Zauberer
Kurz nur hat Romek Stratos seine Spielzeugarmee im Stich gelassen, um ein paar Runden mit einem Tretauto zu fahren. Aber dieser kurze Augenblick hat den Einbrechern genügt, um alles auszuräumen, was der Familie Stratos gehörte. Romek will seine Schuld am Ruin seiner Familie wieder gut machen, und so beginnt eine abenteuerliche Reise voll Phantastik und Ernüchterung durch das kommunistische Polen: Noch oft wird Romek alles verlieren, aber ebenso oft wird er sein Glück machen und der profanen Wirklichkeit eins auswischen.
Lala zu küssen ist eine schlimme Sache, aber ein Kuss ist nunmal der Preis für eine Runde mit Lalas Tretauto. Noch schlimmer aber ist, dass während der Küsserei Einbrecher die Wohnung ausräumen, auf die Romek doch eigentlich aufpassen sollte. Romeks Familie verliert alles und droht auseinanderzubrechen: Der Vater ist ein wunderbarer Mensch, aber er ist launisch und greift schnell zur Flasche. Und weil Romek sich schuldig fühlt am Unglück seiner Familie, erfindet er ein Geschäftsmodell nach dem anderen: mit seinen selbstgegossenen Zinnfiguren zum Beispiel, die er an seine Schulkameraden verkauft, schafft er es tatsächlich, ein wenig Geld zurückzulegen. Romek und seine Mutter wagen es sogar, nach Warschau zu gehen: Ein Modegeschäft will die Mutter gründen, noch einmal von vorne anfangen. Die Hauptstadt ist eine glitzernde Verheißung, und wirklich scheinen die Stratos diesmal Glück zu haben: ein Verehrer taucht auf, vermögend und mit Manieren. Aber weil das Leben ungerecht ist, und die Stratos' zu naiv sind für die große Stadt, ist auch dieses Glück nicht von langer Dauer ...
'Gelungenes Lehrstück über das Erwachsenwerden.' - Frankfurter Allgemeine Zeitung
"Mit seiner ebenso mächtigen wie unprätentiösen Sprache erzeugt Tryzna eine sinnliche und übersinnliche Welt." - Trouw
"Ein hervorragender Roman." - Brigitte zu "Fräulein Niemand"
Zauberer von Tomek Tryzna
LESEPROBE
Jener fatale Tag begann im Guten, das heißteigentlich im Bösen, mit einem Ruf vor dem Fenster. Eine Stimme, die ichkannte, rief: »Romek!« Ich hielt gerade General Tadeusz Kościuszko in denHänden. Ihn hatte ich mir bis ganz zum Schluss aufgehoben. Ans Fenster ging icherst, als der Schrei zum achten Mal ertönte. Eigentlich wollte ich nichthingehen, doch irgendetwas lockte mich, und ich sagte mir, ich gehe hin, wennich mehr als sieben Mal gerufen werde. Unten an der Litfasssäule leuchtete einrotes Auto in der Sonne. Am Lenkrad leuchtete Lala Ruben, eine Blondine im himmelblauenKleid. »Willst du mal fahren?« Ich versuchte, mich dagegen zu wehren, undwollte schon den Kopf schütteln, nein, ich habe keine Zeit, doch Lalas Auto wardie schönste Sache der Welt. Dann nickte ich doch, ja, ich will. Immer wiederdasselbe. Ehre bleibt Ehre, aber Lalas Auto war ein Cabrio mit Ledersitzen,Scheinwerfern und einer gelben Hupe. Und deswegen stand ich jetzt auf der dunklenKellertreppe im Hauseingang von Nummer eins und leckte Lala übers Maul. WeilLala ja keinen umsonst fahren ließ. Man musste sie küssen. Eine Minute im Autogegen eine Minute Küssen. Irgendwo weit entfernt ertönte aus dem Radio dasZwölf-Uhr- Trompetensignal vom Turm der Krakauer Marienkirche. Mit der Mittagstundeverging die erste Minute des Küssens. Am frühen Morgen hätte ich mit Mama nachSobieszewo fahren sollen, zuerst mit dem Zug, dann mit Bus und Tram, um Mathildeabzuholen. Sie hatte einen Brief nach Hause geschrieben, wir sollten sie einenTag früher abholen, weil eines der Mädchen ihr mit Erzählungen über dieStreiche, die gewöhnlich in der letzten Nacht gemacht wurden, Angst eingejagthatte. Gestern noch hatte ich mich sehr auf die Reise gefreut, doch heuteMorgen, als ich aufwachte, entdeckte ich zwei Kartonblätter mit Schlachten zumAusschneiden neben mir. Papa hatte sie am Abend gebracht, als ich schon schliefund vom schwarzen Vorhang träumte, also von nichts. Ich sah diese Schlachten undbekam schreckliche Lust, sie auszuschneiden. Ich versprach Mama, brav zu seinund keinem die Tür aufzumachen, wenn sie mich allein zu Hause lässt. Ich gabihr mein Ehrenwort. Sobald Mama aus der Tür war, griff ich nach der Schere.Mehr als fünf Stunden lang schnitt ich aus. Kurz vor der Schlacht verließ ichmeine Armeen. »Oh, Liebster, was tust du bloß mit mir«, sagte Lala mit einer merkwürdigverstellten Stimme. »Pass auf, jemand könnte uns sehen « Das fürchtete ich ammeisten. Ich wäre auf dem ganzen Altstädtischen Markt unten durch, wenn