlegt, plötzlich zeigt der struppige Besen nicht mehr nach unten, sondern nach oben. Und ebenso plötzlich hat Ramiz sich in die hinterste Ecke des Raums verkrümelt. Er kommt erst wieder hervor, als ich ihn aufrufe, brav holt er sich seine Gabe bei Frau Hohler ab. Im Vorbeigehen schaut er auf den Besen und versucht einen Blickkontakt mit meinen hinter der Maske gleißenden Augen. Ich brauche nur mit dem Besen zu rucken, da haut er wieder ab, und hinter ihm her, wie ich jetzt erst bemerke, zwei kleine Kerlchen, die sich unterhalb des Gesichtskreises meiner Maske an den Manteltaschen zu schaffen gemacht hatten. „Ruhe!", ruft Frau Hohler. Dann werden noch einige Geschenke nachverhandelt, und ich verspreche Luftar, von Frau Hohler beflüstert, dass er morgen einen Ball bekommt. Wieder rücken die Kinder näher und starren neugierig auf meine Schuhe, meine Hände. Ich straffe meine Körperhaltung. Da leuchten die Gesichter auf, sie schauen hoch zu meinen Augen, und wir singen. Jahre später werde ich eine Art Gebrauchsanweisung lesen, die der amerikanische Santa-Claus-Darsteller Bob Litak für solche Gelegenheiten verfasst hat: „Es wird ihnen vielleicht schon aufgefallen sein, dass Kinder oft den Blick senken, wenn sie Santa begegnen. Wir Erwachsenen ... gehen immer davon aus, dass dies ein Ausdruck von Scheu ist. Wie falsch ..., sie schauen nur nach seinen Stiefeln, sie benutzen die Stiefel als eine Art Barometer, an dem sie die Identität des Santa-Darstellers messen wollen." Ja, das ist mir aufgefallen. Ramiz kommt schon wieder auf mich zu, diesmal macht er ein entschlossenes Gesicht. Ich trapse mit dem Stiefel, er zögert - und schaut auf den Boden, auf meine Stiefel. Frau Hohler, resolut und erfahren, wie es die Leiterin einer Familienunterkunft für Flüchtlinge und Asylsuchende in Schwaben nur sein kann, zieht mich auf den Gang. Hinter der Tür rumoren die Kinder, aber keines traut sich, uns zu folgen. „Das war knapp", schnauft sie, „ich muss gleich wieder 'rein, also vielen, aber vielen, vielen Dank - wir sehen uns ja nächste Woche wieder beim „Runden Tisch Asyl." Und dann, leiser: „Ich hätte nie gedacht, dass ein Professor das so hinbekommt! Eigentlich habe ich Sie nur gefragt, weil Sie so groß geraten sind, und mir fiel niemand anders ein." Die magere, von Sorgen gezeichnete schwäbische Protestantin hebt den Blick und strahlt mich an, schiebt mich dabei aber schon wieder auf die Straße, und im Nu bin ich allein mit Dunkelheit und Schneematsch. Ich bin erleichtert und mache mich auf den Weg nach Hause, mein Outfit ist mir in diesem Moment egal. Was für ein Glück, dass ich die alten Bundeswehrstiefel dabeihatte. Sie stammen vom Flohmarkt, früher habe ich sie zur Gartenarbeit benutzt, und der Zigeunerbesen stammt von einem Korbflechter im Hunsrück. So etwas haben nicht mehr alle Leute im Keller stehen. Als Pubertierender erlebte ich die Straßenunruhen der späten 1960er Jahre - eine gewisse Leidenschaft für ländliches derbes Schuhzeug und grobe Instrumente blieb zurück, ein Faible für Wanderstöcke, Knüppel, Hexenbesen und Schlimmeres aus dem Arsenal der Gärtner und der alten Krieger. Erst Wochen später habe ich begriffen, dass diese Kinder zum großen Teil aus muslimischen Familien stammten. Die Grundlage unserer Verständigung war aber nicht die christliche Lehre von der Geburt des Herrn, sie lag in Körperarbeit, Landarbeit, Gewalterfahrungen und familiären Tabuisierungen - und in dem Wunsch, auch mal etwas Schönes geschenkt zu bekommen, einfach so. Und das war ja passiert, die Kinder hatten mich reich beschenkt.
Weihnachtsmann ist Kult
Es ist Hochsommer. Ich hole Britta von einem Fortbildungsseminar ab, das an einem brandenburgischen See stattgefunden hat. Wir machen eine Wanderung nach Himmelpfort. Es soll dort religiöse Geheimnisse geben! Wir erwandern uns ein großes, an der Schleuse zwischen Haussee und Stolpsee gelegenes Gelände. Schon von weitem erkennt man dort die Ruinen der verfallenen Klostergebäude. Coeli porta, Himmelpfort, 1299 vom brandenburgischen Herrschergeschlecht der Askanier zur Kolonisierung der Landschaft gegründet, besaß zehn Mühlen und 39 Seen. Die Techniker und Arbeiter des Zisterzienser- Ordens siedelten immer gerne an Orten, wo sie die Bewässerung der umliegenden Ebenen kontrollieren konnten. Wasser, gut kontrolliertes Wasser, nicht zu viel und nicht zu wenig, war damals eines der kostbarsten Güter und ist es noch heute. Die genialen mönchischen Ackerbauern haben Sankt Nikolaus ganz besonders verehrt, den Heiligen des Wassers, der Seefahrer und der freien Wege. Ihre zentrale Schulungsstätte war 1385-1582 das Kollegium zum Hl. Nikolaus in Wien.
