Zorn - Spielarten eines großen Gefühls
Texte von Homer bis Thomas Mann
Zornige Götter, wütende Dichter
Zorn ist zerstörerisch. Im Mittelalter zählte er zu den Todsünden. Zorn kann aber auch produktiv sein und für klare Verhältnisse sorgen. Luther nannte ihn nicht zufällig eine Arznei, die, richtig dosiert, dem eigenen...
Zorn ist zerstörerisch. Im Mittelalter zählte er zu den Todsünden. Zorn kann aber auch produktiv sein und für klare Verhältnisse sorgen. Luther nannte ihn nicht zufällig eine Arznei, die, richtig dosiert, dem eigenen...
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Produktinformationen zu „Zorn - Spielarten eines großen Gefühls “
Klappentext zu „Zorn - Spielarten eines großen Gefühls “
Zornige Götter, wütende DichterZorn ist zerstörerisch. Im Mittelalter zählte er zu den Todsünden. Zorn kann aber auch produktiv sein und für klare Verhältnisse sorgen. Luther nannte ihn nicht zufällig eine Arznei, die, richtig dosiert, dem eigenen Seelenheil dient. Die Autorin Ricarda Junge folgt den Spuren des Zorns in der Weltliteratur und entfaltet dabei die unterschiedlichen Dimensionen eines wieder höchst aktuellen Affekts.
Lese-Probe zu „Zorn - Spielarten eines großen Gefühls “
Zorn - Spielarten eines großen Gefühls von Ricarda JungeSENECA
Über den Zorn
Mein Novatus, du hast den Wunsch geäußert, ich solle darüber schreiben, wie man dem Zorn beikommen könne, und ich glaube, du hast nicht ohne Grund hauptsächlich gegen diese Leidenschaft Bedenken, die von allen die schändlichste und ungestümste ist. Die anderen haben nämlich immer noch etwas Ruhiges und Gelassenes an sich, während diese nur in Erregung besteht und im Ansturm des Schmerzes zustande kommt, wütend in unmenschlicher Gier nach Waffen, nach Blut und Tod. Wie sie nur dem anderen Schaden zufügen kann, ihrer selbst nicht mehr achtend, sich mitten in den Pfeilregen stürzend, voll Rachedurst, mag der Rächer selbst dabei ein Opfer der Rache werden. Einige Philosophen haben deshalb den Zorn einen vorübergehenden Zustand des Wahnsinns genannt; denn so wenig wie dieser hat er noch die Herrschaft über sich selbst: Er vergißt die gute Sitte, achtet nicht mehr der Bande der Freundschaft, pocht stur auf das, was er sich vorgenommen hat, unzugänglich jedem gesunden Denken, durch die harmlosesten Anlässe aufgebracht, nicht mehr in der Lage, was billig und wahr ist, zu unterscheiden, ein getreues Bild eines zusammenbrechenden Gebäudes, das über den darunter Begrabenen in Trümmer geht.
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Damit dir klar wird, daß die vom Zorn Besessenen nicht bei Verstand sind, brauchst du bloß ihr Äußeres anzusehen. Untrügliche Zeichen von Wahnsinn sind doch eine verwegen drohende Miene, eine finstere Stirn, ein grimmiges Antlitz, ein rascher Rang, unablässige Bewegung der Hände, Verfärbungen der Haut und ein schnelles, allzu heftiges Atmen; und genau dies sind auch die Kennzeichen der Zornigen: Die Augen flammen und blitzen, das Antlitz ist von Röte übergossen, da ihnen das Blut aus dem tiefstem Herzen emporwallt; die Lippen bewegen sich zitternd, die Zähne knirschen, das Haar richtet sich starr in die Höhe, der Atem geht beklommen und pfeifend; du vernimmst, wie die Gelenke knacken, die sich von selbst verrenken, hörst ein Stöhnen und Brüllen, Wortfetzen in ungenauen Tönen, die Hände werden immer wieder zusammengeschlagen, die Füße stampfen auf den Boden; der ganze Körper ist in einem Zustand der Erregung, ein Bild wüster Drohung, gar übel anzusehen, wenn der Mensch sich so gehenläßt und bersten will vor Zorn.