einerder Jungs gesehen hätte, dass ich ein Mädchen ablecke. Jungs geben sich nichtmit Mädchen ab. Mädchen sind schwach und doof, sie tragen Spitzenhöschen undgeben hohe Quietschlaute von sich, wenn man ihnen mit einem Stöckchen das Kleidhochhält. Und sie können nicht über die Mauer pinkeln. Jungs haben Ehre, laufenim Militärschritt und lassen sich für nichts in der Welt von Mama an der Handnehmen, auch dann nicht, wenn sie eine Straße überqueren müssen. »O nein, nein,lass mich«, stöhnte Lala. Aber als ich abrückte, war sie es, die wiederheranrückte und mir wieder ihre Zunge in den Mund steckte. Lalas Spucke warkeine Brause. Nach dem Küssen brannte mir immer der ganze Mund. Aber was sollteman tun, wenn man ins Auto kommen und mit zwölf Stundenkilometern über denMarkt flitzen wollte. Es gab noch einen Jungen, der sich von Lala küssen ließ.Er hieß Julius. Er war rothaarig, wohnte am Leninplatz und hatte nach demKüssen immer einen Ausschlag im Gesicht. Nur er und ich wussten, was eineMinute Fahrt in Lalas Auto kostete. Erst drei Minuten vorbei. Für drei Minutenlohnte es sich nicht, ins Auto zu steigen. Man musste mindestens zehndurchhalten. Ich wurde ein wenig schläfrig und bin wohl für einen Momenteingenickt, weil am Horizont die riesige, rote Knollennase von General Kościuszkoauftauchte, die ich nur grob ausgeschnitten hatte. Ich dachte mir, so eine Nasewürde ich nie haben wollen, nicht mal als Preis dafür, einmal General zuwerden. Ja, Admiral Nelson, der hatte eine hübsche Nase. Das Meer rauschte. Ichstand an Deck eines Schiffes und fuhr übers Meer, um die französische Flotte zufinden, aber irgendwie konnte ich mich nicht konzentrieren, weil es im Kellernach Kacke stank. Zu Hause warteten meine Papparmeen auf mich. Ich flüchtete vorLala aufs Schlachtfeld. Im letzten Moment, denn der Feind hatte meineAbwesenheit genutzt, um hinterhältig einen Kanonenschuss abzugeben. Einer vonden Sensensoldaten hüpfte mit einem abgerissenen Bein herum, ein anderer lag schontot da. General Kościuszko war an der Nase verletzt und rief: »FinisPolonia!« Ich stieß die Bauernschar mit den Sensen nach vorn gegen die russischenKanonen. Die leichte Kavallerie gruppierte ich für einen Angriff auf demrechten Flügel. Notfalls konnte ich ein Bombenflugzeug aus einer anderenSchlacht dazunehmen. Da werden sich die Russen aber wundern. »Oh, ich flehe Siean, Sie vergessen sich. Und was passiert, wenn mein Mann reinkommt?« Mitten ausder Schlacht gerissen, kam ich im Keller wieder zu mir. Ich arbeitete schonfast zehn Minuten hier. Lalas nasser Mund kam wieder näher. »Bitte, umarmemich. Fest, ganz fest, noch fester.« Ich umarmte sie fester. Lalas dünnesKleidchen raschelte wie Seidenpapier. Die armen Mädchen. Es reicht, dass derWind mal weht, und schon ist ihr ganzer Arsch draußen. Das Leben der Mädchenist schrecklich. Ich war einen Kopf kleiner, stand eine Stufe höher und hatte Mitleidmit diesem armen, fetten Mädchen, das mich gerade übers ganze Maul leckte.Armee, Kriege und heldenhafte Taten waren nichts für Mädchen. Ein Mädchen hatteauf dem Schlachtfeld nichts zu suchen. Na, im Notfall konnte es Wundenverbinden, wenn es mutig war und keine Angst vor Blut hatte. Ich befand michauf dem Schlachtfeld und lag zwischen den Leichen. Lala verband mich undbetrachtete neidisch meine Schnitt- und Stichwunden. Aber leider verschwandendie Leichen, und ich befand mich wieder im dunklen Keller. Und vorerst war esnicht Lala, die mich beneidete, sondern ich beneidete Lala. Sie hatte ein schönesAuto und würde außerdem in diesem Jahr in die Schule kommen. Ich erst in zweiJahren. Seit kurzem konnte ich lesen. Mathilde hatte es mir beigebracht, weilich ihr ständig damit in den Ohren lag, dass sie mir was vorlesen soll. Und ichkonnte nie genug kriegen. Zuletzt hatte ich den Lachmenschen gelesen. Übereinen Jungen, der von einem Zirkus geraubt wurde und dem man eine Mundoperationgemacht hat, und der dadurch immer lächeln musste, sogar wenn er traurig warund weinte. Lala begann laut zu stöhnen. »Aber Ludwig, ich bitte dich«,flüsterte sie. »Nein, nicht über die Titten « Was quasselt die denn da? (...)
© Luchterhand
Übersetzung:Agnieszka Grzybkowska
- Autor: Tomek Tryzna
- 2006, 1, 253 Seiten, Maße: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus d. Poln. v. Agnieszka Grzybkowska
- Verlag: Luchterhand Literaturverlag
- ISBN-10: 3630871836
- ISBN-13: 9783630871837
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