Der Fall Scholl / Ullstein eBooks (ePub)
Das tödliche Ende einer Ehe | True Crime-Spannung auf höchstem Niveau
Eine Frau wird brutal ermordet und im Wald verscharrt. Der Verdacht fällt auf ihren Ehemann - den ehemaligen Bürgermeister von Ludwigsfelde, einer Kleinstadt im Süden von Berlin. Sie waren fast fünfzig Jahre miteinander verheiratet. Und galten als perfektes...
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Produktinformationen zu „Der Fall Scholl / Ullstein eBooks (ePub)“
Eine Frau wird brutal ermordet und im Wald verscharrt. Der Verdacht fällt auf ihren Ehemann - den ehemaligen Bürgermeister von Ludwigsfelde, einer Kleinstadt im Süden von Berlin. Sie waren fast fünfzig Jahre miteinander verheiratet. Und galten als perfektes Paar ...
Anja Reich hat den Gerichtsprozess begleitet. Sie sprach mit Verwandten und Freunden des Opfers und des Angeklagten - und mit Heinrich Scholl selbst, der die Tat bis heute bestreitet.
Anja Reich hat den Gerichtsprozess begleitet. Sie sprach mit Verwandten und Freunden des Opfers und des Angeklagten - und mit Heinrich Scholl selbst, der die Tat bis heute bestreitet.
Lese-Probe zu „Der Fall Scholl / Ullstein eBooks (ePub)“
Der Fall Scholl von Anja ReichDer letzte Tag
Brigitte Scholl verschwand am 29.Dezember des Jahres 2011, einen Tag nach ihrem siebenundvierzigsten Hochzeitstag. Die Blumen, die ihr Mann ihr geschenkt hatte, rote Rosen, standen noch auf dem Wohnzimmertisch, in der Ecke der Weihnachtsbaum, gerade gewachsen, üppig geschmückt. Alles musste stimmen.
Es sollte perfekt sein, bis zum Schluss.
Brigitte Scholl war siebenundsechzig Jahre alt und Kosmetikerin von Beruf. Ihr Studio befand sich im Erdgeschoss ihrer Wohnung. Nie war sie unpünktlich, nie unfreundlich, nie hörte man ein lautes Wort im Hause Scholl. Ihre Ehe galt als tadellos. Wenn um acht Uhr morgens die erste Kundin klingelte, stand Brigitte Scholl im weißen Kittel in der Tür, die Haare zurückgebunden. Aus der Küche grüßte ihr Mann, der Bürgermeister a.D.
Heinrich Scholl war eine Legende in Ludwigsfelde. Er hatte nach dem Mauerfall die Sozialdemokratie im Ort mitbegründet, war bei der ersten freien Wahl seit Kriegsende zum Bürgermeister gewählt worden und hatte seiner Stadt einen einzigartigen wirtschaftlichen Aufschwung beschert. Er holte Daimler-Benz, Thyssen sowie Deutschlands führenden Triebwerkshersteller MTU nach Ludwigsfelde. Er schuf Tausende von Arbeitsplätzen und galt als der erfolgreichste Bürgermeister der neuen Länder, der Beweis, dass der Aufschwung Ost funktionierte, ein Symbol für die deutsche Einheit.
... mehr
Seit drei Jahren war er Rentner, aber er konnte nicht aufhören zu arbeiten, genauso wenig wie seine Frau. Sie hatte heute eigentlich frei, ihr Salon war zwischen Weihnachten und Silvester geschlossen. Es war einer dieser Tage zwischen den Jahren, an denen die Zeit stillzustehen scheint. Aber Brigitte Scholl konnte nicht stillstehen, sie musste immer etwas machen, sich immer um irgendetwas kümmern, immer jemandem helfen. Im Ort nannte man sie die Lady Di von Ludwigsfelde. Ihr Mann war Napoleon. Er war ein Meter fünfundsechzig groß und trug gerne Schuhe mit hohen Absätzen.