Wir entern Himmelpfort, ermüdet von der Wanderung. Auch das Weihnachtspostamt mit seinen Informationsschildern kann uns nicht vom Weg zur nächsten Quelle von Flüssigkeit und Nahrung abbringen. Wir landen im Gemeinschaftshaus des kleinen, stark auf Tourismus angewiesenen Luftkurortes. Vor lauter Hunger entgeht uns erst, was wir dort alles sehen können, ein Weihnachtszimmer mit Schlitten, maskierten Santa-Puppen und geschmückten Kunsttannen, und eine Tafel, aus der hervorgeht, dass sich die Zahl der Briefe, die im Weihnachtspostamt eingehen, zwischen den Jahren 1985 und 2008 sehr gesteigert hat: von drei auf zweihundertachtzigtausend! 20 Mitarbeiterinnen beschäftigt die Post von Himmelpfort im Winter, um jedem Kind eine vorgestanzte Antwort unter seinem Namen zukommen zu lassen. In der Spätphase der DDR wurden das Weihnachtsfest und der damit verbundene Konsum auch offiziell geduldet. Die Weihnachtsfeiertage abzuschaffen hatte man ohnehin nie gewagt. Himmelpfort war schon seit den 1920er Jahren Luftkurort, und ab den 1950er Jahren gab es dort zahlreiche Schulungsstätten gesellschaftlicher Organisationen der DDR, verbunden mit viel Fremdenverkehr. Manche Besucher werden sich gefragt haben, warum der Ort diesen seltsamen Namen trägt. Vielleicht hatten einige auch von den Weihnachtspostämtern gehört, die es schon seit Jahrzehnten im Westen gab. Die ersten Briefe kamen aus Sachsen und Berlin. Postfrau Kornelia „Konni" Matzke brachte es anscheinend nicht über sich, sie als unzustellbar zurückzuschicken. So fing es an, und jedes Jahr kamen mehr Briefe. 1989 wurde die „Weihnachtspost Himmelpfort" in die Wendezeit hinübergerettet, ein im Jahre 1991 ausgestrahlter Bericht im damaligen DFF-Fernsehen zeigte große Wirkung. Heute gehört Himmelpfort zu den acht großen Weihnachtspostämtern Deutschlands, man findet sie zum Beispiel in Himmelsthür in Niedersachsen, in Himmelstadt in Bayern und im nordrhein-westfälischen Engelskirchen. Die Leiterin des Gemeinschaftshauses von Himmelpfort ist eine sportlich gekleidete Frau um die fünfzig, blass, das Gesicht in strenge Falten gelegt. Als Britta und ich uns bei Kaffee und Broten erholt haben, fällt uns wieder ein, dass wir ja Ethnologen sind. Wir versuchen, die Gastgeberin auszufragen. Doch wir beißen auf Granit. „Stimmt es, dass hier sogar ein Schauspieler angestellt wurde, der im November und Dezember den Weihnachtsmann spielt?" (Das hatten wir vom Nebentisch gehört) - „Dazu kann ich Ihnen nichts sagen, ich kann Ihnen nur eins sagen, nämlich dass Weihnachtsmann hier bei uns im Hause ist." Es könnten ja Kinder mithören, und sie könnten dabei auf die Idee kommen, dass der Weihnachtsmann ein Schauspieler ist. „Wie schaffen es die Frauen, in wenigen Wochen je über 10 000 Briefe zu beantworten?" Unsere Gesprächspartnerin spielt ihre Rolle in aller Ruhe weiter. „Fragen sie bei der Pressestelle der Post! Die machen das hier!" Die Post will das Briefeschreiben in das Zeitalter des Internet retten, sie verdient an jedem Postverkehr. Wir fragen: „Ach so, die Post verdient daran?" - „Ich sage Ihnen, Weihnachtsmann ist hier bei uns im Haus, ab Mitte November, und wenn Sie wollen, können Sie ihn hier erleben." Sie sagt „Weihnachtsmann" und nicht „der Weihnachtsmann" - in demselben Ton sprechen gläubige katholische und evangelische Christen oft von „Kirche", anstatt „die Kirche" zu sagen wie die anderen. Unbeirrt schaut sie uns dabei an mit ihren hellblauen Augen. Auch die vom Heimatverein Himmelpfort erstellte Broschüre „Lieber guter Weihnachtsmann" hält sich streng an diesen Tonfall: „Zum großen Bedauern von Weihnachtsmann und seinen Helferinnen vergessen doch recht viele Briefschreiber, ihren Absender anzugeben, selbst Kindergärtnerinnen und Muttis passiert so etwas. Man weiß hier um die Enttäuschung derer, die keine Antwort bekommen und man bemüht sich um eine Lösung. Da schlägt die große Stunde von ,Oberengel Konni‘, die sich über Telefonauskünfte, Einwohnermeldeämter, Postleitzahlenverzeichnisse ... bemüht, den Wohnsitz der Briefschreiber zu ermitteln, manchmal leider vergeblich ..."