Man weiß nicht, ob dieses Laster in höherem Grad verwerflich oder abscheulich ist. Andere Laster lassen sich noch verbergen oder geheimhalten; der Zorn aber drängt nach außen und will gesehen werden, und je heftiger er ist, desto hörbarer braust er auf. Beobachtest du nicht, wie bei allen Tieren in dem Augenblick, da sie zum Angriff übergehen, bestimmte Merkmale hervortreten und der ganze Körper seine gewohnte Ruhe verliert und wie ihre wilde Natur ein noch unfreundlicheres Aussehen erhält? Dem Eber steht der Schaum vor dem Maule, knirschend wetzt er die Zähne; der Stier wirft die Hörner in die Luft und stampft auf den Boden, daß er Sand aufspritzt; der Löwe brüllt, und die Schlange, sobald man sie reizt, bläht ihren Hals auf, und welch üblen Anblick schließlich bieten Hunde, wenn sie in Wut geraten! Kein Tier ist schon von Natur so furchterregend und gefährlich, daß es nicht im Augenblick des Zorns noch größere Schrecklichkeit zum Ausdruck brächte. Natürlich können auch die übrigen Leidenschaften nicht gänzlich im Verborgenen bleiben; auch die Wollust und die Ängstlichkeit und die Kühnheit haben ihre äußeren Kennzeichen und lassen sich schon früh erkennen. Es gibt ja keine Form einer stärkeren Erregung, die sich nicht auch in den Gesichtszügen abzeichnete. Worin besteht nun aber der Unterschied? Darin, daß andere Leidenschaften, wohl sichtbar werden, der Zorn aber sich ein drohendes Aussehen gibt.
Besieht man sich aber, was der Zorn schon alles verursacht und welchen Schaden er angerichtet hat, so stellt man fest, daß von allen Übeln dem Menschengeschlecht keines teurer zu stehen kam. Da bekommt man zu sehen Mord und Giftmischerei, schmutzige Beschuldigungen vor dem Richter, den Untergang von Städten und das Ende ganzer Völker; man kann erleben, wie Fürsten die Häupter von Bürgern zur Auktion geben, wie Feuerbrände in die Häuser gelegt werden, wie der Brand nicht nur Städte erfaßt, sondern wie die feindliche Flamme über weite Landstriche hin widerscheint. Schau, aus fast unmerklichem Anfang sind die großartigsten Staaten entstanden, und der Zorn war es, der sie zu Fall brachte! Meilenweit verödetes Land ohne Bewohner - der Zorn hat es verwüstet! Sieh dir die vielen Feldherren an, von denen die Geschichte berichtet, lauter Beispiele eines üblen Schicksals: Den einen hat der Zorn auf seinem Ruhebett mit dem Dolch durchbohrt, den anderen hat er am unverletzlichen Tisch des Hauses durch Mörderhand sterben lassen; den einen hat er inmitten seiner Arbeit an den Gesetzen vor den Augen des Volkes auf dem Forum zerfleischt, den anderen hat er durch die Hand eines Vatermörders fallen lassen; den einen hieß er vermittels einer Sklavenhand eines Königs Kehle durchschneiden, den anderen brachte er dahin, daß er die Glieder seines Opfers am Kreuze ausstreckte! Und noch war die Rede nur vom Wüten eines gewaltsamen Todes gegen einzelne Menschen.
Doch genug von jenen, die als einzelne vom Zorn getroffen waren, wenn's dir beliebt, kannst du sehen, wie ganze Volksversammlungen dem Schwert zum Opfer fielen, wie ein ganzes Volk von Kriegern überfallen und niedergemetzelt ward und wie ganze Nationen sich untereinander zerfleischten, als hätten die Götter der Obsorge um uns entsagt und auf das Ansehen verzichtet, das sie bei uns genießen. Weshalb denn zürnt das Volk so sehr den Gladiatoren, und zwar in so wilder Weise, daß es glaubt, sie täten Unrecht, wenn sie sich nicht gerne töten ließen? Das Volk sieht sich verachtet und nun nimmt es, eben noch Zuschauer, Miene, Haltung und Leidenschaftlichkeit eines Gegners an. Was immer es sei, mag es nicht gerade Zorn sein, aber es ist etwas Ähnliches, so wie Kinder, wenn sie hinfallen, wollen, daß der Boden Schläge bekommt, und wie sie dabei oft nicht wissen, worauf sie zornig sind. Aber eben ohne Anlaß und ohne daß Unrecht geschah, zürnen sie, freilich nicht ohne doch irgendwie etwas erlitten zu haben und deshalb nicht ohne eine gewisse Rachsucht. Zum Scherz läßt man es denn zur Bestrafung kommen, und man stellt sie zufrieden, indem man sie glauben macht, der Boden bitte unter Tränen um Vergebung; und die vorgetäuschte Strafe läßt den Schmerz verwinden, dessen Ursache nicht richtig gesehen ward.
