Wie Phönix aus der Asche
Als 14-jährige muss Annick den grausamen Völkermord in Ruanda hautnah miterleben. Doch sie hat überlebt.
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Produktinformationen zu „Wie Phönix aus der Asche “
Als 14-jährige muss Annick den grausamen Völkermord in Ruanda hautnah miterleben. Doch sie hat überlebt.
Lese-Probe zu „Wie Phönix aus der Asche “
VorwortDieses Buch ist eine Hymne an die Freude. Dabei muss Annick das Schlimmste vom Schlimmsten durchstehen, eine Erfahrung, die nie vergeht, eine ständige Erinnerung, unmöglich zu vergessen - die an den Genozid. Leser, seid achtsam mit dem Wort "Genozid". Eine oft fälschlich gebrauchte Vokabel. Die Tatsache bleibt: Ein seltener Wirbelsturm, an dem die Natur nicht schuld ist. Eine menschliche Katastrophe, zu menschlich, wenn Bewaffnete auf Befehl andere Unbewaffnete ermorden, deren einziges Verschulden es ist, geboren zu sein - als Armenier in der Türkei, als Jude oder Zigeuner in Europa, als Tutsi in Ruanda. Im 20. Jahrhundert, dem grausamsten aller Jahrhunderte, gab es drei. "Der Völkermord geht bis zum bitteren Ende", sagt eine von Jean Hatzfeld befragte ruandische Bäuerin. Die Nazis sprachen von "Endlösung". Das heißt: ein Ende machen. Alle, Armenier, Juden, Zigeuner, Tutsi, müssen von der Weltkugel ausradiert werden. Alle, Frauen, Kinder, Embryos, Männer. Ein Genozid ist eine Entscheidung, ein Plan. So etwas geschieht nicht aus heiterem Himmel. Ostern 1994: Die Hutu-Regierung lässt ihre Armee, ihre Milizen, ihre Anhänger - und Gott weiß, dass sie zahlreich sind - auf die Tutsi-Minderheit los und brüllt: "Tötet sie alle!" In Ruanda, in Äquatorialafrika, erlebt ein vierzehnjähriges Mädchen den Völkermord.
Annick, das hübsche Tutsi-Mädchen, die "Gazelle" ihres Viertels, wird zu einer nichtswürdigen "Kakerlake" degradiert. Sie hält durch, hilft ihrer Schwester, verliert ihre gesamte Familie, ihr Zuhause, ihr Dorf, ihr Land, Freunde und Bekannte. Der Rekord der Mörder: Zehntausend ermordete Tutsi pro Tag innerhalb von drei Monaten, insgesamt eine Million Tote, vielleicht auch mehr. Wie durch ein Wunder geht Annick durch diese Hölle, trotzt der Unmenschlichkeit und nimmt den Schmerz auf sich. Sie erzählt uns das Entsetzliche ohne Pathos, ohne Selbstmitleid und sagt uns, wie sie die absolute Grausamkeit und Gemeinheit der Menschen und schließlich den
... mehr
allgemeinen Egoismus in unserem schönen Europa überlebt. Sie berichtet von dem Abenteuer eines offenbar ganz einfachen Mädchens, das sich nicht nur gegenüber seinen Henkern behauptet, sondern auch davonkommt.
Zu Beginn eine ganz normale Existenz. Nichts Exotisches, nichts typisch Afrikanisches im Leben des "verwöhnten kleinen Mädchens": Kayitesi sagt man auf Kinyarwanda. Diesen Namen haben ihr ihre Eltern bei der Geburt gegeben, und sie trägt ihn bis heute. Am Anfang ist alles gut. Das Haus der Familie ist geräumig und komfortabel: fließend Wasser, Strom, Badezimmer, Küche, Bibliothek. Personal. Der Vater Arzt, die Mutter Krankenschwester, vier Kinder. Aline, die Älteste, ist ein braves Mädchen, Annick, die Jüngere, ein "Frechdachs", Nana, die Kleine, wird von allen geliebt, und gerade ist Aimé, das Nesthäkchen, geboren. Sie sind katholisch getauft und gehen sonntags zur Messe. Jeden Tag radelt Annick zur Schule. Eine glückliche Kindheit. Ländliche Ruhe mit all ihren Nachteilen, Höhen und Tiefen. Das Unglück klopft schon vor dem Massensterben an die Tür. "Das Leben ist nie so gut oder schlecht, wie man glaubt."