Heinrich Scholl schlief noch, als seine Frau wie jeden Morgen um halb sechs aufstand, um mit ihrem Hund vor die Tür zu gehen. Es handelte sich um den vierzehnjährigen Ursus, einen Cockerspaniel, der jeden anknurrte, seit er im vergangenen September bei einem Spaziergang auf dem Friedhof von einem anderen Hund ins Ohr gebissen worden war. Brigitte Scholl versorgte ihren Hund rund um die Uhr mit Hundekeksen, während der Kosmetik durfte Ursus unterm Behandlungsstuhl liegen. Ihm zuliebe hatte Brigitte Scholl in diesem Jahr sogar auf den Weihnachtsbesuch bei ihrem Sohn in Wiesbaden* verzichtet. Brigitte Scholl wollte Ursus die lange Fahrt nicht zumuten, und ihn ins Tierheim zu stecken kam für sie nicht in Frage.
Alles drehte sich um Ursus. Neuerdings übernachtete er sogar im Ehebett. Links neben ihr, da, wo früher ihr Mann gelegen hatte.
Es war noch dunkel, als Brigitte Scholl vor die Tür trat, ungeschminkt und unfrisiert, die Mütze tief ins Gesicht gezogen. So wagte sie sich nur um diese Tageszeit auf die Straße. Sie war allein.
Die Luft fühlte sich kühl und feucht an, genau wie in den letzten Tagen. Sie hatten keine weiße Weihnacht gehabt, und für Neujahr war das gleiche graue Wetter vorausgesagt. Sie lief einmal die Walther-Rathenau-Straße hoch und wieder runter. Links und rechts reihten sich Holzhäuser aneinander, die alle gleich aussahen. Dunkle Fassaden, spitze Giebel, kleine Dachluken, Vorgärten, Beete, Rasen, Zäune, Garagen, Hecken. Die Holzhaussiedlung war kurz vor Kriegsende gebaut worden, 1944, genau in dem Jahr, in dem Brigitte Scholl auf die Welt kam. Sie war ein Kriegskind, das in einem Kriegshaus wohnte. Auf dem Dachboden hatten sie Zettel in kyrillischer Schrift gefunden. Sie stammten von den sowjetischen Kriegsgefangenen, die diese Häuser für die Arbeiter des Daimler-Werkes bauten. Das Daimler-Werk in Ludwigsfelde war im Zweiten Weltkrieg das größte und modernste Flugmotorenwerk Europas gewesen. Hier wurden dreitausend-PS-starke Motoren für deutsche Jagdbomber gebaut, die Montagehallen lagen gut versteckt im märkischen Kiefernwald und verfügten über einen direkten Anschluss an Hitlers Reichsautobahn. 1937 wurde der erste Motor gebaut, fünf Jahre später war aus dem Zweihundert-Seelen- Dorf eine Fünftausend-Einwohner-Stadt geworden, ein gesichtsloser Ort ohne Zentrum, ohne Rathaus, ohne Kirche. Ludwigsfelde war als Feldlager für Adolf Hitler und seine Welteroberungspläne geplant worden. Und so richtig hatte sich die Stadt nie davon erholt.
Nach dem Krieg wurden hier DDR-Lastkraftwagen hergestellt, heute befand sich in Ludwigsfelde das größte FKK- Thermalbad Deutschlands. Die Straßen, Bürgersteige und Radwege waren breit, die Autobahn inzwischen sechsspurig. Es gab Autohäuser, Tankstellen und Kreisverkehre, Schulen, Sportplätze, Einkaufszentren, Bahnhöfe, Parkplätze, Tennisplätze, ein Rathaus, ein Kulturhaus, ein Museum und eine Bibliothek. Wie ein Legomodell war die Stadt aus vielen kleinen Bausteinen zusammengesetzt worden. Hier noch ein Haus, hier ein Restaurant, hier eine Sparkasse, hier ein Altenheim, und immer wenn man dachte, es ginge nicht mehr weiter, begann ein neuer Gewerbepark. Große Schilder wiesen die Wege zum Friedhof, zum Bahnhof, Krankenhaus oder Preußenpark. An den Straßen warteten die Leute, bis die Ampel auf Grün sprang, auch wenn weit und breit kein Auto zu sehen war. Für Hundehalter standen Plastiktütenspender zur Entfernung der Hundehaufen zur Verfügung. Alles war ordentlich, sauber und zweckmäßig in Ludwigsfelde. Genau wie im Haushalt von Brigitte und Heinrich Scholl.
