Zeiten des Glücks im Unglück
Der Inder Amitav Ghosh wird gern als "Weltbürger" bezeichnet. Er lebt seit einem Jahrzehnt in New York, hat in Oxford studiert, in ägyptischen Dörfern das Entstehen des islamischen Fundamentalismus erforscht, er schreibt englisch, zitiert Rilke und dennoch ist Ghoshs Kompass auf jene Region geeicht, die seine erste Heimat war. Alle seine Werke sind auf dem indischen Subkontinent verortet und spiegeln das dortige Leben.
Seit gut zwei Jahrzehnten schreibt Ghosh Essays. Schon mehrfach wurden seine fein geschliffenen Prosastücke, die mal Reiseschilderung, dann Reportage, mal sachliche Analyse, dann Autobiographie sind, mit journalistischen Preisen ausgezeichnet. Er hat sich weltweit einen Namen als scharfsinniger Kommentator der indischen Gegenwart gemacht, als einer, der aktuelle Ereignisse in einen großen historischen Zusammenhang einordnen kann.
In ZEITEN DES GLÜCKS IM UNGLÜCK sind jene Artikel versammelt, in denen sich Ghosh mit den wesentlichen Themen, die die indische Gesellschaft beschäftigt hat, auseinander setzt: die Konfrontation mit Pakistan wegen Kaschmir; das Katastrophenjahr 1984, als Indira Gandhi ermordet wurde; der Auszug der Intellektuellen in die Diaspora. Doch egal wie sachlich-abstrakt das Thema ist, der Aufklärer und Chronist Ghosh scheut sich nicht, das Denken, Empfinden und Erleben der Betroffenen in den Mittelpunkt seines Schreibens zu stellen. Sein ungewöhnlich persönlicher Fokus ermöglicht einen unverstellten Blick aufdiese
Der Inder Amitav Ghosh wird gern als "Weltbürger" bezeichnet. Er lebt seit einem Jahrzehnt in New York, hat in Oxford studiert, in ägyptischen Dörfern das Entstehen des islamischen Fundamentalismus erforscht, er schreibt englisch, zitiert Rilke - und dennoch ist Ghoshs Kompass auf jene Region geeicht, die seine erste Heimat war. Alle seine Werke sind auf dem indischen Subkontinent verortet und spiegeln das dortige Leben.
Seit gut zwei Jahrzehnten schreibt Ghosh Essays. Schon mehrfach wurden seine fein geschliffenen Prosastücke, die mal Reiseschilderung, dann Reportage, mal sachliche Analyse, dann Autobiographie sind, mit journalistischen Preisen ausgezeichnet. Er hat sich weltweit einen Namen als scharfsinniger Kommentator der indischen Gegenwart gemacht, als einer, der aktuelle Ereignisse in einen großen historischen Zusammenhang einordnen kann.
In ZEITEN DES GLÜCKS IM UNGLÜCK sind jene Artikel versammelt, in denen sich Ghosh mit den wesentlichen Themen, die die indische Gesellschaft beschäftigt hat, auseinander setzt: die Konfrontation mit Pakistan wegen Kaschmir; das Katastrophenjahr 1984, als Indira Gandhi ermordet wurde; der Auszug der Intellektuellen in die Diaspora. Doch egal wie sachlich-abstrakt das Thema ist, der Aufklärer und Chronist Ghosh scheut sich nicht, das Denken, Empfinden und Erleben der Betroffenen in den Mittelpunkt seines Schreibens zu stellen. Sein ungewöhnlich persönlicher Fokus ermöglicht einen unverstellten Blick auf diese Weltregion, die mit Siebenmeilenstiefeln in die Zukunft schreitet und zugleich noch tief im Mittelalter steht - und er ermöglicht Verständnis.
