Coco Chanel & Igor Strawinsky / Regesta Imperii - Beihefte: Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters (ePub)
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AM MORGEN IHRES Todestages machte Coco eine Spazierfahrt. Es war ein Sonntag, der einzige freie Tag, den sie sich in der Woche zugestand. Zum Schutz gegen die Januarkälte in einen Wolltweedmantel gehüllt, saß sie am Fenster hinter dem Fahrer. Das Gesicht im Rückspiegel gehörte einer Frau Ende achtzig. Ihre Augen waren blutgesprenkelt, die Wimpern lang wie die eines Straußes. Die tief gefurchte Haut wirkte nach zu viel Sonne und zu vielen Zigaretten wie gegerbt. »Wohin, Mademoiselle?« »Ist mir egal. Fahren Sie einfach los.« Der Wagen nahm Fahrt auf und glitt fast geräuschlos über das Kopfsteinpflaster. Coco wirkte klein auf dem Rücksitz, sie war sich des leeren Raums um sich herum geradezu körperlich bewusst. Ledergeruch stieg von den Sitzen auf, und sie spürte, wie deren Kälte ihr in die Glieder drang. »Widerlich, finden Sie nicht?«, bemerkte der Fahrer. »Was?« Mit beiden Händen deutete er nach draußen. »Das.« Murrend setzte Coco ihre Brille auf. Die Umgebung wirkte ungewohnt reglos. Bäume schwebten in der Ferne wie Geister. Von der Madeleine her klang dünnes Läuten und verlor sich in den sich immer weiter ausbreitenden Wellen der Kirchenglocken im ganzen Zentrum von Paris. Nach und nach drang ein erschreckender Anblick in ihr Bewusstsein. Überall auf den Straßen lagen tote Vögel, hauptsächlich Tauben. Mit wachsamen, nervösen Bewegungen sah sie erst aus dem einen Seitenfenster, dann aus dem anderen. Sie verzog angewiedert ihr Gesicht, als sie den Fahrer anwies: »Halt! Ich will aussteigen.« Der Chauffeur fuhr an die Seite. Seine Schirmmütze stieß gegen den Dachhimmel und verrutschte, als er sich beeilte, ihr aus dem Wagen zu helfen. Sie war zwar noch rüstig für ihr Alter, aber trotzdem inzwischen so gebrechlich, dass sie beim Aussteigen auf den stützenden Arm des jungen Mannes angewiesen war. Hektisch blinzelnd sah sie sich um. Die Straße war mit erstarrenden, hornkralligen Vogelkörpern übersät. Grau, mit fliederfarbenen Tupfen und schillernden Bändern um den Hals
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lagen sie mit schlaffen Flügeln da - den Kopf zur Seite geneigt und den Schnabel leicht geöffnet. Neben Cocos Fuß bewegten sich die Federn eines Vogels schlaff im Wind. »Mein Gott!« Vor Abscheu rann ein Schauer durch ihren Körper. Einen Moment lang glaubte sie, ohnmächtig zu werden. Weiter hinten entdeckte sie ein noch viel größeres Gemetzel. Das trockene Bassin eines Brunnens war bis zum Rand mit den zerzausten Kadavern toter Vögel gefüllt. Weitere Federklumpen lagen auf den sandigen Wegen. »Was ist passiert?«, fragte sie, gleichermaßen verwirrt wie bestürzt. »Der Bürgermeister hat angeordnet, den Taubenbestand zu dezimieren. Die Vögel haben die ganze Stadt verdreckt, sie sind gegen Windschutzscheiben geflogen, haben Krankheiten verbreitet ...«, antwortete der junge Mann nüchtern. »Es stand in der Zeitung«, fügte er hinzu, wobei er sorgsam jeden tadelnden Unterton vermied. »Aber wie ...?« Ihr Arm versuchte in einem weiten Bogen das ganze Ausmaß des Massakers zu umfassen. »Sie haben letzte Nacht in allen Parks Gift in die Brunnenbecken gestreut«, erklärte der Fahrer. »Gerade stark genug, dass es ausreicht, um die Tauben zu töten.