Sie waren in den siebziger Jahren in die Holzhaussiedlung gezogen. Ihre Doppelhaushälfte lag an einem kleinen Platz mit Klettergerüst und Blumenbeeten und sah nicht mehr wie ein Kriegshaus aus. Heinrich Scholl hatte Wände rausgerissen, Fliesen verlegt und zwei Kamine gebaut. Die Fenster waren neu, das Dach auch und der Garten ein Kunstwerk. Es kam vor, dass Besucher fragten, ob sie ihre Schuhe ausziehen sollten, bevor sie den Rasen betraten. Auch ihre Hecke wurde oft bewundert. So gerade gewachsen. Brigitte Scholl war vor allem wichtig, dass die Hecke hoch war. Es ging keinen was an, was sie so machte, ob sie alleine zu Hause war, ob es ihr gut oder schlecht ging. Sie war immer noch die Bürgermeisterfrau, eine Autorität im Ort. Nicht einmal ihren besten Freundinnen im Ort erzählte sie von ihren Problemen. Nur ihr Sohn Frank*, der seit zwanzig Jahren in Wiesbaden wohnte, und ihre Freundin Inge*, die 1961 aus Ludwigsfelde nach Anklam gezogen war, wussten Bescheid. Ihnen hatte sie auch erzählt, dass sie vor ein paar Jahren beim Beerdigungsinstitut Klotz ihr Grab bestellt hatte. Auch das gehörte zum Ordnungsverständnis der Bürgermeister- frau. Um bestimmte Dinge sollte man sich nicht erst kümmern, wenn es zu spät ist.
Brigitte Scholl lief zum Haus zurück. Es war halb sieben, im Zimmer ihres Mannes unterm Dach brannte kein Licht, offenbar schlief er noch, was ihr die Möglichkeit gab, in Ruhe zu duschen, sich anzuziehen, aufzuräumen, Frühstück zu machen und ein paar Telefonate zu erledigen. Heinrich Scholl war im Gegensatz zu seiner Frau ein Langschläfer und blieb gerne lange auf. Bis weit nach Mitternacht konnte er im Wohnzimmer sitzen, Rotwein trinken und an irgendwelchen Papieren arbeiten, während sie schon lange schlief. Wenn sie gemeinsam zu Geburtstagen gingen, kam es vor, dass sie sich nach dem Abendbrot verabschiedete und er noch weiterfeierte. Sie waren sehr unterschiedlich. Sie liebte Hunde, er Katzen, er trank gerne Wein, sie verabscheute Alkohol, er kletterte auf sechstausend Meter hohe Berge, sie lag lieber am Ostseestrand, und am liebsten blieb sie zu Hause.
Man fragte sich, wie die beiden es so lange miteinander ausgehalten hatten, aber das fragte man sich ja bei vielen Paaren, die so lange wie die Scholls miteinander verheiratet waren und deren Ehe inzwischen weniger an eine Liebes- als an eine Geschäftsbeziehung zweier Menschen erinnerte, die sich miteinander arrangiert hatten. Zu den Arrangements des Ehepaares Scholl gehörte es, gemeinsam zu frühstücken, den Tag abzusprechen, Aufgaben zu verteilen, und danach ging jeder seiner eigenen Wege, bis man sich irgendwann wieder zu Hause traf.
So war es auch heute, an jenem Donnerstag im Dezember. Heinrich Scholl stand auf, trank Kaffee, las Zeitung. Sein Termin um neun Uhr war abgesagt worden, sein nächster erst um dreizehn Uhr in Berlin, ein Mittagessen mit einem alten Geschäftsfreund. So hatte er Zeit, für seine Frau ein paar Einkäufe zu erledigen, zur Sparkasse zu gehen und das Auto vollzutanken, bevor er bei der Therme nach dem Rechten sehen würde.