Wie die meisten Tutsi hat die kleine Familie die große Katastrophe nicht kommen sehen. Eines Tages im April, mitten in der Karwoche, wird Spéciose, die Mutter, vor den Augen der Kinder von einem Bajonett durchbohrt. Todeskampf ohne Klagen, die letzten Worte sind an ihre Zweitälteste gerichtet: "Du musst leben ..." Bruder, Schwester und Cousinen werden gewaltsam zu den Massengräbern geschafft, wo sie mit der Machete zerstückelt werden. Annick bleibt allein mit Hunderten von Mördern. Steht ihr das gleiche Schicksal wie so vielen anderen - Vergewaltigung, dann der Tod - bevor? Sie fordert die Soldaten heraus: "Seit wann tötet ihr Hutu?" Ihre geringe Körpergröße spricht für sie (die Tutsi sind als großwüchsig bekannt), und sie erfindet schnell einen biologischen Vater, der zur "richtigen Rasse" gehört. Verwirrung bei den Mördern. Um ihren Tod wird man sich später kümmern. Ihr Mut und ihre Schlagfertigkeit haben sie gerettet.
Zahlreiche hervorragende Bücher zeichnen ein Gesamtbild des ungeheuren Gemetzels, das trotz der weltweiten Fernsehübertragungen auf Gleichgültigkeit stieß. Annick erwähnt sie. Doch ihr Bericht ist durch und durch subjektiv und enthüllt das Unvorstellbare aus der Perspektive einer Jugendlichen. Er erinnert an das autobiografische Zeugnis Die Nacht von Elie Wiesel, der im gleichen Alter in die Todeslager kam.
Dieselbe unbefangene Offenheit wie der Junge in Hans Christian Andersens Märchen, der erkannt hat und ausruft, dass der Kaiser nackt ist, während alle Höflinge und Schaulustigen die prächtigen neuen Kleider des Monarchen preisen. Diese Furchtlosigkeit, diesen Scharfsinn, diesen klaren, offenen Blick eines Kindes, dem man nichts vormachen kann, hat Annick auch behalten, als sie die Massengräber unter freiem Himmel besuchte. Ein afrikanisches Mädchen antwortet auf die Frage, die in Europa zwei, drei Generationen quält: Wie kann man nach Auschwitz noch leben, schreiben, lieben? Und auch sie stellt fest, dass das Grauen des Völkermordes die Menschheit teilt. Es gibt die, die mit der Machete töten, und die, die getötet werden. Henker und Opfer können sich nicht vermischen. Beide waren seit einem Jahrhundert in Ruanda, beide waren gute Christen, beide wurden Seite an Seite erzogen und lernten Lesen und Schreiben ... Plötzlich zerbricht diese schöne Gemeinschaft: hier die Mörder und dort die Ermordeten, oft bestimmen Lehrer und Priester, wer von ihren Schülern und Schäfchen in den Tod geschickt wird.
Was bleibt nach einem solchen Erlebnis von der Idee der Menschlichkeit? Das Mädchen stößt auf ein ähnliches Paradoxon, das nach dem Zweiten Weltkrieg verbreitet wurde: "Wie die Pyramiden oder die Akropolis ist Auschwitz ein Faktum, ein Signum des Menschen. Die Vorstellung vom Menschen ist von nun an untrennbar mit einer Gaskammer verbunden" (Georges Bataille).
Die Geschichte gerät ins Straucheln. Das Bild des Menschen wurde in den Schlachthäusern von Ruanda erneut zerstört.
