Alea (PDF)
Die Rede vom Leben als Hasardspiel ist zwar uralt, doch sie gewinnt seit dem 17./18. Jahrhundert eine neue Virulenz. Das Verschwinden religiöser Gewissheiten in der...
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenloser tolino webreader
Zählen und Erzählen im Zeichen des Glücksspiels 1650-1850
Die Rede vom Leben als Hasardspiel ist zwar uralt, doch sie gewinnt seit dem 17./18. Jahrhundert eine neue Virulenz. Das Verschwinden religiöser Gewissheiten in der Aufklärung hatte daran ebenso Anteil wie die Entwicklung der Wahrscheinlichkeitsrechnung, die um 1650 am Spieltisch begann. Unter diesem neuen wissenschaftlichen Blick wurden immer weitere Lebenszusammenhänge nach dem Modell eines Spiels mit unterschiedlichen Wahrscheinlichkeitsverteilungen konzeptualisiert. Die glücksspielförmige Zurichtung des Lebens, diese »probabilistische Revolution«, hatte nachhaltige Konsequenzen für das Lebensgefühl, aber auch für die genuin poetologische Frage nach der Erzählbarkeit von Leben. Schnyder geht diesen Zusammenhängen nach in Lektüren von Autoren wie Cardano, Pascal, Leibniz, Defoe, Bernoulli, Lichtenberg, Sterne, Tieck, Novalis, Schlegel, Laplace, Goethe, E.T.A. Hoffmann und Balzac.
1. Das Subjekt erscheint am Spieltisch: Daniel Bernoulli und Lichtenberg
Das Projekt einer rechnerischen und erzählerischen Zähmung des Zufalls steht in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter optimistischen Vorzeichen. Die logica probabilium, wie sie Bernoulli und Leibniz vorschwebte und wie sie als poetologisches Programm im frühen Aufklärungsroman sichtbar wird, erscheint damals als ein Organon zur immanenten Ordnung des vermeintlich chaotischen Zusammenspiels der circumstantiae des menschlichen Lebens, und wie sich ganz explizit bei Leibniz und implizit auch bei Defoe gezeigt hat, gibt das Geschehen am Spieltisch das Modell ab für die neue Art und Weise der Orientierung in der Welt. Es ist der spielende Mensch, den es nach Leibniz zu studieren gilt, wenn man der neuen Vernünftigkeit auf die Spur kommen will.
Die Aufmerksamkeit von Leibniz gilt allerdings nicht oder nur ex negativo dem passionierten Spieler. Der Spieler, der für ihn zum Paradigma für das moderne Subjekt wird, das sich im Zwielicht der Probabilität orientieren muss, ist der homme éclairé; es ist der aufgeklärte Mensch, der bei seinem Spiel gleichsam durch eine Art Instinkt angeleitet immer die – nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit – beste Entscheidung trifft. Dieser homme éclairé spielt auch ohne Anleitung durch eine mathematische Theorie vernünftig, und letztere erscheint damit bloß als die mathematische Umschrift von Entscheidungsprozessen, die im gesunden, aufgeklärten Menschenverstand ohnehin ablaufen.
Das heißt aber, dass dieser Spieler schon als ›vernünftiger Spieler‹ erkennbar sein muss, bevor sein Verhalten durch die wahrscheinlichkeitstheoretische Betrachtung als vernünftig ausgewiesen wird, und tatsächlich versteht sich
»Man ersieht aus diesem Essai [dem Versuch über die Wahrscheinlichkeit], daß die Wahrscheinlichkeitstheorie im Grunde nur der der Berechnung unterworfene gesunde Menschenverstand ist; sie lehrt das mit Genauigkeit abschätzen, was ein gerader Verstand mit einer Art Instinkt fühlt, ohne daß er sich oft davon Rechenschaft geben kann.« Die neue Theorie wurde also verstanden als ein Hilfsmittel zur Beschreibung von bereits zuvor als vernünftig erkanntem Verhalten.
Das würde streng genommen heißen, dass sie für die aufgeklärte Elite letztlich nur von geringer Bedeutung gewesen wäre, und tatsächlich tauchte dieser Gedanke auch auf. Für die Aufklärung der breiten Masse aber stellte die Wahrscheinlichkeitstheorie ein unschätzbares Hilfsmittel dar, denn mit ihrer Hilfe konnte auch der Unaufgeklärte sein Raisonnement in aufgeklärtem Sinne läutern – und zum Beispiel begreifen, dass die Todesstrafe ungerecht ist, wie Condorcet meinte.
- Autor: Peter Schnyder
- 2009, 436 Seiten, Deutsch
- Verlag: Wallstein Verlag GmbH
- ISBN-10: 3835320920
- ISBN-13: 9783835320925
- Erscheinungsdatum: 01.01.2009
Abhängig von Bildschirmgröße und eingestellter Schriftgröße kann die Seitenzahl auf Ihrem Lesegerät variieren.
- Dateiformat: PDF
- Größe: 14 MB
- Ohne Kopierschutz
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Alea".
Kommentar verfassen