Die Therme war sein letztes großes Projekt als Bürgermeister gewesen, ein Zwanzig-Millionen-Bau, der ihn kurz vor Ende seiner Amtszeit fast noch den Kopf gekostet hätte. Zu groß, zu teuer, und dann noch FKK. Ein Luxusnacktbad in der Arbeiterstadt Ludwigsfelde. Sogar seine Genossen fürchteten, Heinrich Scholl habe den Verstand verloren. Aber sie hatten sich geirrt. Das Bad brummte, der Betreiber plante sogar einen Erweiterungsbau. Ein später Triumph für den ehemaligen Bürgermeister Heinrich Scholl, und deshalb wollte er sein Lieblingsprojekt nicht aus den Augen verlieren und beim Erweiterungsbau ein bisschen mithelfen. Er brauchte
- genau wie seine Frau - eine Aufgabe im Leben. In dieser Beziehung verstanden sie sich prächtig. Brigitte Scholl wollte heute das Haus und den Partykeller für die Silvesterfeier aufräumen, nachdem sie gestern, an ihrem Hochzeitstag, zur Kosmetik und zur Fußpflege gegangen war. Sie hatte vorgehabt, sich selbst einmal etwas Gutes zu gönnen, aber wer sie kannte, wusste, dass sie noch ein anderes Ziel hatte: Sie wollte die Konkurrenz auskundschaften. Ihr Kosmetikstudio lief immer noch gut, trotz Therme, trotz der anderen Salons im Ort und in der Umgebung, die sich Beauty- und Wellnessfarmen nannten und die sie im Stillen verachtete, weil Kosmetikerinnen heutzutage nicht mehr anständig ausgebildet wurden und billige Produkte viel zu teuer verkauften. Ihre alten Stammkunden wussten zum Glück, was sie an ihr hatten, dennoch begriff Brigitte Scholl, dass es langsam Zeit war, kürzerzutreten und sich eines Tages ganz zur Ruhe zu setzen. Das Stehen fiel ihr schwer, und ihre Hände schmerzten von den Hals- und Gesichtsmassagen, die zu ihrer Standardbehandlung gehörten. Sie hatte ihre Arbeitszeit bereits auf drei Vormittage in der Woche reduziert, und bevor sie ganz aufhörte, musste sie noch einen Salon finden, den sie ihren Kundinnen mit gutem Gewissen empfehlen konnte. Das war sie ihnen schuldig.
Erwartungsgemäß hatten die Behandlungen ihre hohen Ansprüche nicht erfüllt. Ihre Haut hatte geglänzt wie Speck, und die Preise waren viel höher als bei ihr. Das hatte sie geärgert und gleichzeitig gefreut. Zu wissen, gebraucht zu werden, unersetzbar zu sein, war ihr wichtig.
Ursus, ihr Hund, stand als Nächstes auf ihrer Tagesordnung. Um zwölf Uhr würde sie ihn ins Auto laden und mit ihm im Wald spazieren gehen. Das tat sie immer, jeden Tag, bei jedem Wetter, man konnte die Uhr danach stellen. Ihr Mann hatte sie schon oft gewarnt, es sei nicht ungefährlich, als Frau so ganz alleine im Wald herumzulaufen, zumal sie nicht einmal ein Handy besaß, aber sie lachte nur darüber. Brigitte Scholl hatte keine Angst. Sie war fast siebzig, wer sollte ihr schon etwas tun?
Heute würde der Spaziergang etwas länger dauern als sonst, denn sie hatte vor, frisches Moos zu sammeln und später daraus Gestecke zu fertigen. Das war ihr Hobby. Ihre gesamte Terrasse war mit kleinen Kunstwerken aus Moosen, Zweigen, Tannenzapfen und getrockneten Beeren dekoriert. Und nicht nur ihre. Sie verschenkte ihre Moosgestecke an Familienmitglieder, Freunde, Nachbarn und Bekannte. Heute wollte sie Maria*, einer ehemaligen Mitschülerin, die Blumenkästen herrichten. Seit Marias Mann im Sterben lag, hatte sie keine Zeit mehr, sich um diese Dinge zu kümmern. Da musste Brigitte Scholl ran.
»Bei dir sind ja noch die Osterhasen in den Blumenkästen «, hatte sie ausgerufen, als sie Maria vor ein paar Tagen besucht und festgestellt hatte, dass überall noch die alten vertrockneten Frühjahrsgestecke herumstanden. Maria waren ihre Blumentöpfe egal, aber sie widersprach nicht. Sie kannte Gitti, wie sie alle nannten, seit sechzig Jahren und wusste, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, würde sie es auch durchsetzen.