Kein Zweifel, dieses Mädchen ist ungewöhnlich! Sie lässt sich nicht unterkriegen. Statt zu kapitulieren, erfindet sie für sich eine Lebensregel, die dem durchlebten Grauen entspricht. Sie versucht nicht, wie ihr so viele mitleidige Seelen raten, einen Schlussstrich zu ziehen. Sie will nicht durchzappen. Den Hass, den sie in seiner kompromisslosesten Form erlebt hat, erkennt sie auch bei uns in Europa. Er lauert überall, verschleiert und doch jederzeit bereit, seine Klauen auszustrecken, um Gewalt anzuwenden und zu erniedrigen. Sie findet für sich eine Lösung, die der des Poeten Paul Celan sehr ähnlich ist: Es geht nicht darum, "nach" dem Genozid, sondern "im grellen Licht" des Genozids zu denken. Und eine radikale Veränderung in der Beziehung zu sich selbst und zu den anderen zu bewirken. Wenn wir nicht über den Horizont des 21. Jahrhunderts hinausblicken, wird sich die Menschheit durch die Macht des Hasses und durch menschliche Bomben in Stücke reißen - dafür sind Ruanda und der 11. September ein Beweis. Diese neue Erkenntnis deprimiert das Mädchen keineswegs, sondern bringt einen enormen Lebenshunger und eine große Freude mit sich, das Hier und Jetzt durchzuhalten.
Entdecken Sie in dieser klugen Abhandlung die Kunst zu leben. Ihre schlimmsten und ihre besten Seiten enthüllen unsere Zeitgenossen stets am Rande des Abgrunds. Konfrontiert mit Extremsituationen ist ihr Bericht ursprünglicher und wahrhaftiger als im normalen Leben, aber nicht anders. Annick verkörpert in aller Unschuld die Ethik zukünftiger Zeiten. Für sie, die die in der menschlichen Seele schlummernden tödlichen Triebe erlebt hat, ist das Leben nicht eine selbstverständliche Gabe, die durch die natürliche oder göttliche Vorsehung garantiert wird. Das Leben ist vielmehr der Einsatz eines ewig währenden Gefechts.
Das Buch ist eine Hymne an die Freude. Nicht an die Lebensfreude - das zu glauben wäre naiv. Es ist eine Hymne an die Freude zu überleben, die in einem heftigen Kampf errungen wurde und bei jedem Sieg über das Desaster erneut erwacht.
Eines Tages trifft der kleine Prinz Annick Kayitesi: "Zeichne mir einen Genozid", bittet er sie. "Mein Planet ist zu klein, wir haben keinen erlebt." Nachdem sie lange überlegt und an ihrem Bleistift gekaut hat, zeichnet sie eine wunderschöne Blume, die bei uns noch unbekannt ist.
André Glucksmann
1 TEIL
Igitangaza, das Wunderkind
Paris, ein Tag wie jeder andere
Jeden Morgen, bevor ich das Haus verlasse, werfe ich einen prüfenden Blick in den Spiegel und vergewissere mich, dass mein Aussehen nichts zu wünschen übrig lässt. Mein Spiegelbild inspiziert mich aufmerksam. Das glatte Haar im Nacken zusammengebunden, der Blick sanft, aber lebhaft, die Haut straff über den hervorstehenden Backenknochen - alles an mir zeugt von bester Gesundheit, körperlich wie auch seelisch. Man sagt mir Stil und Intelligenz nach. Lieber wäre es mir, ich würde durch Ausgeglichenheit und heitere Gelassenheit auffallen, wie Menschen sie ausstrahlen, die keine noch so harte Prüfung im Leben fürchten. Denn ich habe viel hergegeben und bin daran gewöhnt ...
Wie jeden Tag, wenn ich mich anschicke, die Wohnung zu verlassen, haucht David einen Kuss auf meinen Nacken. David ist mein Verlobter. Wir lieben uns sehr. Wir ergänzen uns. Und wenn ich heute endlich das Glück kennen lerne, so habe ich es zum Teil ihm zu verdanken.