So steht es mit dem Kult um Weihnachtsmann. Weltweit scheinen ihn viele Kinder für eine reale Figur zu halten, sie sind zwischen dem zweiten und dem sechsten, siebten Lebensjahr, manchmal auch noch etwas älter. In Berlin stammen die Eltern dieser Kinder aus deutschen christlichen oder auch unchristlichen Familien, aus Familien der türkisch- islamischen, der arabisch-sozialistischen oder der arabisch-islamischen Tradition und aus hundert und mehr weiteren Religionen, Lebensstilen und Traditionen. Eltern oder Alleinerziehende, KindergärtnerInnen oder HeimerzieherInnen aus dem Deutschland der 2000er Jahre würden lügen, wenn sie behaupten wollten, dass sie es nicht irgendwann mit Weihnachten und dem Weihnachtsmann zu tun bekommen - und sei es nur in der Form banger oder frecher Fragen der Kinder, die nicht aus christlichen Traditionen stammen und wissen wollen, was das soll und ob sie auch etwas abbekommen werden beim großen Geschenkefest der deutschen Ureinwohner. Allerdings habe ich in Berlin noch nie einen erwachsenen Menschen getroffen, der ernsthaft von der Existenz des Weihnachtsmannes überzeugt war. Manchmal ist es gut, sich in einem fernen Spiegel zu sehen, so fern, dass man sich im ersten Moment kaum wiedererkennt. Der Kult von Weihnachtsmann hat vieles von einer Religion: Gläubige (Kinder); zahlreiche weitere Anhänger, die vielleicht früher geglaubt haben, aber nicht unbedingt von allen Glaubenssätzen dieser Religion überzeugt sein müssen. Es gibt heilige Legenden und Glaubenssätze, die man nachsprechen muss, Abzeichen, rituelle Vorschriften, Statuen und Verkleidungen, Zeremonien und ethische Vorschriften. Offiziell sind die im 20. Jahrhundert geformten Kulte um Weihnachtsmann (oder Babbo Natale, Père Noël usw.), um den USamerikanischen Santa Claus und das in allen Regionen der ehemaligen Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken bekannte „Väterchen Frost" jedoch nicht als Religion erkannt oder anerkannt. Die Anhänger dieser Bräuche würden auch niemals verlangen, dass ihre Kulthandlungen in den Rang einer Religion erhoben werden, dass ihre Gesandten an den Verhandlungen des Ökumenischen Rates der Weltreligionen teilnehmen müssten und Ähnliches. Es handelt sich um eine Religion, die dadurch gekennzeichnet ist, dass man zunächst selbst daran glaubt, dann eines Tages den Glauben verliert, doch das nur, um ein paar Jahre später wieder andere in ihrem Glauben zu bestärken. Viele nichtgläubige Förderer des Glaubens an Weihnachtsmann haben als Kinder nicht einmal selbst geglaubt, wenn sie z.B. aus der Türkei stammen oder aus Ostdeutschland. Wie bei jeder Religion gibt es scheinbar absurde Grundsätze, die von den religiösen Praktikern nicht diskutiert werden. Ein alter Mann, irgendwo am Nordpol beheimatet, soll in einer einzigen Nacht des Jahres allen Kindern der Welt Geschenke bringen? Er soll Millionen von Briefen lesen, die aus Weihnachtspostämtern sämtlicher herkömmlicher Industriestaaten von Bayern bis Alaska an ihn weitergeleitet werden? Selbst wenn flugbegabte Rentiere wirklich seinen Schlitten durch die Lüfte ziehen würden, wie wäre das machbar? Weihnachtsmann erscheint als übernatürliche Macht, die irgendwo zwischen Glauben und Nichtmehrglauben aktiv wird und fliegt und schenkt. Manche sagen, hier würde einfach die materielle Macht der Konsumgesellschaft verzaubert und verschleiert. Aber hinter diesem Brimborium scheint wiederum die Macht der Selbstlosigkeit und der Fürsorge zu stehen, welche Eltern ihren Kindern oder alle Erwachsene allen Kindern der Welt entgegenbringen wollen oder sollten, und gerade nicht kalte Berechnung. Warum verstecken sich Eltern und Erzieher hinter einer idealen Gestalt, hinter dem alten Mann? Jenseits der rein materiellen Interessen einzelner Menschen werden Zukunftshoffnungen sichtbar, Wünsche nach ewiger Fortsetzung des Lebens. Ähnlichen Wünschen und Hoffnungen unserer prähistorischen, antiken, mittelalterlichen und neuzeitlichen Vorfahren verdanken wir, dass wir heute da sein können. Religionen sind Aussagen und Handlungen, die sich auf etwas beziehen, was nicht zur Natur und Kultur der Menschen gehört - Nichtalltägliches, Unreales, Übermächtiges. Doch ihre Überzeugungskraft ziehen sie in paradoxer Weise aus dem Beweis der Wirkung des Übernatürlichen in unseren Hirnen und Körpern, in der materiellen Realität. Jede Aussage über das Natürliche, das Reale, grenzt das Natürliche vom Übernatürlichen ab - und bestätigt dadurch irgendeine Form der Existenz dieses religiösen Anderen, und sei es nur in der Form der Verneinung oder Abgrenzung. Jede noch so kritische Aussage über Religion nimmt Religion in irgendeiner Weise ernst, und sei es als „Phantasie", als falsches Denken, als Ausdruck von Ängsten und Wünschen oder als Kapriole des Gehirns.
Richtige Religion?
Es kann zum Beispiel damit beginnen, dass ein durch und durch unreligiöser Mensch in einem Moment der Verunsicherung oder Not zu beten beginnt, Kerzen stiftet, sich an religiöse Lieder erinnert oder an sehr seltsame Heilmittel, die eher aus Wörtern bestehen als aus Pillen. Religion beginnt beim Geben, Beten, Bitten und Wünschen: Sei unser Gast, iss' mit uns, sing' mit uns, oder lass' uns nur ein bisschen zusammen vor dem Fernsehapparat sitzen - Guten Appetit, Gute Besserung, Frohe Ostern, oder eben: Frohe Weihnachten. Als wenn man die Realität durch das Wünschen beeinflussen könnte. Mehr oder weniger fromme Wünsche zielen auf übernatürliche, nicht einfach nachvollziehbare Wirkungen. Kaum jemand glaubt ernsthaft, dass Wünsche eine direkte und überprüfbare Wirkung haben - aber wir tun „es", wir wünschen. Um gute Laune zu stiften, wünscht man sich gegenseitig das Beste zu Feiertagen, gutes Gelingen. Man wünscht sich das in dem Moment auch für sich selbst, und die Wunschäußerung wird auch meistens schnell vom Nächsten erwidert. Magie wirkt immer am stärksten auf den Magier selbst, der durch seine Zauberkünste Zuversicht gewinnt. „... Frohe Festtage ... season's greetings ..." Wir wünschen uns Wunscherfüllung, denn Weihnachten werden vor allem Geschenke verteilt, von Weihnachtsmann persönlich, als Garant des Glücks und des immergleichen immergrünen Festivals der Schenkenden. Religionen können immer wieder Konjunktur haben; wenn man denkt, sie seien am Ende, kommen sie am anderen Ende schon wieder ins Spiel. Sie werden immer wieder neu erfunden, neu erwünscht, wenn es so weit ist, dass die Menschen wieder zu Kindern werden.