"Kürzlich hat Ghosh in einem erschütternden Bericht die Folgen des Tsunami geschildert. Hier zeigt sich die wahre Meisterschaft des studierten Sozialanthropologen: in der literarischen Reportage. Auch der Reiz seiner Romane liegt vor allem in diesem unbestechlich scharfen Blick für die Kleinigkeiten, die das große Ganze ausmachen." - die tageszeitung
"Mit seiner klaren, unverblendeten Sicht, seiner Einfühlsamkeit und kritischen Brillanz konterkariert der in Harvard lehrende Ghosh die auf den schwindelerregenden Aufstieg der Wirtschaftsmacht Indien fixierte Berichterstattung." - Ulrich Baron, Die Welt
"Es bedarf gar keines Anlasses, um Amitav Ghoshs Essays zu empfehlen. Mit ihrer klaren, unverblendeten Sicht, ihrer Einfühlsamkeit und kritischen Brillanz bereichern sie jeden Leser - und die Weltliteratur." - Ulrich Baron, Tages-Anzeiger
Zeitendes Glücks im Unglück von Amitav Gosh
LESEPROBE
DieStadt am Meer
Die Inselnder Andamanen und Nikobarensind eine jener Regionen der Welt, in denen politische und geologische Bruchlinienparallel verlaufen.Politisch werden die Inseln vom indischenFestland aus verwaltet, seit sie von den Briten annektiert wurden. Heute sindsie indische »Bundesterritorien« unter direkter Herrschaft von Neu-Delhi. Ingeologischer Hinsicht aber liegt die Inselkette gerade eben jenseits dertektonischen Platte Indiens. Sie erstreckt sich über siebenhundert Kilometer inder Bucht von Bengalen, und die Inseln sind die Gipfel eines unterseeischenGebirges, das sich über die unergründlichen Tiefen des Sundagrabenserhebt. Nur sechsunddreißig der fünfhundertzweiundsiebzig Inseln sind bewohnt: DieAndamanen bilden den nördlichen Teil des Archipels,die Nikobaren erstrecken sich nach Süden. An ihremnördlichsten Punkt liegen die Andamanen nur einigeDutzend Kilometer entfernt von den zu Birma gehörenden (und wegen ihrerGefängnisse berüchtigten) Coco-Inseln. Vomsüdlichsten Zipfel der Nikobarenwiederum sind es nur zweihundert Kilometer bis hinüber zu der ruhelosenindonesischen Provinz Aceh. Dieser Teil derInselkette ist so gelegen, dass ihn der Tsunami vom 26.Dezember 2004 nur wenige Minuten später erreichte als die Küsten des nördlichenSumatra.
Trotz derHunderte Kilometer, die die Andamanen vom indischen Festlandtrennen, wirken viele der Notaufnahmelager in Port Blair, der Hauptstadt, wieMiniaturporträts der gesamten Nation. Nur wenige Lagerinsassen sind Eingeboreneder Inseln, die übrigen Siedler sind von verschiedenen Teilen des Festlandes,aus Bengalen, Orissa, Punjab, AndhraPradesh oder Uttar Pradesh. Das überrascht - aber nur deshalb, weil die Identitätder Inseln (und zugleich das Alibi für die Art und Weise ihrer Verwaltung) aufeinem administrativen Begriff von »Primitivität« beruht, der noch auf die Zeitder britischen Herrschaft zurückgeht. Die Vorstellung, dass die Namen dieser Inselngleichsam Synonyme für Rückständigkeit sind, wird in Port Blair noch heuteenergisch aufrechterhalten. Reklametafeln entlang den Straßen zeigen nackte»Primitive«, und ich hörte sogar von einem Plakat, das seine Betrachteranweist: »Liebt euren primitiven Stamm!« Auf demFestland wären derart beleidigende Bilder längst heruntergerissen worden -nicht so auf diesen Inseln, die eher eine Projektion des Festlandes sind alsein wirklicher Bestandteil des indischen Gemeinwesens; wie viele Kolonienbilden sie eine zugleich aufgeblähte und verdichtete Version des Mutterlandesab - in ihren Hoffnungen, ihren Stärken wie in ihren Schwächen. Während der vergangenenzwei Wochen scheinen die beiden Bruchlinien, die unterhalb dieser Inselnverlaufen, plötzlich in Bewegung geraten zu sein. Es ist, als wären diebeschleunigte Zeit einer entstehenden Nation und die tiefe Zeit der Geologiezusammengestoßen. Die in den Lagern festsitzenden Siedler vom Festland erklärenfast durchweg, es sei der Wunsch nach Land und Gewinn gewesen, der sie auf dieInseln gezogen habe. Wenn man ihnen zuhört, fällt es nicht schwer zu glauben,dass sie fanden, was sie suchten: aus der Armut auszubrechen und in diewachsende Mittelschicht Indiens vorzustoßen. Aber am Morgen des 26. Dezemberwurde gerade dieser hart erarbeitete Aufstieg zur Ursache ihrerVerletzlichkeit. Denn zur Mittelschicht zu gehören bedeutet in Indien wieüberall sonst, von einem Rettungsfloß über Wasser gehalten zu werden, das ausPapier besteht: Personalausweise, Genehmigungen, Schulzeugnisse, Sparbücher,Lebensmittelmarken, Versicherungspolicen und Quittungen für angelegtes Geld. Eswar der besondere Charakter dieser Naturkatastrophe, dass sie nicht nur auf diephysische Existenz ihrer Opfer zielte, sondern auch auf die Beweisstücke fürdie Identität der Überlebenden. In der Plötzlichkeit seines Auftauchens ließder Tsunami keine Zeit für Vorkehrungen. Er zerstörtenicht nur die Häuser der Überlebenden, er riss nicht nur derenFamilienmitglieder in den Tod, sondern er beraubte sie auch der dokumentarischenSpuren ihrer irdischen Existenz.