Der Spiegel wirft jetzt unser gemeinsames Bild zurück. Ich, die Afrikanerin mit der dunklen Hautfarbe, gebürtig aus Ruanda, und er, der Athlet mit dem goldblonden Haar und den Augen einer Perserkatze. David ist weiß, seine Muttersprache ist hebräisch, er ist ein Jahr jünger als ich und bereitet sich gerade auf sein Diplom in internationalem Recht vor.
Ich muss mich beeilen. Schnell raffe ich meine Sachen zusammen, öffne die Wohnungstür.
"Annick?"
"Ja?"
Ich drehe mich um. Er lächelt mir zu.
"Einen schönen Tag wünsche ich dir."
"Glaubst du, ich habe noch Zeit?"
Lachend werfe ich mich in seine Arme. Ein letzter Kuss und ich bin schon im Treppenhaus. Auf der Straße lasse ich mich einen Moment von der Frühlingssonne wärmen, die an diesem Tag Anfang März 2004 über den Winter zu triumphieren scheint. Das Licht hat das Grau besiegt, ein azurblauer Himmel bringt mich meinem Land immer ein wenig näher.
Was bedeutet schon die Vergangenheit, die Zukunft: Ich fühle mich schön. Das soll immer so sein, wenn man verliebt ist, habe ich gehört. Und dass David und ich schrecklich verliebt sind, daran besteht kein Zweifel.
Und wie jeden Morgen tauche ich in die Tiefen der Pariser Metro, in die Eingeweide der Hydra mit den vielen Tentakeln, in denen dicke metallene Würmer mit einer kosmopolitischen, bunt gemischten Bevölkerung zirkulieren.
Ich ergattere einen Sitzplatz. Ringsumher schieben, stoßen, drängen sich die Menschen dicht zusammengepfercht in den Wagons. Kein Duft von Blumen oder Pflanzen in diesem unterirdischen Labyrinth. Nur der Geruch nach Schweiß, Staub, Stress und sogar nach Angst. Kaum Farben. Die Menge zieht es vor, sich dunkel zu kleiden. Das Motorengeräusch begleitet die verschlafene Stille der Fahrgäste. Jeder grübelt vor sich hin. Das ist Frankreich, das ist Paris, eine europäische Metropole wie viele andere, morgens, wenn die Bevölkerung ihren Arbeitsweg antritt.
Ich habe heute einen Termin in einem Gymnasium. Seit mehreren Jahren nehme ich an Versammlungen und Konferenzen teil. Dort erzähle ich, was ich im Frühjahr 1994 während des Genozids an den Tutsi - der Ethnie, der ich angehöre - erlebt habe. Ich fasse in Worte, welcher Sturm des Wahnsinns mein Land, Ruanda, ins Chaos und meine Familie - meine Schwester und mich - ins Unglück gestürzt hat.
Wie jedes Mal vor einer solchen Veranstaltung verbiete ich mir nachzudenken. Ich weigere mich, meinen Alltag von Situationen und Ereignissen vergiften zu lassen, die ich nicht zu kontrollieren vermag. Wenn ich Zeugnis ablege, dann nicht, um die Rolle des Opfers zu spielen, sondern um die Mauern der Gleichgültigkeit und des Schweigens, die um diesen Genozid errichtet wurden, niederzureißen.
Aus Liebe und Respekt zu denen, die nicht mehr da sind, bin ich es mir schuldig, besonders intensiv, ja doppelt zu leben. Für mich selbst natürlich, aber vor allen Dingen für sie. Ich will mich nicht vom Leid durchdringen lassen. Das Leben muss immer die Oberhand haben. Deshalb agiere, atme, studiere, liebe ich. Mangelnde Sensibilität lasse ich mir nicht vorwerfen. Dies ist seit langem, seit mehr als zehn Jahren, eine Frage des Überlebens.