Das finde ich faszinierend an diesem Fest „Weihnachten", „Christmas" oder, bis zur Unkenntlichkeit des christlichen Gehalts verkürzt: „X-mas". So, wie es heute in den westlichen Gesellschaften und in vielen nichtwestlichen Gegenden der Welt gefeiert wird, hat es sich von den christlichen Kirchen abgelöst, es ist kein Zeichen von Religion im klassischen Sinne des Wortes. Evangelische und katholische Kirchenvertreter polemisieren sogar oft gegen den „Konsumismus", der sich heute mit Weihnachten verbindet. Nachdem die christlichen Kirchen das Fest lange Zeit getragen, kultiviert und genutzt haben, wollen sie es heute manchmal loswerden. Man kann ihre Gründe nachvollziehen, auch wenn man kein Christ ist. Aber wenn wir uns mit Weihnachtsfeiern in den Börsenhochhäusern von Shanghai oder mit dem Kinderglauben in Berliner Tagesstätten beschäftigen, lernen wir vielleicht auch vieles über „richtige Religion". Das Fest lebt aus lokalen und familiären Traditionen heraus, breitet sich aber immer weiter aus, über viele verschiedene Kulturen hinweg. Weihnachten ist offensichtlich ein Kult des Kaufens und Konsumierens, aber die Gaben und Dienstleistungen werden gegeben, ohne dass man deren Wert und die Gegengabe genau kalkuliert. Das hat mit Kommerz wieder gar nichts zu tun. Viele Teilnehmer und Teilnehmerinnen an diesem Fest haben kaum eine Gegengabe zu bieten, es sei denn etwas „Selbstgebasteltes". Es lohnt sich, dieses eigenartige Fest zu erforschen, so, wie die fremdartigen Riten der Eingeborenen von Ethnologen erforscht worden sind. Man lernt dabei die menschliche Gier besser kennen, aber auch Freigiebigkeit, Altruismus, Fanatismus, Materialismus und die Macht der Phantasie. Viele wollen sich gerne bereichern an Weihnachten oder politisch mit diesem Fest glänzen, aber letztlich lebt nur das Fest weiter, in seiner Großzügigkeit und Wärme.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Ich werde Euch die Geschichte vom Weihnachtsmann erzählen. Schon knackt das Eis unter meinen Stiefeln. Es ist spät geworden, bald wird es dunkel sein. Ich trabe los, im dicken roten Mantel, ein künstlicher Bart kitzelt mein Gesicht. Die rote Zipfelmütze ist mein Signal, von weither schon starren die Leute mich an. Doch wenn ich näher komme, verliert sich ihr Blick in meinem Bart, um schließlich an den Stiefeln hängen zu bleiben. Ich bin ein Mensch, der sonst eher schlendert oder schleicht, aber jetzt setze ich Fuß auf Fuß, Hacke auf Hacke, stapfe durch das Gerinnsel aus Eis und Matsch, aus Asche und Kies. Ständig habe ich das Gefühl, bergauf zu gehen, das liegt wohl an Mantel und Sack, die an meinem Rücken ziehen. Ich schwinge meinen Zigeunerbesen, dick und schwer, das bringt das vordere Ende meiner Maskerade wieder in Schwung. Ich bin zu einer Figur geworden: Weihnachtsmann, Santa Claus. Als ich einen Jugendlichen mit Hiphop-Kutte und Banditenhosen überhole, zieht er instinktiv den Kopf ein, schielt unter der Kutte hervor auf meine Stiefel und auf den Besen. Ohne dass ich darüber nachgedacht hätte, dringt ein dumpfes Lachen aus meiner Kehle. „Ho-Ho-Ho". Hinter mir bleibt es still.
Weiter geht's, in der Vorstadt sind die Straßen menschenleer. Vernachlässigte Mietshäuser der 1920er Jahre wechseln sich ab mit hübsch ökologisch erneuerten schwäbischen Einfamilienhäusern an beengten Kleingärten voll winterlichem Mulm und abgetragenem Gehölz. Ich kenne mich nicht mehr, im Schwung der Maskerade nehme ich die Kurve zu der halb verlassen liegenden alten Sägerei. Meine behandschuhte Faust kommt mir vor wie ein Stück von einem anderen Menschen. Mit hohlem Schlag lässt diese Hand die verquollene Holztür eines Gebäudes zittern, das vielleicht einmal dazu gedient hat, den Weg frisch geschlagener Schwarzwälder Tannenstämme in die halbstaatliche Holzindustrie des Deutschen Reichs zu bahnen. Schweigen im eisigen Wind, von irgendwoher kreischt eine einsame Säge. Dann öffnet sich die Tür einen Spalt. „Pssst, die Kinder sind schon hinten." Auch Frau Hohlers Blick zielt nach unten: „Ha, Ha, wo haben Sie nur diese Stiefel her ... und der Besen, richtig echt, ist ja toll!" Hastig füllen wir weitere Geschenke in den Sack aus Rupfen. Es hatte Tage gedauert, bis ich den ergattern konnte, in einem alten Haushaltsgeschäft. Frau Hohler drückt mir einen Zettel in die Hand, der in Großschrift Namen und Eigenschaften der Kinder auflistet. „Woran erkenne ich, wer was bekommt?" - „Das ist egal, die können ja tauschen!" Sie zieht mich den dunklen Gang entlang zu einer Tür, aus deren Ritzen helles Licht dringt und verhaltenes Gemurmel. Jetzt bin ich ganz und gar Klaus. Tief sauge ich die vom künstlichen Bart gefilterte Luft ein, auf der Zunge habe ich weiße Fasern aus chinesischem Plastik. Mit einem Ruck öffnet Frau Hohler die Tür - vor mir ein hell erleuchteter Raum mit Tannenbaum im vollen Schmuck und zwanzig aufgeregte Kinder. Die Kleinen starren freudig-verkrampft auf meine Gesichtsmaske. Die Größeren mustern meine Stiefel.
