Wenn die Lichter ausgehen - Geschichten aus dem Dritten Reich
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Wenn die Lichter ausgehen von Erika Mann
LESEPROBE
UNSERE STADT
Das Leben in unserer Stadt gingweiter. Der alte
Marktplatz mit seinen bunten Häusern rund um das
berühmte Reiterstandbild hatte sich seit Jahrhunderten
nicht verändert. Dem zufälligen Besucher bot sich ein
friedliches, zauberhaftes Bild.
EIN FREMDER ging durch die Stadt. Erkannte dort keinen Menschen, und er wußte auch nicht,wohin die Straßen führten. Er spazierte durch die enge Glockenstraße und stießunerwartet auf den alten Marktplatz mit seinen Giebelhäusern und demReiterstandbild. Er war von der schläfrigen Anmut und der außergewöhnlichenStille beeindruckt. Abends um halb zehn kam sie ihm dennoch seltsam vor. Nurdie roten Fahnen an allen Fenstern raschelten leise im Wind. Irgendwo bellteein Hund. Oder war es eine menschliche Stimme, die aus einem fernen Lautsprecherkam?
Der Fremde setzte sich auf dieStufen des Denkmals und sah hinauf zum Himmel. Die Oktobernacht war kalt undklar. Die farbigen Heiligenbilder im Schaufenster des gegenüberliegendenEckladens glänzten silbern im Mondlicht. Es gab kaum ein anderes Licht auf demMarktplatz; die Laternen waren gelöscht; vielleicht aber hatte man sie garnicht erst angezündet. Der Fremde hatte noch immer den Lärm der Reise in denOhren und die Unruhe von Abfahrt und Ankunft im Herzen. Umso mehr sog er nun diefriedliche Luft ein.
Das ist Deutschland, dachte er. Sosind sie, die alten deutschen Städte, so lieblich und bezaubernd. Gestern inBerlin war es ganz anders. Dort konnte man den mächtigen Puls fühlen, dieunermüdliche Energie dieser Menschen, die die Nacht zum Tag macht und diesesLand einmal mehr aus dem Ruin zu Macht und Größe führt. Berlin warstrahlendhell und voller Trubel; die Restaurants waren bis auf den letztenPlatz mit lachenden Menschen besetzt, und niemand schien Sorgen zu haben.Nirgendwo gab es Anzeichen von Angst. Ich hasse dieses Gerede - hierschüttelte er ärgerlich den Kopf -, ich hasse all die dummen Sprüche über den«Terror der Diktatur». Dieser Hitler hat Großes geleistet, und selbst wenn erden Deutschen zu große Opfer abverlangte, sie ließen es sich nicht anmerken.Wie hübsch die roten Fahnen aussehen. Auch über dem kleinen Laden mit denHeiligenbildern weht das Hakenkreuz. Ich bin froh, daßich hier bin, und ich werde sicher zwei, drei Tage bleiben, auch wenn ich indieser Stadt nichts Bestimmtes vorhabe. Der Wind ist erfrischend, so als kämeer direkt aus den Bergen. Und die sind tatsächlich nicht weit; man kann inwenigen Stunden dort sein. Jetzt kommen auch noch ein paar Leute. Sie gehen imGleichschritt - sind das Soldaten, die hier im Mondlichtmarschieren?
Zwei SA-Männer, stämmige Kerle inschmucken braunen Uniformen, kamen die Marktstraße herunter, überquerten denMarktplatz und gingen auf den Fremden zu. Der blieb ruhig auf den Stufensitzen.
«Heil Hitler!» riefen sie undstellten sich vor ihm auf.
«Heil Hitler!» antwortete derFremde, aber er hob nicht den Arm, denn eine plötzliche Befangenheit hielt ihnzurück.
«Erheben Sie sich gefälligst zumdeutschen Gruß!» befahl einer der beiden.
Der Fremde stand gehorsam auf.
«Heil Hitler!» riefen dieUniformierten aufs neue und reckten die Arme nachvorn.
Diesmal erhob auch der Fremde seinenrechten Arm. «Was machen Sie hier?» fragte derjenige, der ihn zuerst angesprochenhatte.
«Nichts», gab der Fremde zurAntwort.
«Nichts?» wiederholte der SA-Mannabfällig. «Stellen Sie sich nicht dümmer, als Sie sind. Sie wissen genau, wasich meine. Warum Sie nicht zuhören, will ich wissen. Gibt's etwa nicht genugLautsprecher in der Stadt? »
Der Fremde zuckte verwirrt dieAchseln. «Zuhören? Lautsprecher?»
Erst jetzt bemerkten die SA-Männerseinen fremdländischen Akzent.
«Ich bitte um Verzeihung», sagte dererste. «Sie sind Ausländer, das haben wir nicht sofort erkannt. Wir haben heutenacht Dienst und sehen unsnach Passanten um, die nicht der Rede des Führers zuhören. Bei Ausländern istdas natürlich etwas anderes. Entschuldigen Sie.»