Um mich nicht von schmerzhaften Erinnerungen überwältigen zu lassen, sehe ich mich im Abteil um. Meine Augen heften sich auf eine Zeitschrift, die die Frau neben mir liest. Es ist eine gerade in der Elle erschienene Reportage über den Kongo, das ehemalige Zaire, mit dem Titel "Kriegswaffe Vergewaltigung".
Diesen Artikel kenne ich bereits. Er prangert das Drama vieler Frauen an, die Opfer von sexueller Gewalt durch die Interahamwe wurden - jene extremistischen Hutu, die am Genozid in Ruanda beteiligt waren. Mit französischer Unterstützung entkamen sie der vorrückenden FPR, der Front Patriotique Rwandais, und den Tutsi, die inzwischen wieder an der Macht waren. Im Fall ihrer Rückkehr würden sie nicht wirklich verurteilt - die jetzige Tutsi-Regierung hat gar nicht die Mittel dazu.
Doch sie würden Racheakte riskieren und müssten damit rechnen, für ihre Verbrechen zur Verantwortung gezogen zu werden. Deshalb bleiben sie, wo sie sind. Sie leben weiter wie Söldner und verbreiten Panik und Trostlosigkeit ringsumher.Die Geschichte verfolgt mich wirklich ...
Zu Beginn eine ganz normale Existenz. Nichts Exotisches, nichts typisch Afrikanisches im Leben des "verwöhnten kleinen Mädchens": Kayitesi sagt man auf Kinyarwanda. Diesen Namen haben ihr ihre Eltern bei der Geburt gegeben, und sie trägt ihn bis heute. Am Anfang ist alles gut. Das Haus der Familie ist geräumig und komfortabel: fließend Wasser, Strom, Badezimmer, Küche, Bibliothek. Personal. Der Vater Arzt, die Mutter Krankenschwester, vier Kinder. Aline, die Älteste, ist ein braves Mädchen, Annick, die Jüngere, ein "Frechdachs", Nana, die Kleine, wird von allen geliebt, und gerade ist Aimé, das Nesthäkchen, geboren. Sie sind katholisch getauft und gehen sonntags zur Messe. Jeden Tag radelt Annick zur Schule. Eine glückliche Kindheit. Ländliche Ruhe mit all ihren Nachteilen, Höhen und Tiefen. Das Unglück klopft schon vor dem Massensterben an die Tür. "Das Leben ist nie so gut oder schlecht, wie man glaubt."
Wie die meisten Tutsi hat die kleine Familie die große Katastrophe nicht kommen sehen. Eines Tages im April, mitten in der Karwoche, wird Spéciose, die Mutter, vor den Augen der Kinder von einem Bajonett durchbohrt. Todeskampf ohne Klagen, die letzten Worte sind an ihre Zweitälteste gerichtet: "Du musst leben ..." Bruder, Schwester und Cousinen werden gewaltsam zu den Massengräbern geschafft, wo sie mit der Machete zerstückelt werden. Annick bleibt allein mit Hunderten von Mördern. Steht ihr das gleiche Schicksal wie so vielen anderen - Vergewaltigung, dann der Tod - bevor? Sie fordert die Soldaten heraus: "Seit wann tötet ihr Hutu?" Ihre geringe Körpergröße spricht für sie (die Tutsi sind als großwüchsig bekannt), und sie erfindet schnell einen biologischen Vater, der zur "richtigen Rasse" gehört. Verwirrung bei den Mördern. Um ihren Tod wird man sich später kümmern. Ihr Mut und ihre Schlagfertigkeit haben sie gerettet.
Zahlreiche hervorragende Bücher zeichnen ein Gesamtbild des ungeheuren Gemetzels, das trotz der weltweiten Fernsehübertragungen auf Gleichgültigkeit stieß. Annick erwähnt sie. Doch ihr Bericht ist durch und durch subjektiv und enthüllt das Unvorstellbare aus der Perspektive einer Jugendlichen. Er erinnert an das autobiografische Zeugnis Die Nacht von Elie Wiesel, der im gleichen Alter in die Todeslager kam.