Es läuft wie am Schnürchen, „Ho-Ho-Hooo!" rufe ich. Die Kinder nicken verständig, das haben sie erwartet, wie ein gebildetes Konzertpublikum bei der Vorführung eines gelungenen Streichquartetts den Auftakt erwartet. Als Konsumenten amerikanischer Videos wissen sie, was „Ho" bedeutet (was denn eigentlich?), nur bei den deutschen Weihnachtsliedern schnallt die Mehrheit schon wieder ab. Dann singen sie aber doch, „Oh Tannenbaum ...", mal in schwachem, mal in trittfesterem Deutsch, offensichtlich haben sie das vorher geübt. Sie singen mit hohen, dünnen, dunklen und tiefen Stimmen, doch nicht alle singen mit. Dann Stille. Betreten schauen wir uns an, schnell drückt Frau Hohler mir die Liste in die Hand und das erste Geschenk. „Fitim, du hast dich gut in das Heimleben eingefügt, aber manchmal bist du noch zu wild, das kann besser werden! Und hier ist dein Geschenk!" Ein Gesicht leuchtet mir über den störenden Bartflausen zu, hell wie ein Scheinwerfer. Noch nie habe ich ein so hell strahlendes Gesichtchen gesehen. Weiter geht es, neue Leuchtegesichter drängen in meinen von der Maske beengten Gesichtskreis: „Roza und Luftar, ihr dürft nicht immer streiten - sonst seid ihr doch so liebe Kinder. Bald kommt euer Papa aus dem Kosovo, was soll der nur dazu sagen ... und hier sind Geschenke für euch, vom Weihnachtsmann persönlich!" Roza reißt die Verpackung von Luftars Geschenk auf, Luftar zerrt an Roza, und schon wollen sie wieder streiten. Nach den Leuchtegesichtern mache ich nun eine zweite Entdeckung: Wenn ich die Hand an meinen alten Zigeunerbesen lege, ist sofort Ruhe. „Ruhe!", ruft auch Frau Hohler in die Stille. Dann geht es weiter mit Lauresha, Serkan, Yasemin und Alban. Mir gegenüber, gerade noch sichtbar am Rand des beengten Gesichtskreises der Maske, steht ein größerer Junge. Schritt für Schritt rückt er näher. Als der Streit zwischen Roza und Luftar wieder aufkeimt und ich abgelenkt bin, macht er Ernst: „Du bist doch gar nicht der Weihnachtsmann." Alle Kinder schauen auf meine Füße, dann auf Ramiz. „Doooch!", heult Adelina, aber Ramiz tritt den letzten Schritt vor und greift in den Sack, den Frau Hohler in den Händen hält. Meine Reaktion ist nicht überlegt, plötzlich zeigt der struppige Besen nicht mehr nach unten, sondern nach oben. Und ebenso plötzlich hat Ramiz sich in die hinterste Ecke des Raums verkrümelt. Er kommt erst wieder hervor, als ich ihn aufrufe, brav holt er sich seine Gabe bei Frau Hohler ab. Im Vorbeigehen schaut er auf den Besen und versucht einen Blickkontakt mit meinen hinter der Maske gleißenden Augen. Ich brauche nur mit dem Besen zu rucken, da haut er wieder ab, und hinter ihm her, wie ich jetzt erst bemerke, zwei kleine Kerlchen, die sich unterhalb des Gesichtskreises meiner Maske an den Manteltaschen zu schaffen gemacht hatten. „Ruhe!", ruft Frau Hohler. Dann werden noch einige Geschenke nachverhandelt, und ich verspreche Luftar, von Frau Hohler beflüstert, dass er morgen einen Ball bekommt. Wieder rücken die Kinder näher und starren neugierig auf meine Schuhe, meine Hände. Ich straffe meine Körperhaltung. Da leuchten die Gesichter auf, sie schauen hoch zu meinen Augen, und wir singen. Jahre später werde ich eine Art Gebrauchsanweisung lesen, die der amerikanische Santa-Claus-Darsteller Bob Litak für solche Gelegenheiten verfasst hat: „Es wird ihnen vielleicht schon aufgefallen sein, dass Kinder oft den Blick senken, wenn sie Santa begegnen. Wir Erwachsenen ... gehen immer davon aus, dass dies ein Ausdruck von Scheu ist. Wie falsch ..., sie schauen nur nach seinen Stiefeln, sie benutzen die Stiefel als eine Art Barometer, an dem sie die Identität des Santa-Darstellers messen wollen." Ja, das ist mir aufgefallen. Ramiz kommt schon wieder auf mich zu, diesmal macht er ein entschlossenes Gesicht. Ich trapse mit dem Stiefel, er zögert - und schaut auf den Boden, auf meine Stiefel. Frau Hohler, resolut und erfahren, wie es die Leiterin einer Familienunterkunft für Flüchtlinge und Asylsuchende in Schwaben nur sein kann, zieht mich auf den Gang. Hinter der Tür rumoren die Kinder, aber keines traut sich, uns zu folgen. „Das war knapp", schnauft sie, „ich muss gleich wieder 'rein, also vielen, aber vielen, vielen Dank - wir sehen uns ja nächste Woche wieder beim „Runden Tisch Asyl." Und dann, leiser: „Ich hätte nie gedacht, dass ein Professor das so hinbekommt! Eigentlich habe ich Sie nur gefragt, weil Sie so groß geraten sind, und mir fiel niemand anders ein." Die magere, von Sorgen gezeichnete schwäbische Protestantin hebt den Blick und strahlt mich an, schiebt mich dabei aber schon wieder auf die Straße, und im Nu bin ich allein mit Dunkelheit und Schneematsch. Ich bin erleichtert und mache mich auf den Weg nach Hause, mein Outfit ist mir in diesem Moment egal. Was für ein Glück, dass ich die alten Bundeswehrstiefel dabeihatte. Sie stammen vom Flohmarkt, früher habe ich sie zur Gartenarbeit benutzt, und der Zigeunerbesen stammt von einem Korbflechter im Hunsrück. So etwas haben nicht mehr alle Leute im Keller stehen. Als Pubertierender erlebte ich die Straßenunruhen der späten 1960er Jahre - eine gewisse Leidenschaft für ländliches derbes Schuhzeug und grobe Instrumente blieb zurück, ein Faible für Wanderstöcke, Knüppel, Hexenbesen und Schlimmeres aus dem Arsenal der Gärtner und der alten Krieger. Erst Wochen später habe ich begriffen, dass diese Kinder zum großen Teil aus muslimischen Familien stammten. Die Grundlage unserer Verständigung war aber nicht die christliche Lehre von der Geburt des Herrn, sie lag in Körperarbeit, Landarbeit, Gewalterfahrungen und familiären Tabuisierungen - und in dem Wunsch, auch mal etwas Schönes geschenkt zu bekommen, einfach so. Und das war ja passiert, die Kinder hatten mich reich beschenkt.