Der Fremde lächelte. «Bestimmt hätteich zugehört, wenn ich gewußt hätte, daß Herr Hitler eine Rede hält. Sagen Sie», wandte er sichan den Stilleren der beiden, «angenommen, ich wäre Deutscher und Sie hättenmich hier erwischt, was wäre dann mit mir passiert? »
Der SA-Mann zuckte die Achseln.
«Eigentlich nicht viel», meinte er.«Wir hätten Sie auf die Dienststelle mitgenommen. Dort gibt es ein Radio, unddann hätten Sie dort zuhören können. Wir hätten Sie mit einer Verwarnungentlassen. Natürlich ist eine solche Verwarnung kein Kinderspiel. Beim nächstennoch so kleinen Vorkommnis, sagen wir, jemand verdächtigt Sie und zeigt Siean, sind Sie dran - ab ins Konzentrationslager! Und .».
Der erste SA-Mann, dem dervertrauliche Ton seines jüngeren Kameraden offenbar nicht paßte,unterbrach dessen Redefluß mit einer raschen Geste.
«Das reicht!» sagte er. «DasKonzentrationslager muß diesen Herrn nicht kümmern.Wir bitten nochmals um Entschuldigung. Heil Hitler!»
Sie schlugen gleichzeitig die Hackenzusammen, machten kehrt und zogen ab. Vor dem kleinen Laden mit den Heiligenbildernblieben sie kurz stehen. Der Fremde hörte sie lachen; ihre jungen Stimmen schalltenüber den ganzen Marktplatz. Dann verschluckte die Stille nach und nach ihreSchritte.
Schade, dachte der Fremde. Ich hättemir gern die Rede angehört.
Irgend etwas war ihm auf die Stimmunggeschlagen. Die beiden Burschen waren ordentlich und höflich gewesen. Trotzdemhatte ihn das Zusammentreffen bedrückt. Warum hatten sie gelacht, als sie vordem Schaufenster standen? Er ging hinüber und fand einen Zettel am Fenster,den er aus der Ferne nicht hatte sehen können.
«Öffentliches Ärgernis!» war dort zulesen. «Der Führer braucht Soldaten, keine Betschwestern! Nieder mit denscheinheiligen Volksfeinden! Pfaffen raus! Raus! Heil Hitler!»
Der Fremde war wütend undangewidert, als er das las. Dann fand er, daß solcheLumpereien überall möglich seien. Auf der ganzen Welt machte die Jugend solcheDummheiten. Bei mir zu Hause verschlucken sie Goldfische, dachte er. Das istauch nicht viel besser. Trotzdem, warum hatten die beiden Uniformierten denZettel nicht abgenommen? Wahrscheinlich waren sie zu jung und fanden die Sachekomisch. Jedenfalls lasse ich mir von diesem Zettel weder die Laune noch denEindruck von dieser Stadt verderben. Es fröstelte ihn, und er fand, ein Cognac würdeihm guttun.
Die kleine Wirtschaft in derGlockenstraße hallte wider vom Lärm aus dem Lautsprecher. Einige Gäste saßenbeim Bier und lauschten schweigend den Worten ihres Führers. Warum flucht er soviel, fragte sich der Fremde. Er begriff, daß vomWirtschaftswachstum des «Dritten Reiches» die Rede war, einemThema, das eigentlich kaum solche Erregung auslösen konnte. Wie vieleHotelübernachtungen hatte es im letzten Jahr in Deutschland gegeben? Wie viele Papierrollenwaren in Deutschlands Fabriken hergestellt worden? Wie viele Bergwanderungenwaren angeboten worden? Jede dieser Zahlen wurde von der Stimme am Mikrophonherausgeschleudert, als sollte sie die Zuhörer erschüttern und überwältigen.
Der Wirt gähnte laut hinter seinem Tresen.Der deutsche Cognac schmeckte wie parfümierter Methylalkohol, und das StückBrot, um das der Fremde gebeten hatte, war feucht, grau und klebrig.
«Haben Sie Eier? » fragte einer derGäste.
«Nein», meinte der Wirt, «aber Siekönnen den Völkischen Beobachter haben.»
«770841 Industriearbeiter», belltedie Stimme aus dem Radio.
Der Gast, dem man anstelle von Eiernden Völkischen Beobachter angeboten hatte, stand auf, streckte sich,gähnte und sah auf die Uhr.
© RowohltVerlag
Übersetzung:Ernst-Georg Richter
- Autor: Erika Mann
- 2005, 320 Seiten, 11 Abbildungen, Maße: 12,5 x 20,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Richter, Ernst-Georg
- Verlag: Rowohlt, Reinbek
- ISBN-10: 3498044966
- ISBN-13: 9783498044961
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