Aber man bekommt zu hören: »Wir zürnen oft nicht denen, die uns verletzt haben, sondern jenen, die uns verletzen wollen, woraus erhellt, daß der Zorn nicht nur durch erlittenes Unrecht zustande kommt.« Es stimmt, wir zürnen jenen, die uns verletzen wollen; aber es ist schon ihre Absicht, die verletzt, und wer sich anschickt, uns ein Unrecht anzutun, der tut es bereits. »So wisse«, entgegnet man darauf, »daß der Zorn nicht in der Begierde besteht, eine Bestrafung zu verhängen; die Ohnmächtigsten zürnen ja oft gerade den Mächtigsten, und ihr Begehren richtet sich dabei nicht auf eine Bestrafung derselben, da sie damit nicht rechnen können.« Erstens haben wir gesagt, der Zorn bestehe in dem Begehren, eine Strafe zu verhängen, nicht aber in der Fähigkeit dazu; Menschen begehren ja manches, was sie nicht erreichen können. Außerdem ist kein Mensch von so niedrigem Rang, daß er die Bestrafung auch eines Menschen höchsten Ranges nicht erhoffen könnte; denn einem zu schaden, sind wir durchaus in der Lage. Die Definition des Aristoteles deckt sich fast mit der unseren: Er sagt, der Zorn sei das Begehren, eine erlittene Verletzung heimzuzahlen.
Einige Menschen sind von Natur aus jähzornig. Wenn sich bei ihnen [die Seele] wegen eines Verdrusses indessen ruhig und still verhält, dann bekommen sie manchmal durch ihren Zorn einen Anfall, durch den ihr Körper unter Druck gerät; dann gewinnt die Seele ihre Kraft zurück und wacht auf. Aber auch bei anderen Menschen kommt es oft vor, wenn sich die Seele wegen eines Verdrusses indessen ruhig und still verhält, daß ihr Körper von irgendeinem Leiden gedrückt wird; dann wacht auch ihre Seele auf, gewinnt die frühere Kraft zurück und kommt wieder zu sich. Es gibt auch noch andere Menschen, bei denen der Körper, wenn sich die Seele aus Widerwillen gegen eine anstrengende Betätigung ruhig verhält, von Lethargie und Unschlüssigkeit gelähmt ist. Dann erwacht die Seele, die bereits in ihnen schlief, und gewinnt ihre früheren Kräfte zurück. Es gibt auch einige Menschen, die aufgrund ihrer Veranlagung des öfteren in Zorn entbrennen.
Der Zorn, der in ihnen steckt, erregt oft ihr ganzes Blut, so daß es zu einer großen Aufwallung des Blutes kommt, und infolge dieses Aufwallens befällt eine Art feuchter Qualm ihr Gehirn, läßt sie rasend werden und schränkt auch ihr Bewußtsein ein. Wenn solche Menschen einmal in Zorn geraten und durch irgendwelche alltägliche Sorgen belastet sind, dann sieht das der Teufel und erschreckt sie mit seinem Atem, wenn er sie durch seine Einflüsterungen verführen will. Dann sinkt die Seele in ihnen ermattet nieder und zieht sich zurück, der Körper aber bricht ohnmächtig zusammen und liegt so lange ohnmächtig da, bis die Seele wieder ihre Kräfte zurückgewinnt und sich aufrichtet. Wer unter einem solchen Übel leidet, hat einen wütenden Blick und Gesichtsausdruck und macht wütende Bewegungen. Wenn er auf die Erde fällt, stoßen sie manchmal unnatürliche Laute aus. Die hier erwähnte Krankheit zeigt sich nur ziemlich selten und läßt sich nur schwer heilen.
MARTIN LUTHER
Wozu der Zorn dient
Ich habe keine bessere Arznei als den Zorn. Denn wenn ich gut schreiben, beten und predigen will, dann muß ich zornig sein; da erfrischt sich mein ganz Geblüt, mein Verstand wird geschärft, und alle Anfechtungen weichen.
FRIEDRICH HÖLDERLIN
Der zürnende Dichter
Fürchtet den Dichter nicht, wenn er edel zürnet, sein Buchstab Tötet, aber es macht Geister lebendig der Geist.