Weihnachtsmann ist Kult
Es ist Hochsommer. Ich hole Britta von einem Fortbildungsseminar ab, das an einem brandenburgischen See stattgefunden hat. Wir machen eine Wanderung nach Himmelpfort. Es soll dort religiöse Geheimnisse geben! Wir erwandern uns ein großes, an der Schleuse zwischen Haussee und Stolpsee gelegenes Gelände. Schon von weitem erkennt man dort die Ruinen der verfallenen Klostergebäude. Coeli porta, Himmelpfort, 1299 vom brandenburgischen Herrschergeschlecht der Askanier zur Kolonisierung der Landschaft gegründet, besaß zehn Mühlen und 39 Seen. Die Techniker und Arbeiter des Zisterzienser- Ordens siedelten immer gerne an Orten, wo sie die Bewässerung der umliegenden Ebenen kontrollieren konnten. Wasser, gut kontrolliertes Wasser, nicht zu viel und nicht zu wenig, war damals eines der kostbarsten Güter und ist es noch heute. Die genialen mönchischen Ackerbauern haben Sankt Nikolaus ganz besonders verehrt, den Heiligen des Wassers, der Seefahrer und der freien Wege. Ihre zentrale Schulungsstätte war 1385-1582 das Kollegium zum Hl. Nikolaus in Wien.
Wir entern Himmelpfort, ermüdet von der Wanderung. Auch das Weihnachtspostamt mit seinen Informationsschildern kann uns nicht vom Weg zur nächsten Quelle von Flüssigkeit und Nahrung abbringen. Wir landen im Gemeinschaftshaus des kleinen, stark auf Tourismus angewiesenen Luftkurortes. Vor lauter Hunger entgeht uns erst, was wir dort alles sehen können, ein Weihnachtszimmer mit Schlitten, maskierten Santa-Puppen und geschmückten Kunsttannen, und eine Tafel, aus der hervorgeht, dass sich die Zahl der Briefe, die im Weihnachtspostamt eingehen, zwischen den Jahren 1985 und 2008 sehr gesteigert hat: von drei auf zweihundertachtzigtausend! 20 Mitarbeiterinnen beschäftigt die Post von Himmelpfort im Winter, um jedem Kind eine vorgestanzte Antwort unter seinem Namen zukommen zu lassen. In der Spätphase der DDR wurden das Weihnachtsfest und der damit verbundene Konsum auch offiziell geduldet. Die Weihnachtsfeiertage abzuschaffen hatte man ohnehin nie gewagt. Himmelpfort war schon seit den 1920er Jahren Luftkurort, und ab den 1950er Jahren gab es dort zahlreiche Schulungsstätten gesellschaftlicher Organisationen der DDR, verbunden mit viel Fremdenverkehr. Manche Besucher werden sich gefragt haben, warum der Ort diesen seltsamen Namen trägt. Vielleicht hatten einige auch von den Weihnachtspostämtern gehört, die es schon seit Jahrzehnten im Westen gab. Die ersten Briefe kamen aus Sachsen und Berlin. Postfrau Kornelia „Konni" Matzke brachte es anscheinend nicht über sich, sie als unzustellbar zurückzuschicken. So fing es an, und jedes Jahr kamen mehr Briefe. 1989 wurde die „Weihnachtspost Himmelpfort" in die Wendezeit hinübergerettet, ein im Jahre 1991 ausgestrahlter Bericht im damaligen DFF-Fernsehen zeigte große Wirkung. Heute gehört Himmelpfort zu den acht großen Weihnachtspostämtern Deutschlands, man findet sie zum Beispiel in Himmelsthür in Niedersachsen, in Himmelstadt in Bayern und im nordrhein-westfälischen Engelskirchen. Die Leiterin des Gemeinschaftshauses von Himmelpfort ist eine sportlich gekleidete Frau um die fünfzig, blass, das Gesicht in strenge Falten gelegt. Als Britta und ich uns bei Kaffee und Broten erholt haben, fällt uns wieder ein, dass wir ja Ethnologen sind. Wir versuchen, die Gastgeberin auszufragen. Doch wir beißen auf Granit. „Stimmt es, dass hier sogar ein Schauspieler angestellt wurde, der im November und Dezember den Weihnachtsmann spielt?" (Das hatten wir vom Nebentisch gehört) - „Dazu kann ich Ihnen nichts sagen, ich kann Ihnen nur eins sagen, nämlich dass Weihnachtsmann hier bei uns im Hause ist." Es könnten ja Kinder mithören, und sie könnten dabei auf die Idee kommen, dass der Weihnachtsmann ein Schauspieler ist. „Wie schaffen es die Frauen, in wenigen Wochen je über 10 000 Briefe zu beantworten?" Unsere Gesprächspartnerin spielt ihre Rolle in aller Ruhe weiter. „Fragen sie bei der Pressestelle der Post! Die machen das hier!" Die Post will das Briefeschreiben in das Zeitalter des Internet retten, sie verdient an jedem Postverkehr. Wir fragen: „Ach so, die Post verdient daran?" - „Ich sage Ihnen, Weihnachtsmann ist hier bei uns im Haus, ab Mitte November, und wenn Sie wollen, können Sie ihn hier erleben." Sie sagt „Weihnachtsmann" und nicht „der Weihnachtsmann" - in demselben Ton sprechen gläubige katholische und evangelische Christen oft von „Kirche", anstatt „die Kirche" zu sagen wie die anderen. Unbeirrt schaut sie uns dabei an mit ihren hellblauen Augen. Auch die vom Heimatverein Himmelpfort erstellte Broschüre „Lieber guter Weihnachtsmann" hält sich streng an diesen Tonfall: „Zum großen Bedauern von Weihnachtsmann und seinen Helferinnen vergessen doch recht viele Briefschreiber, ihren Absender anzugeben, selbst Kindergärtnerinnen und Muttis passiert so etwas. Man weiß hier um die Enttäuschung derer, die keine Antwort bekommen und man bemüht sich um eine Lösung. Da schlägt die große Stunde von ,Oberengel Konni‘, die sich über Telefonauskünfte, Einwohnermeldeämter, Postleitzahlenverzeichnisse ... bemüht, den Wohnsitz der Briefschreiber zu ermitteln, manchmal leider vergeblich ..."