« Er rieb sich die schwarz behandschuhten Hände. In der dünnen Livree des Ritz spürte auch er allmählich die Kälte. Als er sah, dass sie nach weiteren Informationen hungerte, ergänzte er: »Sie haben absichtlich Samstagnacht dafür gewählt, um die Straßen am Sonntag leichter reinigen zu können.« Da erst bemerkte Coco die kleine Armee von Kehrmaschinen, die bereits durch die Straßen des menschenleeren Stadtzentrums summten. Sie beobachtete, wie sich Männer in blassblauen Overalls der Aufgabe widmeten, die toten Vögel zusammenzufegen. Es sah aus, fand sie, als rechten sie die Kadaver zusammen wie gespenstische Croupiers. Die Beine versagten ihr den Dienst, und sie klammerte sich Halt suchend an ein Geländer. Kleine Rostteilchen blieben an ihren Handschuhen haften. Eine Stimme strömte aus ihrem Mund, ein nur an sie gerichtetes Plappern, verbunden mit einem hohen, hartnäckigen Summen, wie Tinnitus in ihren Ohren. »Mademoiselle?« Der Fahrer neigte lauschend den Kopf zur Seite, aber er erriet, dass die Worte nicht für ihn bestimmt waren. Ihre Gedanken waren bereits weitergewandert - zu Igor und seiner Vogelsammlung. Wie traurig er über diese Tötung wäre, wie entsetzt. Verwundert stellte sie fest, wie sehr sie ihn nach all der Zeit noch vermisste. Sie hatte ihre Gefährten einen nach dem anderen sterben sehen, bis sie alt und allein zurückgeblieben war. Aber er lebte noch. Wie seltsam, dass sie beide überlebt hatten, während fast alle anderen fort waren. Voller Zärtlichkeit erinnerte sie sich an jenen Sommer, den sie zusammen in ihrer Villa Bel Respiro verbracht hatten. Fünfzig Jahre war das jetzt her. Es überraschte sie, dass sie den Verlust plötzlich so stark empfand. Ein Gefühl der Leere überkam sie. Für einen Augenblick erschien ihr alles um sie herum so hohl, dass sie glaubte, die Welt würde dumpf hallen, wenn sie daran klopfte. Der Fahrer stand geduldig neben ihr und wartete darauf, was ihr als Nächstes in den Sinn kommen würde. »Mademoiselle?« »Was?«, fragte sie abwesend. In die Gegenwart zurückgerufen, sah sie die Bäume, ihre dürren Äste, und hörte die Stille nach dem Verstummen der Glocken. Sie verzog das Gesicht, als ihr der Verwesungsgeruch in die Nase stieg. »Mir ist kalt«, sagte sie mit plötzlichem Erschauern. Ihre Finger in den Handschuhen waren taub. Sie zog den Mantel enger und gab dem Fahrer mit einer schnellen Geste zu verstehen, dass sie zum Wagen zurückwollte. Während sie mit hoher Geschwindigkeit losfuhren, bemühte sie sich, ihr schaukelndes Bild im Spiegel der Puderdose zu fixieren. »Fahren Sie doch langsamer!«, schimpfte sie. »Was soll die Eile?« Wieder dieses Summen in ihrem Kopf wie eine Wespe in einem Glas. An einem Tag, der jeglicher Farbe beraubt zu sein schien, sehnte sie sich umso drängender nach ihr. Selbst die sonst so grellen Werbeplakate wirkten, als hätte man den üblichen Hochglanz ausgebleicht. Zittrig zog sie mit dem Lippenstift die schmale Linie ihres Mundes nach. Leuchtend rot geschminkt, bildeten die Lippen einen kleinen farbigen Fleck. Doch als sie die Handschuhe abstreifte, fiel ihr Blick auf ihre mageren, mit unübersehbaren Knoten bedeckten Finger. Angewidert betrachtete sie sie, als seien es Klauen, als seien die Altersflecken darauf eine Art Lepra.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Chris Greenhalgh
- 2010, 352 Seiten, Deutsch
- Übersetzer: Nathalie Lemmens
- Verlag: Penguin Random House
- ISBN-10: 3641047404
- ISBN-13: 9783641047405
- Erscheinungsdatum: 28.07.2010
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- Dateiformat: ePub
- Größe: 1.84 MB
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