Wohin mit Vater?
Der Autor spricht eine brennend aktuelle Frage unserer Zeit an, die ihn selbst betrifft: Wie schafft man den Spagat, sich um seine hilfe- und pflegebedürftigen Eltern zu kümmern, ohne sein eigenes Leben aufgeben zu müssen? Eine Frage, mit der die meisten von uns konfrontiert werden.
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Der Autor spricht eine brennend aktuelle Frage unserer Zeit an, die ihn selbst betrifft: Wie schafft man den Spagat, sich um seine hilfe- und pflegebedürftigen Eltern zu kümmern, ohne sein eigenes Leben aufgeben zu müssen? Eine Frage, mit der die meisten von uns konfrontiert werden.
Wohin mit Vater? von Anonymus
LESEPROBE
ErstesKapitel
Der Tag X
Als derAnruf kam, ahnte er nicht, dass von nun an alles anders sein würde. Er wusstenur, dass jetzt Eile geboten war. Er packte den Koffer und rief ein Taxi. Biszum nächsten Flugzeug hatte er noch genau sechzig Minuten. Am Telefon hatteseine Schwester das Wort »Zusammenbruch« gesagt. Genaueres, nein, wisse sieauch nicht, die Mutter sei plötzlich umgekippt, sie sei sofort ins Elternhausgefahren, ja, der Arzt sei da. Er möge schleunigst kommen, hatte seineSchwester gesagt, und dann hörte er noch, wie sie ins Telefon weinte. Als er inder Stadt seiner Eltern ankam, war die Mutter tot. Herzinfarkt, sagte der Arzt.Sie war 83 Jahre alt geworden. Der Vater saß in dem Sessel, in dem er immersaß. Er hatte keine Tränen, er hatte Angst. Die Frau, die in den vergangenen fünfJahren sein Leben garantiert hatte, war tot. Seit fünf Jahren war er ein sogenannter Pflegefall. Es fing damit an, dass ihm immer wieder die Beinenachgaben, als hätte ihn ein plötzlicher Schwindel gepackt. Er stürzte, erstürzte schwer und verletzte sich. Eine Zeitlang wieder blieben diese Anfälleaus, und die Familie freute sich schon über das Verschwinden einesunerklärlichen Phänomens. Doch es kam wieder, schlimmer als zuvor, die Attackenhäuften sich, die Abstände dazwischen wurden kürzer, und nach wenigen Monatenwurde die böse Ahnung zur schlimmen Gewissheit: Der Vater würde nie mehr alleinstehen und gehen können. Er vermochte sich nur noch fortzubewegen, wenn ihnzwei kräftige Hände packten, hielten und stützten. Eine seltene Störung im Gehirn, die denGleichgewichtssinn beeinträchtige, diagnostizierte das Krankenhaus. PflegestufeIII, die höchste, diagnostizierte der Medizinische Dienst der Krankenkassen.Rundumbetreuung vonnöten, 24 Stunden am Tag.
EinGefesselter war der Vater geworden, immobil, bei allem auf fremde Hilfeangewiesen. Bei allem. Und war doch mit seinen 86 Jahren bei völliger geistigerKlarheit. Der Vater saß in seinem Sessel im Wohnzimmer, und oben im erstenStock des Hauses, das sie am Stadtrand bewohnten, lag seine tote Frau. Der Sohnund die Tochter saßen auf dem Sofa neben ihm. Sie sprachen nichts. Manchmalnahm eines der Kinder die Hand des Vaters für eine kurze Weile. Sie wussten,dass nun all die geschäftigen Verrichtungen zu beginnen hätten, die einTrauerhaus verlangte, die Information der Verwandten und Bekannten, dieBestellung eines Bestattungsunternehmens, Todesanzeige und Trauerkarten, Pfarrer,Friedhof und was sonst alles zu tun war. Aber noch saßen sie da, fast unbewegtund stumm. Und wahrscheinlich waren sie so tief in ihrer Stummheit gefangen,weil jeder wusste, dass eine Frage vor ihnen stand, auf die sie keine Antworthatten: Wohin mit Vater?
