Woraus wir gemacht sind
Niklas Kalf arbeitet an einer Biographie über den jüdischen Emigranten Eugen Meerkaz und reist mit seiner Frau Liz zum ersten Mal nach New York. Doch schon am dritten Tag in der Stadt, die gerade den ersten Jahrestag der Anschläge auf das World Trade Center begeht, verschwindet Liz spurlos.Ein erpresserischer Anruf lässt den furchtbaren Verdacht zur Gewissheit werden: Sie ist entführt worden, und Kalf wird gezwungen, Material zu beschaffen, das mit einem dunklen Geheimnis im Leben von Eugen Meerkaz zu tun hat.
Aus Kalfs verzweifelter Suche wird ein Trip ins Innere der USA am Vorabend des Irak-Krieges und das Porträt eines Deutschen in der Fremde. Die texanische Wüstenstadt Marfa und der Central Park, die Bar auf dem Dach des Standard Hotel in L.A., ein verlassenes Kino, eine Villa am Pazifik und eine Lehmhütte in der Prärie - Thomas Hettche entwirft das Panorama eines ebenso vertrauten wie fremden Landes, in dem sein Held mit dem Tod und der Einsamkeit konfrontiert wird. Niklas Kalf wird von einem Sog erfasst, der ihn Frau und Kind beinah verraten lässt. Doch dann wird er aufgespürt und muss sich entschließen zu handeln.
Dem Autor des Bestsellers Der Fall Arbogast gelingt mit Woraus wir gemacht sind ein großes Kunststück: Ein deutscher Entwicklungsroman, der in den USA spielt, in wunderbaren Beschreibungen die Faszination des Landes einfängt und dabei nach dem Grund unseres Daseins und der Verantwortung der Liebe fragt - und den Leser vom ersten Augenblick an mit der Spannung eines atemberaubenden Thrillers fesselt.
Hören Sie Thomas Hettche in einem 16-minütigen Interview zum Roman unter HÖRPROBEN
Das Hörbuch erscheint parallel im Hörverlag
Woraus wir gemacht sind von Thomas Hettche
LESEPROBE
»Kalf«,sagte sie langsam mit jenem leichten amerikanischen Akzent, der jedes Wort ini Mund zu wenden scheint. »Was kümmert Sie eigentlichEugen Meerkaz?«
Er hatte keine Ahnung, was erantworten sollte. Und entsetzt bemerkte er, daß seinSchweigen nicht aufhören wollte, bis plötzlich jemand hinter ihm fragte: »Tell me: What isshe saying, Nick?«
Überrascht drehte er sich um und sahAlbert Snowe, der von den Ballen auf die Fersen wippte,während er Kalf angrinste. Helen Schuelerwiederholte ihre Frage auf englisch und musterte dabeiden Verleger unsicher.
»Abwarten, Helen«, entgegnete Snow, plötzlich ernst. »Noch ist das Buch nicht fertig.Oder täusche ich mich da, Herr Kalf?«
Kalf nickte verblüfft.
Helen Schuelerschien enttäuscht. »Es ist nur so«, sagte sie leise, »ich kenne Elsa Meerkaz, die Witwe.«
Das wisse er, sagte Snowe. Jeder, der sie einmal erlebt habe, sei von ihrfasziniert. Für ihn seien gerade sie beide, Helen Schuelerund Elsa Meerkaz, die Repräsentanten einer Verbindungvon Alter und Neuer Welt, die es leider bald nicht mehr geben werde.
»Sorrythat I missed the reading.« Er wandte sich zu Niklas Kalf. »Aber es ging nicht früher. Nur schade, daß Liz heute nicht dabeiseinkann. Das Abendessen mit Ihnen beiden war so nett.«
Mit der Nennung von Liz' Namen brachsich die Katastrophe ihres Verschwindens wie die stählerne Spitze eines Kopfschmerzeserneut ihren Weg. Es gelang ihm nicht, etwas zu entgegnen, er schüttelte nurimmer wieder den Kopf, während Snowe und Helen Schueler ihn überrascht ansahen.
»Vielleicht setzen wir uns einenMoment?« fragte der Verleger schließlich.
»Ja, gern. Ich hole uns nur ein GlasWein.«
Kalf war froh, der Runde entkommen zukönnen. Unruhig suchte er auf dem Weg zum Buffet nach der Frau im Rollstuhl.Fast niemand war mehr da.