Dieselbe unbefangene Offenheit wie der Junge in Hans Christian Andersens Märchen, der erkannt hat und ausruft, dass der Kaiser nackt ist, während alle Höflinge und Schaulustigen die prächtigen neuen Kleider des Monarchen preisen. Diese Furchtlosigkeit, diesen Scharfsinn, diesen klaren, offenen Blick eines Kindes, dem man nichts vormachen kann, hat Annick auch behalten, als sie die Massengräber unter freiem Himmel besuchte. Ein afrikanisches Mädchen antwortet auf die Frage, die in Europa zwei, drei Generationen quält: Wie kann man nach Auschwitz noch leben, schreiben, lieben? Und auch sie stellt fest, dass das Grauen des Völkermordes die Menschheit teilt. Es gibt die, die mit der Machete töten, und die, die getötet werden. Henker und Opfer können sich nicht vermischen. Beide waren seit einem Jahrhundert in Ruanda, beide waren gute Christen, beide wurden Seite an Seite erzogen und lernten Lesen und Schreiben ... Plötzlich zerbricht diese schöne Gemeinschaft: hier die Mörder und dort die Ermordeten, oft bestimmen Lehrer und Priester, wer von ihren Schülern und Schäfchen in den Tod geschickt wird.
Was bleibt nach einem solchen Erlebnis von der Idee der Menschlichkeit? Das Mädchen stößt auf ein ähnliches Paradoxon, das nach dem Zweiten Weltkrieg verbreitet wurde: "Wie die Pyramiden oder die Akropolis ist Auschwitz ein Faktum, ein Signum des Menschen. Die Vorstellung vom Menschen ist von nun an untrennbar mit einer Gaskammer verbunden" (Georges Bataille).
Die Geschichte gerät ins Straucheln. Das Bild des Menschen wurde in den Schlachthäusern von Ruanda erneut zerstört.
Kein Zweifel, dieses Mädchen ist ungewöhnlich! Sie lässt sich nicht unterkriegen. Statt zu kapitulieren, erfindet sie für sich eine Lebensregel, die dem durchlebten Grauen entspricht. Sie versucht nicht, wie ihr so viele mitleidige Seelen raten, einen Schlussstrich zu ziehen. Sie will nicht durchzappen. Den Hass, den sie in seiner kompromisslosesten Form erlebt hat, erkennt sie auch bei uns in Europa. Er lauert überall, verschleiert und doch jederzeit bereit, seine Klauen auszustrecken, um Gewalt anzuwenden und zu erniedrigen. Sie findet für sich eine Lösung, die der des Poeten Paul Celan sehr ähnlich ist: Es geht nicht darum, "nach" dem Genozid, sondern "im grellen Licht" des Genozids zu denken. Und eine radikale Veränderung in der Beziehung zu sich selbst und zu den anderen zu bewirken. Wenn wir nicht über den Horizont des 21. Jahrhunderts hinausblicken, wird sich die Menschheit durch die Macht des Hasses und durch menschliche Bomben in Stücke reißen - dafür sind Ruanda und der 11. September ein Beweis. Diese neue Erkenntnis deprimiert das Mädchen keineswegs, sondern bringt einen enormen Lebenshunger und eine große Freude mit sich, das Hier und Jetzt durchzuhalten.
Entdecken Sie in dieser klugen Abhandlung die Kunst zu leben. Ihre schlimmsten und ihre besten Seiten enthüllen unsere Zeitgenossen stets am Rande des Abgrunds. Konfrontiert mit Extremsituationen ist ihr Bericht ursprünglicher und wahrhaftiger als im normalen Leben, aber nicht anders. Annick verkörpert in aller Unschuld die Ethik zukünftiger Zeiten. Für sie, die die in der menschlichen Seele schlummernden tödlichen Triebe erlebt hat, ist das Leben nicht eine selbstverständliche Gabe, die durch die natürliche oder göttliche Vorsehung garantiert wird. Das Leben ist vielmehr der Einsatz eines ewig währenden Gefechts.