Der Sohnstand auf vom Sofa, öffnete die Tür zu dem kleinen Garten vor dem Wohnzimmer,trat in einen sonnigen Apriltag, und statt an die drängenden Probleme derallernächsten Zukunft zu denken, machten sich seine Gedanken auf und davon undließen sich in weit entfernten Sommern nieder, in denen er, elfjährig,zwölfjährig, mit seinem Vater über die Berge gewandert war. Es waren dieinnigsten Erinnerungen, die er an seine frühen Zeiten mit dem Vater hatte. Diespäteren waren oft schwierig gewesen, die endlosen Debatten über Gott und dieWelt und die Politik, dieProvokationen, die der Sohn anzettelte, er war gerade auf die Universitätund mitten in die Stürme von 68 gekommen. Es waren lange Jahre gewesen, indenen sich der Vater und der Sohn nicht immer Freundliches zu sagen hatten.Umso mehr erschienen jetzt jene frühen Sommer der gemeinsamen Wanderungen inden Bergen im warmen Licht eines ganz besonderen Vater-Sohn-Einverständnisses.Und als er sich da draußen im Garten vor dem Wohnzimmer an diese Unternehmungenerinnerte, es waren oft anspruchsvolle, vielstündige Touren gewesen, da dachteder Sohn, dass das Gehen und besonders das Gehen im Gebirge die eigentliche Naturdes Vaters gewesen war, er war ein Mann des Gehens. Sitzen oder liegen, das warnicht das Bild des Vaters, das er im Kopf trug. Nein, der Vater ging. Einer,der nie ruhte und im Ruhen vermutlich sein Lebensunglück gefunden hätte. Einer,der ständig etwas zu tun haben musste. Ein Mann der Unruhe. Wovor musste ereigentlich immer weglaufen, und zu welchen Zielen drängte es ihn?, fragte sichder Sohn, wenn er den Vater wieder einmal zu seinen zahllosen, maßlos langenSpaziergängen aufbrechen sah. Ein Geher, ein ewiger Geher.
Und jetztsaß er hier im Sessel. Und konnte noch beinahe alles. Außer gehen. Genau daswar jetzt das Problem. Wer sollte, wer konnte von nun an die Gehhilfe desVaters sein? Damals, vor fünf Jahren, als die Krankheit begann, hatte es keinegroßen Debatten in der Familie gegeben. Fraglos und zunächst auch klaglos hattedie Mutter die Aufgabe übernommen. Sie war die Pflegerin ihres Mannes geworden.War ohnehin gewohnt, ihn zu umsorgen, ganz und gar für ihn da zu sein, vollendsergeben dem traditionellen Frauenbild. Der Vater, er hatte ein kleinesArchitekturbüro in der Stadt, ging morgens aus dem Haus, kehrte abends zurück, Kinder und Küchewaren Frauensache. Er hatte das Geld zu verdienen. Diese Rollenverteilung standfür ihn zu keiner Zeit in Frage, und der Sohn konnte sich auch nicht erinnern,dass seine Mutter je mit ihrem Schicksal gehadert hätte. Das war schon immer sogewesen, warum sollte es bei ihr anders sein? Umstürzlerische Ideen warenseiner Mutter fremd. Sie übernahm also die Pflege ihres Mannes - und übernahm Schwerstarbeit.Zwar konnte sie es sich dank der Pflegeversicherung - 1432 Euro im Monat beiStufe III - leisten, sich von einem ambulanten Pflegedienst zeitweise helfen zulassen, dennoch kam sie bald an die Grenzen ihrer Kräfte. Sie war ein zarteFrau, und es wäre wahrscheinlich auch für eine stärkere eine Überforderunggewesen, den Mann morgens vom Schlafzimmer im ersten Stockwerk des Hauses die Treppehinab zum Wohnzimmer zu bringen, mittags wieder hinaufzuschleppen und amNachmittag die Prozedur zu wiederholen. Auch die Nächte waren gestört. Wenn derVater rief, war sie zur Stelle, stützte ihn, hielt ihn auf den Beinen, auf demWeg zum Bad oder zur Toilette. Es kam zu Stürzen, und irgendwie gelang es derMutter immer wieder, ihren Mann vom Boden hochzubringen, ins Bett oder auf einenStuhl, sie wusste oft selbst nicht, wie. Sie war schon 78 Jahre alt, als dasmit der Pflege begann.
Schlimmernoch als die körperlichen Strapazen waren die psychischen Belastungen. Mit derBewegungslosigkeit ihres Mannes war auch sie bewegungslos geworden, verurteilt,an seiner Seite zu wachen, auszuharren. Selbst die Zeiten des täglichenEinkaufs waren hastige Zeiten, schnell wieder nach Hause, damit dem Vater dortnichts fehle. Die längeren Wege zu den Geschäften in der Innenstadt oder gar inein Café wagte sie längst nicht mehr. Sie habe, pflegte sie zu sagen, im Haus ohnehin genügend zu tun, dieKüche, der Garten, die Wäsche, der ganze Haushalt eben, nein, sie vermissenichts, nein, nein.