Die beiden alten Damen, mit denen ersich unterhalten hatte, nahmen sich gerade die letzten weißen Sandwichdreiecke.Zwei deutsche Journalistinnen, die er kannte, lehnten in ein Gespräch versunkenan einem der hohen Rokokospiegel und hielten ihre Zigaretten mit ausgestrecktenArmen weit von sich. Die Flügeltüren zum Saal, der nun leer und verlassen war,standen weit offen, und gerade, als er daran vorüberging, hörte er von dort,wo die Goethe-Büste auf dem Kaminsims steht, ein seltsames Geräusch in derStille, doch die Hoffnung, Liz könnte im Dunkel des Saals auf ihn warten,wurde durch das schmatzende, schnell näherkommende Geräuschvon Hartgummireifen auf dem Parkettboden im selben Augenblick zerstört, in demer den Raum betrat.
Mit einem ganz leichten Schwungihrer muskulösen Arme ließ Venus Smith den Rollstuhl genau so weit aus derTiefe herangleiten, daß erauf der Linie stehenblieb, mit der jener Lichtteppichendete, der aus dem beleuchteten Flur ausgerollt worden war und auf dem ergerade zwei Schritte in den Saal hinein gemacht hatte.
»So, here you are!«,war das einzige, was ihm einfiel.
Der Raum still wie unter Wasser.Eine verlockende Stille, in der die Anspannung sogleich nachließ. Er spürteseine Müdigkeit und wie allein er war. Ohne darüber nachzudenken, zog er dieVisitenkarte aus der Brusttasche seines Jacketts. Ihr Rollstuhl vollführte einehalbe Drehung, von ihr so unbeachtet, als sei er ein Tier, das sie reite. Nervöskreisten die kleinen Vorderräder, als scharre es mit den Hufen. Sie nickte inRichtung der Karte.
»I work for Jack Jackson.«
»Tut mir leid, kenne ich nicht.«
Er schüttelte den Kopf. »Aldebaran Productions«, las er ab,»Hollywood.«
»JackJackson's a producer. An important one. He used to bea top executive at Universal. Hemade The Last Temptation Of Christ and Do The Right Thing.«
Einen Augenblick lang glitten ihrebeiden Hände zärtlich über die verchromten Wölbungen der Treibräder des Rollstuhls,und sie tätschelte ihr Reittier.
»Mich interessiert nur eines: Wo istLiz?« »InSicherheit.«
»Was heißt das?«
»Das heißt, daßes ihr den Umständen entsprechend gutgeht.«
»Was heißt das?«fragte er noch einmal.
»Man hat ihr nicht weh getan.«
»Und wann kommt sie frei?«
»Das hängt ganz von dir ab. Gib unsdas Material, das du über Eugen Meerkaz hast, und sieist noch am selben Tag wieder bei dir.«
Welches Material? »Ich gebe euchalles, was ich habe.« Niklas Kalfklopfte das Herz bis zum Hals: Er würde Liz zurückbekommen!
»Es geht uns einzig und allein um dieExperimente mit Parsons.«
Er verstand nicht. Davon wußte er nichts. Sofort war die Angst wieder da. »WelcheExperimente?«
»Ich denke, ich habe mich klarausgedrückt.«
Kalf starrte sie an und wußte nicht, was er sagen sollte.
Versuchte, sich an das Parfüm zuerinnern, das er vorhin, als er sich zu ihr hinabbeugte, gerochen hatte. DieSonnenbrille, registrierte er, war verschwunden. Das Weiß ihrer Augen leuchtetefeucht und völlig klar. Er hatte keine Ahnung, wie lange sie schwiegen. Sieließ sich einfach betrachten und hielt, als könne sie das besonders gut, dabeistill.
Schließlich aber vollführte derRollstuhl eine halbe Drehung, und nun war auch sie, ohne daßsich ihre goldenen Pumas bewegt hätten, auf dem Teppich aus Licht. Ein mühsamzurückgehaltenes Lächeln ließ ihre aufgeworfene Unterlippe zittern. Es warVanille, jetzt konnte er es wieder riechen. Ohne nachzudenken setzte er sichneben sie auf den schmalen Läufer aus Licht, und plötzlich war alles wieder da.Der stille Raum, in dem die weißen Kugeln ihrer Augen leuchteten, lief voll mitErinnerungen. Wie Liz und er hier angekommen waren. Das Abendessen mit Snowe und die Tage in der Stadt. Wie sie sich geliebthatten und wie sie am Morgen verschwunden gewesen war. Niklas Kalf spürte, daß sein Leben so stillgestellt sein würde, wie es jetzt war, bis siezurückkam. Er dachte: Die Welt gibt es nicht. Und er wußte,daß er das wirklich glaubte.