Das Buch ist eine Hymne an die Freude. Nicht an die Lebensfreude - das zu glauben wäre naiv. Es ist eine Hymne an die Freude zu überleben, die in einem heftigen Kampf errungen wurde und bei jedem Sieg über das Desaster erneut erwacht.
Eines Tages trifft der kleine Prinz Annick Kayitesi: "Zeichne mir einen Genozid", bittet er sie. "Mein Planet ist zu klein, wir haben keinen erlebt." Nachdem sie lange überlegt und an ihrem Bleistift gekaut hat, zeichnet sie eine wunderschöne Blume, die bei uns noch unbekannt ist.
André Glucksmann
1 TEIL
Igitangaza, das Wunderkind
Paris, ein Tag wie jeder andere
Jeden Morgen, bevor ich das Haus verlasse, werfe ich einen prüfenden Blick in den Spiegel und vergewissere mich, dass mein Aussehen nichts zu wünschen übrig lässt. Mein Spiegelbild inspiziert mich aufmerksam. Das glatte Haar im Nacken zusammengebunden, der Blick sanft, aber lebhaft, die Haut straff über den hervorstehenden Backenknochen - alles an mir zeugt von bester Gesundheit, körperlich wie auch seelisch. Man sagt mir Stil und Intelligenz nach. Lieber wäre es mir, ich würde durch Ausgeglichenheit und heitere Gelassenheit auffallen, wie Menschen sie ausstrahlen, die keine noch so harte Prüfung im Leben fürchten. Denn ich habe viel hergegeben und bin daran gewöhnt ...
Wie jeden Tag, wenn ich mich anschicke, die Wohnung zu verlassen, haucht David einen Kuss auf meinen Nacken. David ist mein Verlobter. Wir lieben uns sehr. Wir ergänzen uns. Und wenn ich heute endlich das Glück kennen lerne, so habe ich es zum Teil ihm zu verdanken.
Der Spiegel wirft jetzt unser gemeinsames Bild zurück. Ich, die Afrikanerin mit der dunklen Hautfarbe, gebürtig aus Ruanda, und er, der Athlet mit dem goldblonden Haar und den Augen einer Perserkatze. David ist weiß, seine Muttersprache ist hebräisch, er ist ein Jahr jünger als ich und bereitet sich gerade auf sein Diplom in internationalem Recht vor.
Ich muss mich beeilen. Schnell raffe ich meine Sachen zusammen, öffne die Wohnungstür.
"Annick?"
"Ja?"
Ich drehe mich um. Er lächelt mir zu.
"Einen schönen Tag wünsche ich dir."
"Glaubst du, ich habe noch Zeit?"
Lachend werfe ich mich in seine Arme. Ein letzter Kuss und ich bin schon im Treppenhaus. Auf der Straße lasse ich mich einen Moment von der Frühlingssonne wärmen, die an diesem Tag Anfang März 2004 über den Winter zu triumphieren scheint. Das Licht hat das Grau besiegt, ein azurblauer Himmel bringt mich meinem Land immer ein wenig näher.
Was bedeutet schon die Vergangenheit, die Zukunft: Ich fühle mich schön. Das soll immer so sein, wenn man verliebt ist, habe ich gehört. Und dass David und ich schrecklich verliebt sind, daran besteht kein Zweifel.
Und wie jeden Morgen tauche ich in die Tiefen der Pariser Metro, in die Eingeweide der Hydra mit den vielen Tentakeln, in denen dicke metallene Würmer mit einer kosmopolitischen, bunt gemischten Bevölkerung zirkulieren.