So steht es mit dem Kult um Weihnachtsmann. Weltweit scheinen ihn viele Kinder für eine reale Figur zu halten, sie sind zwischen dem zweiten und dem sechsten, siebten Lebensjahr, manchmal auch noch etwas älter. In Berlin stammen die Eltern dieser Kinder aus deutschen christlichen oder auch unchristlichen Familien, aus Familien der türkisch- islamischen, der arabisch-sozialistischen oder der arabisch-islamischen Tradition und aus hundert und mehr weiteren Religionen, Lebensstilen und Traditionen. Eltern oder Alleinerziehende, KindergärtnerInnen oder HeimerzieherInnen aus dem Deutschland der 2000er Jahre würden lügen, wenn sie behaupten wollten, dass sie es nicht irgendwann mit Weihnachten und dem Weihnachtsmann zu tun bekommen - und sei es nur in der Form banger oder frecher Fragen der Kinder, die nicht aus christlichen Traditionen stammen und wissen wollen, was das soll und ob sie auch etwas abbekommen werden beim großen Geschenkefest der deutschen Ureinwohner. Allerdings habe ich in Berlin noch nie einen erwachsenen Menschen getroffen, der ernsthaft von der Existenz des Weihnachtsmannes überzeugt war. Manchmal ist es gut, sich in einem fernen Spiegel zu sehen, so fern, dass man sich im ersten Moment kaum wiedererkennt. Der Kult von Weihnachtsmann hat vieles von einer Religion: Gläubige (Kinder); zahlreiche weitere Anhänger, die vielleicht früher geglaubt haben, aber nicht unbedingt von allen Glaubenssätzen dieser Religion überzeugt sein müssen. Es gibt heilige Legenden und Glaubenssätze, die man nachsprechen muss, Abzeichen, rituelle Vorschriften, Statuen und Verkleidungen, Zeremonien und ethische Vorschriften. Offiziell sind die im 20. Jahrhundert geformten Kulte um Weihnachtsmann (oder Babbo Natale, Père Noël usw.), um den USamerikanischen Santa Claus und das in allen Regionen der ehemaligen Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken bekannte „Väterchen Frost" jedoch nicht als Religion erkannt oder anerkannt. Die Anhänger dieser Bräuche würden auch niemals verlangen, dass ihre Kulthandlungen in den Rang einer Religion erhoben werden, dass ihre Gesandten an den Verhandlungen des Ökumenischen Rates der Weltreligionen teilnehmen müssten und Ähnliches. Es handelt sich um eine Religion, die dadurch gekennzeichnet ist, dass man zunächst selbst daran glaubt, dann eines Tages den Glauben verliert, doch das nur, um ein paar Jahre später wieder andere in ihrem Glauben zu bestärken. Viele nichtgläubige Förderer des Glaubens an Weihnachtsmann haben als Kinder nicht einmal selbst geglaubt, wenn sie z.B. aus der Türkei stammen oder aus Ostdeutschland. Wie bei jeder Religion gibt es scheinbar absurde Grundsätze, die von den religiösen Praktikern nicht diskutiert werden. Ein alter Mann, irgendwo am Nordpol beheimatet, soll in einer einzigen Nacht des Jahres allen Kindern der Welt Geschenke bringen? Er soll Millionen von Briefen lesen, die aus Weihnachtspostämtern sämtlicher herkömmlicher Industriestaaten von Bayern bis Alaska an ihn weitergeleitet werden? Selbst wenn flugbegabte Rentiere wirklich seinen Schlitten durch die Lüfte ziehen würden, wie wäre das machbar? Weihnachtsmann erscheint als übernatürliche Macht, die irgendwo zwischen Glauben und Nichtmehrglauben aktiv wird und fliegt und schenkt. Manche sagen, hier würde einfach die materielle Macht der Konsumgesellschaft verzaubert und verschleiert. Aber hinter diesem Brimborium scheint wiederum die Macht der Selbstlosigkeit und der Fürsorge zu stehen, welche Eltern ihren Kindern oder alle Erwachsene allen Kindern der Welt entgegenbringen wollen oder sollten, und gerade nicht kalte Berechnung. Warum verstecken sich Eltern und Erzieher hinter einer idealen Gestalt, hinter dem alten Mann? Jenseits der rein materiellen Interessen einzelner Menschen werden Zukunftshoffnungen sichtbar, Wünsche nach ewiger Fortsetzung des Lebens. Ähnlichen Wünschen und Hoffnungen unserer prähistorischen, antiken, mittelalterlichen und neuzeitlichen Vorfahren verdanken wir, dass wir heute da sein können. Religionen sind Aussagen und Handlungen, die sich auf etwas beziehen, was nicht zur Natur und Kultur der Menschen gehört - Nichtalltägliches, Unreales, Übermächtiges. Doch ihre Überzeugungskraft ziehen sie in paradoxer Weise aus dem Beweis der Wirkung des Übernatürlichen in unseren Hirnen und Körpern, in der materiellen Realität. Jede Aussage über das Natürliche, das Reale, grenzt das Natürliche vom Übernatürlichen ab - und bestätigt dadurch irgendeine Form der Existenz dieses religiösen Anderen, und sei es nur in der Form der Verneinung oder Abgrenzung. Jede noch so kritische Aussage über Religion nimmt Religion in irgendeiner Weise ernst, und sei es als „Phantasie", als falsches Denken, als Ausdruck von Ängsten und Wünschen oder als Kapriole des Gehirns.
