Beobachtung sozio-emotionaler Prozesse (PDF)

Die ausgewählte Studie von Bakermans-Kranenburg, Juffer und Ijzendoorn (1998), die den Titel "Interventions with video feedback and attachment discussions: Does type of maternal insecurity make a difference?" trägt, beschäftigt sich primär mit dem Konstrukt der mütterlichen Feinfühligkeit, auch mütterliche Sensitivität genannt. Mütterliche Feinfühligkeit ist definiert als die Fähigkeit der Mutter, prompt und angemessen auf das kindliche Verhalten zu reagieren. Dazu gehört auch, dass die Mutter als Bezugsperson in der Lage sein muss, die emotionalen Signale ihres Kindes wahrzunehmen und richtig zu interpretieren (Ainsworth, Bell & Stayton, 1971, 1974). Diese vier Komponenten sind essentiell für das Konstrukt der mütterlichen Feinfühligkeit. Der Begriff Sensitivität geht somit über die reine Responsivität der Mutter hinaus, die lediglich auf die sofortige Reaktion der Mutter auf kindliche Signale abzielt. Sensitivität hebt zusätzlich die Wichtigkeit von adäquatem Verhalten der Mutter hervor und bezieht sich auf die Qualität der Mutter-Kind-Interaktion. Feinfühlige Mütter können folglich effektiv die negativen Emotionen ihres Kindes regulieren und gehen entsprechend des Alters des Kindes auf dessen Bedürfnisse adäquat ein.
Beeinflusst wird die mütterliche Feinfühligkeit unter anderem durch die mentale Bindungsrepräsentation der Mutter, die Einstellung der Mutter zu Bindung und ihre Bewertung von eigenen Bindungserfahrungen (Grossmann & Grossmann, 2014). Mütter mit einer unsicher-distanzierten, unsicher-verwickelten oder unverarbeitet-traumatisierten Bindungsrepräsentation zeigen ein deutlich niedrigeres Niveau an Feinfühligkeit, als dies Mütter mit einem sicher-autonomen Muster der Bindungsorganisation tun (Ward & Carlson, 1995). Dieser Prozess hat direkte Auswirkungen auf das Bindungsmuster des Kindes. Besonders die mütterliche Feinfühligkeit während des ersten Lebensjahres des Kindes spielt eine große Rolle. Denn mütterliche Sensitivität gilt unter anderem als ein bedeutender sozialer Faktor, der sich auf internale Arbeitsmodelle von Kindern und die Mutter-Kind-Bindung auswirkt. Dabei ist unter Bindung „das zeitlich und räumlich überdauernde emotionale Band zwischen zwei Personen [zu verstehen, welches] sich in der frühen Kindheit vor allem als Suche oder erhalt von körperlicher Nähe [äußert]“ (Pinquart, Schwarzer & Zimmermann, 2011, S. 230). Mütterliche Feinfühligkeit zieht somit langfristige sozio-emotionale Konsequenzen für das Kind mit sich.