Ich ergattere einen Sitzplatz. Ringsumher schieben, stoßen, drängen sich die Menschen dicht zusammengepfercht in den Wagons. Kein Duft von Blumen oder Pflanzen in diesem unterirdischen Labyrinth. Nur der Geruch nach Schweiß, Staub, Stress und sogar nach Angst. Kaum Farben. Die Menge zieht es vor, sich dunkel zu kleiden. Das Motorengeräusch begleitet die verschlafene Stille der Fahrgäste. Jeder grübelt vor sich hin. Das ist Frankreich, das ist Paris, eine europäische Metropole wie viele andere, morgens, wenn die Bevölkerung ihren Arbeitsweg antritt.
Ich habe heute einen Termin in einem Gymnasium. Seit mehreren Jahren nehme ich an Versammlungen und Konferenzen teil. Dort erzähle ich, was ich im Frühjahr 1994 während des Genozids an den Tutsi - der Ethnie, der ich angehöre - erlebt habe. Ich fasse in Worte, welcher Sturm des Wahnsinns mein Land, Ruanda, ins Chaos und meine Familie - meine Schwester und mich - ins Unglück gestürzt hat.
Wie jedes Mal vor einer solchen Veranstaltung verbiete ich mir nachzudenken. Ich weigere mich, meinen Alltag von Situationen und Ereignissen vergiften zu lassen, die ich nicht zu kontrollieren vermag. Wenn ich Zeugnis ablege, dann nicht, um die Rolle des Opfers zu spielen, sondern um die Mauern der Gleichgültigkeit und des Schweigens, die um diesen Genozid errichtet wurden, niederzureißen.
Aus Liebe und Respekt zu denen, die nicht mehr da sind, bin ich es mir schuldig, besonders intensiv, ja doppelt zu leben. Für mich selbst natürlich, aber vor allen Dingen für sie. Ich will mich nicht vom Leid durchdringen lassen. Das Leben muss immer die Oberhand haben. Deshalb agiere, atme, studiere, liebe ich. Mangelnde Sensibilität lasse ich mir nicht vorwerfen. Dies ist seit langem, seit mehr als zehn Jahren, eine Frage des Überlebens.
Um mich nicht von schmerzhaften Erinnerungen überwältigen zu lassen, sehe ich mich im Abteil um. Meine Augen heften sich auf eine Zeitschrift, die die Frau neben mir liest. Es ist eine gerade in der Elle erschienene Reportage über den Kongo, das ehemalige Zaire, mit dem Titel "Kriegswaffe Vergewaltigung".
Diesen Artikel kenne ich bereits. Er prangert das Drama vieler Frauen an, die Opfer von sexueller Gewalt durch die Interahamwe wurden - jene extremistischen Hutu, die am Genozid in Ruanda beteiligt waren. Mit französischer Unterstützung entkamen sie der vorrückenden FPR, der Front Patriotique Rwandais, und den Tutsi, die inzwischen wieder an der Macht waren. Im Fall ihrer Rückkehr würden sie nicht wirklich verurteilt - die jetzige Tutsi-Regierung hat gar nicht die Mittel dazu.
Doch sie würden Racheakte riskieren und müssten damit rechnen, für ihre Verbrechen zur Verantwortung gezogen zu werden. Deshalb bleiben sie, wo sie sind. Sie leben weiter wie Söldner und verbreiten Panik und Trostlosigkeit ringsumher.Die Geschichte verfolgt mich wirklich ...
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Autoren-Porträt von Annick Kayitesi
Annick Kayitesi wurde 1979 in Ruanda als Tutsi geboren. Ihr Vater stirbt bei einem Unfall, als sie noch ein Kind war. 1994 erlebt sie den Völkermord an den Tutsis mit, dabei werden ihre Mutter und ihr Bruder ermordet. Sie lebt in Paris.
Bibliographische Angaben
- Autor: Annick Kayitesi
- 2005, 237 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Aus d. Französ. v. Eliane Hagedorn u. Bettina Runge (Kollektiv Druck-Reif). In Zus.-Arb. mit Albertine Gentou
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453640152
- ISBN-13: 9783453640153
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