DIE BIBEL
Vom Töten
Ihr habt gehört, daß den Alten gesagt worden ist (2. Mose 20,13; 21,12): »Du sollst nicht töten; wer aber tötet, der muß vors Gericht.« Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnt, der muß vors Gericht; wer aber zu seinem Bruder sagt: Du Hohlkopf!, der muß vor den Hohen Rat; wer aber sagt: Du Wahnsinniger!, der muß ins höllische Feuer. Darum: wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst und es fällt dir dabei ein, daß dein Bruder etwas gegen dich hat, so laß dort vor dem Altar deine Gabe und geh erst hin und versöhne dich mit deinem Bruder und dann komm und opfere deine Gabe. Vertrage dich mit deinem Gegner sofort, während du noch mit ihm auf dem Weg bist, damit dich der Gegner nicht dem Richter überliefert und der Richter dem Diener und du ins Gefängnis geworfen wirst. Wahrlich, ich sage dir: Du wirst nicht eher wieder herauskommen, bis du auch den letzten Pfennig bezahlt hast.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Damit dir klar wird, daß die vom Zorn Besessenen nicht bei Verstand sind, brauchst du bloß ihr Äußeres anzusehen. Untrügliche Zeichen von Wahnsinn sind doch eine verwegen drohende Miene, eine finstere Stirn, ein grimmiges Antlitz, ein rascher Rang, unablässige Bewegung der Hände, Verfärbungen der Haut und ein schnelles, allzu heftiges Atmen; und genau dies sind auch die Kennzeichen der Zornigen: Die Augen flammen und blitzen, das Antlitz ist von Röte übergossen, da ihnen das Blut aus dem tiefstem Herzen emporwallt; die Lippen bewegen sich zitternd, die Zähne knirschen, das Haar richtet sich starr in die Höhe, der Atem geht beklommen und pfeifend; du vernimmst, wie die Gelenke knacken, die sich von selbst verrenken, hörst ein Stöhnen und Brüllen, Wortfetzen in ungenauen Tönen, die Hände werden immer wieder zusammengeschlagen, die Füße stampfen auf den Boden; der ganze Körper ist in einem Zustand der Erregung, ein Bild wüster Drohung, gar übel anzusehen, wenn der Mensch sich so gehenläßt und bersten will vor Zorn.
Man weiß nicht, ob dieses Laster in höherem Grad verwerflich oder abscheulich ist. Andere Laster lassen sich noch verbergen oder geheimhalten; der Zorn aber drängt nach außen und will gesehen werden, und je heftiger er ist, desto hörbarer braust er auf. Beobachtest du nicht, wie bei allen Tieren in dem Augenblick, da sie zum Angriff übergehen, bestimmte Merkmale hervortreten und der ganze Körper seine gewohnte Ruhe verliert und wie ihre wilde Natur ein noch unfreundlicheres Aussehen erhält? Dem Eber steht der Schaum vor dem Maule, knirschend wetzt er die Zähne; der Stier wirft die Hörner in die Luft und stampft auf den Boden, daß er Sand aufspritzt; der Löwe brüllt, und die Schlange, sobald man sie reizt, bläht ihren Hals auf, und welch üblen Anblick schließlich bieten Hunde, wenn sie in Wut geraten! Kein Tier ist schon von Natur so furchterregend und gefährlich, daß es nicht im Augenblick des Zorns noch größere Schrecklichkeit zum Ausdruck brächte. Natürlich können auch die übrigen Leidenschaften nicht gänzlich im Verborgenen bleiben; auch die Wollust und die Ängstlichkeit und die Kühnheit haben ihre äußeren Kennzeichen und lassen sich schon früh erkennen. Es gibt ja keine Form einer stärkeren Erregung, die sich nicht auch in den Gesichtszügen abzeichnete. Worin besteht nun aber der Unterschied? Darin, daß andere Leidenschaften, wohl sichtbar werden, der Zorn aber sich ein drohendes Aussehen gibt.