Erst imletzten Jahr ihres Lebens änderte sich etwas an dieser Ergebenheit. Langsam,zögernd, als sei sie im Begriff, etwas Ungehöriges zu tun, kam der Mutter beiden Telefongesprächen mit ihren beiden Kindern eine erste Klage über dieLippen, wiederholte sich, wurde dringlicher. Dieses gefesselte Leben, so habesie sich ihr Alter nicht vorgestellt, und es sei ja nicht nur diesesGebanntsein ans Haus, nein, der Mann sei schwierig geworden in den Jahrenseiner Bettlägerigkeit, wirklich, sie wolle sich nicht beschweren, ganz gewissnicht, aber er sei eben schwierig. Und die Kinder wussten: Wenn die Muttersagte schwierig, dann meinte sie sehr schwierig.
© Fischerverlage
Interview mit Anonymus
Kommt es dazu, dass ein Elternteil pflegebedürftig wird,beginnt ein Spagat zwischen den eigenen Bedürfnissen und der neuenVerantwortung für die Eltern. Eine Entscheidung der Frage "Wohin mit Vater?"kann nur individuell erfolgen. Gibt es überhaupt eine Lösung ohne Gewissensnot?
Es wäre schön, wenn es ohneschlechtes Gewissens abgehen könnte. Ich würde es anderen Menschen wünschen,denn bei mir sind die Gefühle der Scham und des Versagens relativ groß. Es kanngelingen, wenn die Familien zeitig anfangen, über das Thema zu sprechen. DieErfahrung, die ich bei den Recherchen für mein Buch gemacht habe, istallerdings, dass die allermeisten dies nicht tun.
Am "Tag X", wie Sie ihn nennen, wird nicht nur neu überdie eigene Zeit und finanzielle Ressourcen entschieden. Es geht auch um dieAuseinandersetzung mit den Eltern, darum, dass eine oft schwierige Beziehung,die nicht selten auf Distanz geführt wurde, wieder aktuell wird. Liegt darinnicht auch eine Chance?
Ich glaube, es besteht eine kleineChance, den ganzen "Familienroman" noch einmal aufzublättern. Ich habe vielZeit mit meiner Schwester verbracht. Dabei sind eine Menge Bilder hochgekommen,schöne und weniger schöne; kleine Erinnerungs-Schnipsel, Teile der Biografie,die bis dahin verschüttet waren und die man dann noch einmal in die Handbekommt.
Ja, es gibt diese Chance - dochsie hat auch ihre Grenzen. Denn wenn man sie bekommt, sind die Eltern meistschon sehr alt.
Die Eltern möchten im Alter gern Verantwortung abgeben, versorgtwerden, die Kinder wollen endlich der Kindrolle entfliehen. Doch oft reichteine Bemerkung, und das Selbstbewusstsein des Kindes schwindet in einem Momentdahin. Kann der angesprochene Rollentausch überhaupt funktionieren?
Ich wünschte, es gäbe diesen ganzund gar erwachsenen Menschen, der über sich verfügen und sagen kann: "Icherhebe mich über all die großen und kleinen Verletzungen, die es in einemsolchen Eltern-Kind-Verhältnis gibt." Meine Erfahrung ist aber, dass diekleinste Bemerkung der Eltern dazu führen kann, dass man in die alten Rollenabstürzt. Das hat dann eigentlich nichts mehr mit der eigenen Wirklichkeit zutun und ist eine schlimme Erfahrung - gerade in einer Grenzsituation, wie siedie Pflegebedürftigkeit darstellt.
Ihr Buch hat einen Nerv getroffen, und man fragt sicherstaunt, warum sein Thema nur recht selten öffentlich diskutiert wird. Washielt Sie davon ab, sich der im Titel formulierten Frage frühzeitig zu stellen?Verdrängung?
Gegen diese Verdrängung versucheich ja anzuschreiben - indem ich darstelle, was passiert, wenn man das Themaverdrängt. Nach meiner Erfahrung sind die meisten Menschen eher dazu bereit,über das Sterben und den Tod zu sprechen als über Pflegebedürftigkeit. Was vordem Tod kommt, scheint ein noch viel größeres Tabu zu sein als der Tod selbst.Natürlich kann man das verstehen, es geht ja um Themen wie Gebrechlichkeit undSterben.
Die Auseinandersetzung mit derPflegebedürftigkeit der Eltern bringt die jüngere Generation in engen Kontaktmit dem Tod, auch dem eigenen. Aber auch die Politik spricht dieses Themen nurungern an, denn große Meriten lassen sich hier kaum erwerben.