Am 1.Januar 2005 besuchte ich das Flüchtlingslager in der Nirmala-Schulevon Port Blair. Wie die Schule selbst wird das Lager von der katholischenKirche betrieben; es steht unter der Leitung eines sanftmütigen jungen Priesters,der den Namen Pater Johnson trägt. Am Morgen meines Besuchs stand Pater Johnsonim Mittelpunkt einer heftigen Auseinandersetzung. Die Flüchtlinge hattenbereits drei Tage ungeduldig im Lager zugebracht, ohne von irgendjemandemgefragt worden zu sein, wohin sie gehen wollten oder wann; keiner von ihnen hatteeine Vorstellung davon, wie es weitergehen sollte, und das Gefühl derVerlorenheit zerrte an ihren Nerven. Der Streit drehte sich weder um Not nochum Entbehrung - es gab genug Kleidung und zu essen. Vielmehr war es dieUngewissheit, die sie nicht ertrugen. Und weil keine an- dereAutoritätsperson zur Hand war, bestürmten sie nun Pater Johnson: Wann würdensie die Erlaubnis erhalten zu gehen? Wohin könnten sie gehen?
PaterJohnson konnte keine Antworten geben, auf eine andere Art war er so hilflos wiesie. Die zuständigen Behörden hatten ihm nichts über ihre Pläne gesagt. Jetztwurde die Zeit knapp: Die Schulen, in denen die Lager waren, sollten am 3.Januar wieder eröffnet werden. Noch kurz vor diesem Termin hatte Pater Johnsonkeine Ahnung, wie der Schulbetrieb in Gang kommen sollte, während weiterhintausendsechshundert Flüchtlinge auf dem Gelände kampierten.
Schließlichbegriffen die Obdachlosen, dass Pater Johnson nicht mehr wusste als sie selbst.Nur ein einziges bescheidenes Anliegen trugen sie noch vor: Könnten sie etwasPapier und einige Stifte erhalten? Kaum war diese Bitte erfüllt, brach neuer Aufruhraus: Jetzt wurden jene bestürmt, die Stifte und Papier bekommen hatten. DieMenschen schoben und zerrten. Alle forderten, ihr Name solle aufgeschriebenwerden. Identität war zu einer Frage ihrer Behauptung zusammengeschrumpft, nichtserschien diesen Menschen nun so wichtig, wie eine papierne Spur von sich selbstzu schaffen. Davon hing ab, ob sie wieder eine Existenz erlangen würden.
Abseits derMenge stand ein untersetzter Mann von dreißig Jahren namens ObedTara. Er stamme von der Insel Car Nicobar, sagte ermir, und gehöre einer Gruppe an, die ethnisch und sprachlich mit denmalaiischen Völkern im Osten verwandt ist. Er selbst jedoch war ein Naik, ein Unteroffizier, des Zehnten madrassischenRegiments der indischen Armee und sprach fließend Hindi. Am 10.Dezember war ervon Kalkutta aus aufgebrochen, wo seine Einheit gerade stationiert war, um nachCar Nicobar zu reisen. Wie die meisten Menschen vondort war er Christ, ein Mitglied der anglikanischen Kirche Nordindiens, undhatte sich darauf gefreut, Weihnachten zu Hause feiern zu können. In diesemJahr jedoch gab es noch einen zweiten Grund zur Vorfreude: Am ersten Tag desneuen Jahres sollte seine Hochzeit sein (genau an jenem Tag also, an dem wirnun miteinander sprachen).