Venus Smith musterte ihn, als würdeer gleich etwas sagen, auf das sie schon lang wartete. Ihre Hände lauernd aufden verchromten Schwungrädern. Vanille, dachte er und stellte sich ihre Hautkühl und fest vor und etwas rauh. Er hatte keineAhnung, was sie von ihm wollte, und noch nie von jenen Experimenten gehört. DieStille saugte ihn auf. Nichts, das er tun konnte. Er genoßihren Blick einen weiteren Moment.
»Nice shoes«, sagte er dann und strich mit einer Hand über dieKuppen ihrer Pumas. Es dauerte einen Moment, bis sie sah, was er tat, erst dannzuckte ihr Rollstuhl ein kleines Stück zurück.
»Tut mir leid«, murmelte er leise.
»Fucking idiot!« zischte sie.
Niklas Kalfstand wieder auf und schlug sich Staub von den Hosen, den es nicht gab. Sah,wie sich ihre schönen Züge ganz dicht vor seinem Gesicht in unbeherrschbaremZorn verzerrten, dann warf sie sich in ihrem Rollstuhl zurück, daß er befürchtete, sie werde nach hinten kippen. Dochsofort hatte sie sich wieder unter Kontrolle.
»Niklas?«
Die Stimme von Al Snowe schlug in die Stille hinein und hallte darin wider.Er drehte sich nach dem Verleger um, der am Eingang des Saals stand, und wandtesich sofort wieder Venus Smith zu, doch da war der Platz am Rande des Lichtsbereits leer. Wieder hörte er jenes schmatzende Geräusch der Reifen auf demParkett und sah gerade noch, wie ihr Rollstuhl geisterhaft zurückglitt,sah einen Moment lang blitzendes Chrom und dann, so sehr er auch ins Dunkelhineinspähte, nichts mehr.
»Assoon as you cooperate and hand over all your material«, zischtees von dort, »we'll giveback your girlfriend.« »Mit wem sprechen Sie?«fragte Snowe.
Kalf tat einen Schritt in den Saalhinein. Soweit er wußte, gab es keinen anderenAusgang.
»Kommen Sie, ich hab den Wein.«
Langsam machte er sich los von derAngst. Er verstand nicht, was gerade geschehen war. Aber er ahnte, daß alles, was seit dem Verschwinden von Liz geschehen war,Teil eines Plans war, den er nicht kannte. Es war sinnlos, sich auf etwaseinzulassen, von dem er nichts wußte.
»Kommen Sie, Niklas!« wiederholte Al Snowe, als lockeer ein Tier.
Kalf nickte ihm zu. Schritt für Schrittging er langsam aus dem Saal hinaus und versuchte dabei, sein pochendes Herz zuberuhigen.
»Ich dachte, ich hätte etwasvergessen.«
»Und?«
»Nein.«
Sie gingen in den großen Salon zurStraße, wo wohl zwei Raucher eines der hohen Fenster geöffnet und Stühle herangerückthatten, denn auf einem kleinen Teller fanden sich neben Pistazienschalen auchZigarettenstummel. Der leichte Nachtwind brachte das Geräusch von Tropfen aufeiner nahen, schon durchnäßten Markise heran und densüßlichen Geruch staubiger Straßen bei Regen.
Zum ersten Mal, seit sie in New Yorkangekommen waren, war die Luft frisch und hatte ein Aroma, das er gierig einsog. Sie setzten sich, und der Verleger hielt ihm einGlas Wein hin. Sein Blick war offen und freundlich, und doch gab es etwas ander schweren, unruhigen Gestalt Albert Snowes, das Kalf mißtrauisch machte. Endlich,dachte er, und bemerkte überhaupt erst, während sie tranken und hinabsahen auf die Fifth Avenue,wie sehr er sich all die heißen Tage hindurch nach Regen gesehnt hatte. DieFahnen vor dem Metropolitan Museum hingen schlaff anihren Masten. Als dünner, bewegter Vorhang wogte der leichte Regen auf und ah.Die Straße lag fast verlassen im gelben Licht, das über die vielen Pfützen schlierte. Nur wenige Taxen glitten mit jenem hohen Sirrenihrer Reifen vorüber, in dem das Wasser zerstieb.
Der Verleger trank in großenSchlucken und strich dabei mit der freien Hand immer wieder die Krawatte überdem Hemd glatt. Sie sprachen über die Emigration und wie es damals fürDeutsche in Amerika gewesen sein mochte.
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© Verlag Kiepenheuer & Witsch
- Autor: Thomas Hettche
- 2006, 3. Auflage, 320 Seiten, Maße: 13,2 x 20,9 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Kiepenheuer & Witsch
- ISBN-10: 3462037110
- ISBN-13: 9783462037111
- Erscheinungsdatum: 21.08.2006
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