Was müsste sich "kulturell" ändern, damit man offener überdas Thema Pflege sprechen könnte?
Das ist eine schwierige Frage. Ichdenke, wir müssen uns dem Thema ganz neu stellen. Pflege hat sich bisher immer"so ergeben": Da hat irgendeine Tante die Betreuung übernommen, der eine oderandere kam auch ins Pflegeheim. Man hat nicht darüber gesprochen.
Doch die Situation ändert sichdramatisch: Wir haben aktuell zwei Millionen Pflegebedürftige, in 30 Jahrenwerden es doppelt so viele sein. Das Thema lässt sich nicht mehr totschweigen,es wird öffentlich werden. Wir müssen uns fragen, ob wir die Pflegebedingungenauf Dauer so akzeptieren wollen, wie wir sie derzeit vorfinden.
Sie selbst haben einen nicht-legalen Weg beschritten undeine polnische Pflegekraft eingestellt, um Ihrem Vater ein Pflegeheim zuersparen. Welches wäre Ihre Forderung an die Politik, um die"Pflegekatastrophe" abzuwenden?
Ich habe einige konkreteForderungen, z.B. zur Pflegeversicherung. Es gibt ja bereits Vorgespräche übereine Reform, aber ich gebe mich da keinen Illusionen hin: Man wird etwas Geldumschichten, aber man wird leider, leider nicht an das perverse Systemherangehen, das schlechte Pflege belohnt. Es muss mehr Geld in die Pflegefließen - trotz knapper Kassen. Schlecht bezahlte Pflege ist in der Regel auchschlechte Pflege. Altenpfleger erhalten für ihre Arbeit etwa 2.000 Euro brutto- das ist nicht viel. Wir müssen den Beruf des Altenpflegers aufwerten, denn erwird in unserem Land in Zukunft eine ganz zentrale Funktion erfüllen.
Und wir müssen aus dem SystemPflegeheim aussteigen. Sogar gut geführte Einrichtungen bedeutet immer auchEntindividualisierung des Menschen, das lässt sich einfach nicht vermeiden.Dafür werden immer mehr Alten-WGs kommen. Hier wohnen die Menschen zusammen,teilen sich die Pflegekräfte, nicht aber ihr ganzes Leben. Auch großePflegeeinrichtungen beginnen bereits, große Einheiten aufzulösen, um kleinerezu bilden, in denen man viel besser auf die Bedürfnisse des einzelnen Menscheneingehen kann.
Obwohl Sie letztlich eine Lösung für Ihren Vater gefundenhaben: Sie und Ihr Vater führen ein Leben auf Abruf, da die Pflegekraft quaStatus keine Verlässlichkeit bietet. Ist das ein Zustand, mit dem sich aufDauer leben lässt?
Das war der große Schock für mich:Es gibt aktuell keine Alternative zu dieser Lösung, wenn man ein menschenwürdigesLeben in der Gebrechlichkeit organisieren will - auch wenn das natürlich keinDauerzustand sein kann! Wir müssen eine Möglichkeit dafür schaffen, dass diegeschätzten 100.000 illegalen Pflegekräfte in Deutschland zumindest offiziellgeduldet werden. Es ist klar, dass der Staat keine Schwarzarbeit tolerierenkann. Andererseits muss man hier genau hinschauen: In diesem Bereich handelt essich nicht um Schwarzarbeit, bei der sich jemand bereichern will, vielmehr sollhier eine Not gelindert werden. Da ist die Politik aufgefordert, sich Lösungeneinfallen zu lassen. Es gibt da - Stichwort Ehrenamt - eine MengeMöglichkeiten.
Wie sahen bislang die Reaktionen auf Ihr Buch aus?
Ich habe überwältigende Reaktionenbekommen und dabei gleichermaßen Dankbarkeit wie Betroffenheit erlebt. Es gibtso viele Leute, die mir sagen: "Endlich spricht das jemand aus und schweigtnicht länger!" Auch von jüngeren Menschen höre ich, dass sie das Buch gelesenhaben und sich nun zum ersten Mal mit Geschwistern oder Eltern darüberunterhalten, was sie machen sollen, "wenn es bei uns einmal zu weit ist". MeineHoffnung ist, dass sich daraus eine Diskussion entwickelt, an der dann auch diePolitiker teilnehmen.
Die Fragen stellte Henrik Flor, Literaturtest.
- Autor: Anonym
- 2007, 190 Seiten, Maße: 13,3 x 20,9 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 3100617061
- ISBN-13: 9783100617064
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
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