Richtige Religion?
Es kann zum Beispiel damit beginnen, dass ein durch und durch unreligiöser Mensch in einem Moment der Verunsicherung oder Not zu beten beginnt, Kerzen stiftet, sich an religiöse Lieder erinnert oder an sehr seltsame Heilmittel, die eher aus Wörtern bestehen als aus Pillen. Religion beginnt beim Geben, Beten, Bitten und Wünschen: Sei unser Gast, iss' mit uns, sing' mit uns, oder lass' uns nur ein bisschen zusammen vor dem Fernsehapparat sitzen - Guten Appetit, Gute Besserung, Frohe Ostern, oder eben: Frohe Weihnachten. Als wenn man die Realität durch das Wünschen beeinflussen könnte. Mehr oder weniger fromme Wünsche zielen auf übernatürliche, nicht einfach nachvollziehbare Wirkungen. Kaum jemand glaubt ernsthaft, dass Wünsche eine direkte und überprüfbare Wirkung haben - aber wir tun „es", wir wünschen. Um gute Laune zu stiften, wünscht man sich gegenseitig das Beste zu Feiertagen, gutes Gelingen. Man wünscht sich das in dem Moment auch für sich selbst, und die Wunschäußerung wird auch meistens schnell vom Nächsten erwidert. Magie wirkt immer am stärksten auf den Magier selbst, der durch seine Zauberkünste Zuversicht gewinnt. „... Frohe Festtage ... season's greetings ..." Wir wünschen uns Wunscherfüllung, denn Weihnachten werden vor allem Geschenke verteilt, von Weihnachtsmann persönlich, als Garant des Glücks und des immergleichen immergrünen Festivals der Schenkenden. Religionen können immer wieder Konjunktur haben; wenn man denkt, sie seien am Ende, kommen sie am anderen Ende schon wieder ins Spiel. Sie werden immer wieder neu erfunden, neu erwünscht, wenn es so weit ist, dass die Menschen wieder zu Kindern werden.
Das finde ich faszinierend an diesem Fest „Weihnachten", „Christmas" oder, bis zur Unkenntlichkeit des christlichen Gehalts verkürzt: „X-mas". So, wie es heute in den westlichen Gesellschaften und in vielen nichtwestlichen Gegenden der Welt gefeiert wird, hat es sich von den christlichen Kirchen abgelöst, es ist kein Zeichen von Religion im klassischen Sinne des Wortes. Evangelische und katholische Kirchenvertreter polemisieren sogar oft gegen den „Konsumismus", der sich heute mit Weihnachten verbindet. Nachdem die christlichen Kirchen das Fest lange Zeit getragen, kultiviert und genutzt haben, wollen sie es heute manchmal loswerden. Man kann ihre Gründe nachvollziehen, auch wenn man kein Christ ist. Aber wenn wir uns mit Weihnachtsfeiern in den Börsenhochhäusern von Shanghai oder mit dem Kinderglauben in Berliner Tagesstätten beschäftigen, lernen wir vielleicht auch vieles über „richtige Religion". Das Fest lebt aus lokalen und familiären Traditionen heraus, breitet sich aber immer weiter aus, über viele verschiedene Kulturen hinweg. Weihnachten ist offensichtlich ein Kult des Kaufens und Konsumierens, aber die Gaben und Dienstleistungen werden gegeben, ohne dass man deren Wert und die Gegengabe genau kalkuliert. Das hat mit Kommerz wieder gar nichts zu tun. Viele Teilnehmer und Teilnehmerinnen an diesem Fest haben kaum eine Gegengabe zu bieten, es sei denn etwas „Selbstgebasteltes". Es lohnt sich, dieses eigenartige Fest zu erforschen, so, wie die fremdartigen Riten der Eingeborenen von Ethnologen erforscht worden sind. Man lernt dabei die menschliche Gier besser kennen, aber auch Freigiebigkeit, Altruismus, Fanatismus, Materialismus und die Macht der Phantasie. Viele wollen sich gerne bereichern an Weihnachten oder politisch mit diesem Fest glänzen, aber letztlich lebt nur das Fest weiter, in seiner Großzügigkeit und Wärme.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Thomas Hauschild
Thomas Hauschild (Prof. Dr.) lehrt Ethnologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
Bibliographische Angaben
- Autor: Thomas Hauschild
- 2012, 2. Aufl., 384 Seiten, 8 farbige Abbildungen, 59 Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 15 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 3100300637
- ISBN-13: 9783100300638
- Erscheinungsdatum: 25.10.2012
Rezension zu „Weihnachtsmann “
Die ultimative Studie über den Weihnachtsmann. [...] Frohe Wissenschaft! Jürgen Kaube Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 20121230
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