Trotz derlangen und fröhlichen Weihnachtsfeier am Abend zuvor stand ObedTara am 26. Dezember früh auf. Gemeinsam mit den meisten anderen Mitgliedernseiner Großfamilie wollte er den Gottesdienst besuchen. Ihr Haus gehörte zur direktam Meer gelegenen Stadt Malacca, nur einige hundert Metervom Wasser entfernt. Das Viertel, in dem sie wohnten, war das Geschäftszentrumdes Ortes, ihr Haus war umgeben von Läden und Lagerhäusern. ObedTaras Familie war selbst Teil des Marktgeschehens.Den Taras gehörte ein Kleinbus vom Typ Maruti Omni, und in ihrem Hausbetrieben sie eine Telefonzelle für Ferngespräche. Mit anderen Worten: Dies wareine Familie, der die geschäftlichen Möglichkeiten des vergangenen Jahrzehntszum Aufstieg in die Mittelschicht verholfen hatten.
An jenemMorgen, als sich die Familienmitglieder vor dem Haus versammelten, begann dieErde so gewaltig zu beben, wie es niemand von ihnen jemals zuvor erlebt hatte;der Untergrund schwankte so sehr, dass sie sich auf den Boden werfen mussten.Dann öffnete sich die Erde, und Geysire von braunem Wasser schossen aus denSpalten. Wie alle Inselbewohner war Obed Tara an dasRumoren der Erde gewöhnt, aber so etwas hatte er noch nie erlebt. Es dauerteeine Weile, bis der Boden wenigstens so weit zur Ruhe kam, dass an Aufstehen zudenken war. Kaum hatte sich Obed Tara aufgerichtet, hörteer einen wilden, donnernden Krach. Als er auf das Meer blickte, sah er eineWand aus Wasser auf sein Haus zurollen. Tara rief seine Verwandten zusammen,und sie rannten los. Als er sich umdrehte, war das Viertel, in dem ihr Hausgestanden hatte, schon unter der Welle verschwunden. Zwei Alte waren ertrunken,und alles war verloren, was die Familie besessen hatte: ihr Kleinbus, ihreTelefonzelle, ihr Heim. Die Familie verbrachte einige Nächte im Inneren derInsel, dann schickten ihre Oberhäupter Obed Tara nachPort Blair, um Hilfsgüter und Vorräte zu besorgen.
Als Obed Tara ans Ende seiner Geschichte kam, versagte ihm dieStimme. Er musste heftig schlucken, um nicht in Tränen auszubrechen. Ich fragteihn: »Warum melden Sie sich nicht bei einer Armeedienststelle und sagen, werSie sind? Ich bin sicher, man wird für Sie tun, was man kann.«Er schüttelte den Kopf, wie um anzudeuten, dass er diesen Gedanken bereitserwogen und verworfen habe. »Das Meer hat meine Uniform mitgenommen, meineLebensmittelkarte, meinen Dienstausweis, meinen Pass; es hat allesmitgenommen«, sagte er. »Ich kann nicht beweisen, wer ich bin. Warum sollten siemir glauben?«
Er führtemich ans Ende des Lagers, wo eine andere Gruppe friedlich unter einer Zeltplanesaß. Auch diese Menschen hatten alles verloren: Ihr Dorf war im Meer versunken,Salzwasser hatte ihre Felder durchtränkt und ihre Obstgärten mitgerissen. Siekönnten sich nicht vorstellen zurückzugehen, sagten sie, der Gestank derVerwesung sei überall, die Quellen seien verdorben und würden auf Jahre hinauskein genießbares Wasser liefern.
IhrSprecher hieß Sylvester Solomon. Er hatte in der Marine gedient und war voreinigen Jahren pensioniert worden. Auch er hatte alle seine Papiere verlorenund wusste nicht, wie er seinen Pensionsanspruch aufs Neue geltend machenkonnte. Schlimmer noch, auch die Bank, bei der seine Familie ihr Geld deponierthatte, war mit sämtlichen Unterlagen vom Wasser fortgerissen worden.
Ich sagteihm, dass die Bank gesetzlich dazu verpflichtet sei, sein Geld zurückzuzahlen,und er lächelte mich an, wie ein Erwachsener ein Kind anlächelt. Ich wollte ihnüberzeugen, dass ich die Wahrheit gesagt hatte, aber als ich ihm in die Augen sah,wusste ich, dass auch ich nicht die Kraft und den Mut aufbringen würde, dieErsparnisse meines Lebens von jener Bank zu fordern. ( )
© KarlBlessing Verlag
Übersetzung:Barbara Heller
- Autor: Amitav Ghosh
- 2006, 1, 345 Seiten, Maße: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Heller, Barbara
- Übersetzer: Barbara Heller
- Verlag: Blessing
- ISBN-10: 3896673149
- ISBN-13: 9783896673145
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