Besieht man sich aber, was der Zorn schon alles verursacht und welchen Schaden er angerichtet hat, so stellt man fest, daß von allen Übeln dem Menschengeschlecht keines teurer zu stehen kam. Da bekommt man zu sehen Mord und Giftmischerei, schmutzige Beschuldigungen vor dem Richter, den Untergang von Städten und das Ende ganzer Völker; man kann erleben, wie Fürsten die Häupter von Bürgern zur Auktion geben, wie Feuerbrände in die Häuser gelegt werden, wie der Brand nicht nur Städte erfaßt, sondern wie die feindliche Flamme über weite Landstriche hin widerscheint. Schau, aus fast unmerklichem Anfang sind die großartigsten Staaten entstanden, und der Zorn war es, der sie zu Fall brachte! Meilenweit verödetes Land ohne Bewohner - der Zorn hat es verwüstet! Sieh dir die vielen Feldherren an, von denen die Geschichte berichtet, lauter Beispiele eines üblen Schicksals: Den einen hat der Zorn auf seinem Ruhebett mit dem Dolch durchbohrt, den anderen hat er am unverletzlichen Tisch des Hauses durch Mörderhand sterben lassen; den einen hat er inmitten seiner Arbeit an den Gesetzen vor den Augen des Volkes auf dem Forum zerfleischt, den anderen hat er durch die Hand eines Vatermörders fallen lassen; den einen hieß er vermittels einer Sklavenhand eines Königs Kehle durchschneiden, den anderen brachte er dahin, daß er die Glieder seines Opfers am Kreuze ausstreckte! Und noch war die Rede nur vom Wüten eines gewaltsamen Todes gegen einzelne Menschen.
Doch genug von jenen, die als einzelne vom Zorn getroffen waren, wenn's dir beliebt, kannst du sehen, wie ganze Volksversammlungen dem Schwert zum Opfer fielen, wie ein ganzes Volk von Kriegern überfallen und niedergemetzelt ward und wie ganze Nationen sich untereinander zerfleischten, als hätten die Götter der Obsorge um uns entsagt und auf das Ansehen verzichtet, das sie bei uns genießen. Weshalb denn zürnt das Volk so sehr den Gladiatoren, und zwar in so wilder Weise, daß es glaubt, sie täten Unrecht, wenn sie sich nicht gerne töten ließen? Das Volk sieht sich verachtet und nun nimmt es, eben noch Zuschauer, Miene, Haltung und Leidenschaftlichkeit eines Gegners an. Was immer es sei, mag es nicht gerade Zorn sein, aber es ist etwas Ähnliches, so wie Kinder, wenn sie hinfallen, wollen, daß der Boden Schläge bekommt, und wie sie dabei oft nicht wissen, worauf sie zornig sind. Aber eben ohne Anlaß und ohne daß Unrecht geschah, zürnen sie, freilich nicht ohne doch irgendwie etwas erlitten zu haben und deshalb nicht ohne eine gewisse Rachsucht. Zum Scherz läßt man es denn zur Bestrafung kommen, und man stellt sie zufrieden, indem man sie glauben macht, der Boden bitte unter Tränen um Vergebung; und die vorgetäuschte Strafe läßt den Schmerz verwinden, dessen Ursache nicht richtig gesehen ward.
Aber man bekommt zu hören: »Wir zürnen oft nicht denen, die uns verletzt haben, sondern jenen, die uns verletzen wollen, woraus erhellt, daß der Zorn nicht nur durch erlittenes Unrecht zustande kommt.« Es stimmt, wir zürnen jenen, die uns verletzen wollen; aber es ist schon ihre Absicht, die verletzt, und wer sich anschickt, uns ein Unrecht anzutun, der tut es bereits. »So wisse«, entgegnet man darauf, »daß der Zorn nicht in der Begierde besteht, eine Bestrafung zu verhängen; die Ohnmächtigsten zürnen ja oft gerade den Mächtigsten, und ihr Begehren richtet sich dabei nicht auf eine Bestrafung derselben, da sie damit nicht rechnen können.« Erstens haben wir gesagt, der Zorn bestehe in dem Begehren, eine Strafe zu verhängen, nicht aber in der Fähigkeit dazu; Menschen begehren ja manches, was sie nicht erreichen können. Außerdem ist kein Mensch von so niedrigem Rang, daß er die Bestrafung auch eines Menschen höchsten Ranges nicht erhoffen könnte; denn einem zu schaden, sind wir durchaus in der Lage. Die Definition des Aristoteles deckt sich fast mit der unseren: Er sagt, der Zorn sei das Begehren, eine erlittene Verletzung heimzuzahlen.
Einige Menschen sind von Natur aus jähzornig. Wenn sich bei ihnen [die Seele] wegen eines Verdrusses indessen ruhig und still verhält, dann bekommen sie manchmal durch ihren Zorn einen Anfall, durch den ihr Körper unter Druck gerät; dann gewinnt die Seele ihre Kraft zurück und wacht auf. Aber auch bei anderen Menschen kommt es oft vor, wenn sich die Seele wegen eines Verdrusses indessen ruhig und still verhält, daß ihr Körper von irgendeinem Leiden gedrückt wird; dann wacht auch ihre Seele auf, gewinnt die frühere Kraft zurück und kommt wieder zu sich. Es gibt auch noch andere Menschen, bei denen der Körper, wenn sich die Seele aus Widerwillen gegen eine anstrengende Betätigung ruhig verhält, von Lethargie und Unschlüssigkeit gelähmt ist. Dann erwacht die Seele, die bereits in ihnen schlief, und gewinnt ihre früheren Kräfte zurück. Es gibt auch einige Menschen, die aufgrund ihrer Veranlagung des öfteren in Zorn entbrennen.
Der Zorn, der in ihnen steckt, erregt oft ihr ganzes Blut, so daß es zu einer großen Aufwallung des Blutes kommt, und infolge dieses Aufwallens befällt eine Art feuchter Qualm ihr Gehirn, läßt sie rasend werden und schränkt auch ihr Bewußtsein ein. Wenn solche Menschen einmal in Zorn geraten und durch irgendwelche alltägliche Sorgen belastet sind, dann sieht das der Teufel und erschreckt sie mit seinem Atem, wenn er sie durch seine Einflüsterungen verführen will. Dann sinkt die Seele in ihnen ermattet nieder und zieht sich zurück, der Körper aber bricht ohnmächtig zusammen und liegt so lange ohnmächtig da, bis die Seele wieder ihre Kräfte zurückgewinnt und sich aufrichtet. Wer unter einem solchen Übel leidet, hat einen wütenden Blick und Gesichtsausdruck und macht wütende Bewegungen. Wenn er auf die Erde fällt, stoßen sie manchmal unnatürliche Laute aus. Die hier erwähnte Krankheit zeigt sich nur ziemlich selten und läßt sich nur schwer heilen.
MARTIN LUTHER
Wozu der Zorn dient
Ich habe keine bessere Arznei als den Zorn. Denn wenn ich gut schreiben, beten und predigen will, dann muß ich zornig sein; da erfrischt sich mein ganz Geblüt, mein Verstand wird geschärft, und alle Anfechtungen weichen.
FRIEDRICH HÖLDERLIN
Der zürnende Dichter
Fürchtet den Dichter nicht, wenn er edel zürnet, sein Buchstab Tötet, aber es macht Geister lebendig der Geist.
DIE BIBEL
Vom Töten
Ihr habt gehört, daß den Alten gesagt worden ist (2. Mose 20,13; 21,12): »Du sollst nicht töten; wer aber tötet, der muß vors Gericht.« Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnt, der muß vors Gericht; wer aber zu seinem Bruder sagt: Du Hohlkopf!, der muß vor den Hohen Rat; wer aber sagt: Du Wahnsinniger!, der muß ins höllische Feuer. Darum: wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst und es fällt dir dabei ein, daß dein Bruder etwas gegen dich hat, so laß dort vor dem Altar deine Gabe und geh erst hin und versöhne dich mit deinem Bruder und dann komm und opfere deine Gabe. Vertrage dich mit deinem Gegner sofort, während du noch mit ihm auf dem Weg bist, damit dich der Gegner nicht dem Richter überliefert und der Richter dem Diener und du ins Gefängnis geworfen wirst. Wahrlich, ich sage dir: Du wirst nicht eher wieder herauskommen, bis du auch den letzten Pfennig bezahlt hast.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt
Ricarda Junge 1979 in Wiesbaden geboren, ist Absolventin des Deutschen Literaturinstituts Leipzig. Anschließend studierte sie evangelische Theologie in Frankfurt am Main. Für ihr Debüt »Silberfaden« wurde sie 2003 mit dem Grimmelshausen-Förderpreis ausgezeichnet. 2005 erschien ihr Roman »Kein fremdes Land«, für den sie den George-Konell-Preis erhielt, 2008 »Eine schöne Geschichte«, 2010 der Roman »Die komische Frau« und 2014 der Roman »Die letzten warmen Tage«. 2013 erhielt sie den Robert-Gernhardt-Preis. Ricarda Junge lebt mit ihrer Familie in Berlin und Frankfurt am Main.Literaturpreise:Mehrfach Förderpreise des Jungen Literaturforums Hessen-Thüringen2003 Grimmelshausen-FörderpreisGeorge-Konell-Preis für »Kein fremdes Land«2013 Robert-Gernhardt-Preis
Bibliographische Angaben
- 2014, 1. Auflage., 336 Seiten, Maße: 12,3 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Herausgegeben von Junge, Ricarda
- Herausgegeben: Ricarda Junge
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596905206
- ISBN-13: 9783596905201
- Erscheinungsdatum: 23.01.2014
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