Am Morgen telefonierten die beiden Frauen noch miteinander. Brigitte Scholl klang wie immer, frisch, entschieden, unternehmungslustig. Sie kündigte an, nachmittags mit dem Moos vorbeizukommen. Auch einer anderen Freundin fiel nichts Besonderes auf, als Gitti vormittags anrief, um von einem Medikament gegen Gelenkschmerzen zu berichten, das sie ihrem Mann empfehlen könne. Brigitte Scholl kannte immer die neuesten Medikamente und die besten Ärzte und empfahl sie gerne weiter. Vor dem Haus plauderte sie ein bisschen mit ihrem Nachbarn, der seinen Weihnachtsschmuck vom Haus abnahm, und machte sich kurz vor zwölf Uhr auf den Weg zum Waldspaziergang. Eine Nachbarin sah, wie sie losfuhr und dann noch einmal zurückkam und ins Haus lief, als habe sie etwas vergessen. Das nächste Mal tauchte ihr Auto in der Nähe der Therme auf. Jeder im Ort kannte Brigitte Scholls silberfarbenen Mercedes mit dem Kennzeichen TF -BS 700. TF stand für Teltow-Fläming. BS für Brigitte Scholl. Eine Frau, die gerade aus einem Fotogeschäft kam, fuhr kurz hinter ihr her.
Gegen zwölf Uhr kam Brigitte Scholl an der Siethener Straße am Ortsausgang von Ludwigsfelde an und stellte den Mercedes ab. Sie stieg aus, zog ihre Waldschuhe an, nahm den Hund an die Leine und lief tief in den Wald hinein, um Moos zu sammeln. Zwischen den hohen Kiefern verliert sich ihre Spur. Später an diesem Tag wurde nur noch ihr Auto gesehen. Es fuhr zurück in die Stadt.
Am Steuer saß ein Mann.
Copyright © Ullstein Verlag.
Seit drei Jahren war er Rentner, aber er konnte nicht aufhören zu arbeiten, genauso wenig wie seine Frau. Sie hatte heute eigentlich frei, ihr Salon war zwischen Weihnachten und Silvester geschlossen. Es war einer dieser Tage zwischen den Jahren, an denen die Zeit stillzustehen scheint. Aber Brigitte Scholl konnte nicht stillstehen, sie musste immer etwas machen, sich immer um irgendetwas kümmern, immer jemandem helfen. Im Ort nannte man sie die Lady Di von Ludwigsfelde. Ihr Mann war Napoleon. Er war ein Meter fünfundsechzig groß und trug gerne Schuhe mit hohen Absätzen.
Heinrich Scholl schlief noch, als seine Frau wie jeden Morgen um halb sechs aufstand, um mit ihrem Hund vor die Tür zu gehen. Es handelte sich um den vierzehnjährigen Ursus, einen Cockerspaniel, der jeden anknurrte, seit er im vergangenen September bei einem Spaziergang auf dem Friedhof von einem anderen Hund ins Ohr gebissen worden war. Brigitte Scholl versorgte ihren Hund rund um die Uhr mit Hundekeksen, während der Kosmetik durfte Ursus unterm Behandlungsstuhl liegen. Ihm zuliebe hatte Brigitte Scholl in diesem Jahr sogar auf den Weihnachtsbesuch bei ihrem Sohn in Wiesbaden* verzichtet. Brigitte Scholl wollte Ursus die lange Fahrt nicht zumuten, und ihn ins Tierheim zu stecken kam für sie nicht in Frage.
Alles drehte sich um Ursus. Neuerdings übernachtete er sogar im Ehebett. Links neben ihr, da, wo früher ihr Mann gelegen hatte.
Es war noch dunkel, als Brigitte Scholl vor die Tür trat, ungeschminkt und unfrisiert, die Mütze tief ins Gesicht gezogen. So wagte sie sich nur um diese Tageszeit auf die Straße. Sie war allein.
Die Luft fühlte sich kühl und feucht an, genau wie in den letzten Tagen. Sie hatten keine weiße Weihnacht gehabt, und für Neujahr war das gleiche graue Wetter vorausgesagt. Sie lief einmal die Walther-Rathenau-Straße hoch und wieder runter. Links und rechts reihten sich Holzhäuser aneinander, die alle gleich aussahen. Dunkle Fassaden, spitze Giebel, kleine Dachluken, Vorgärten, Beete, Rasen, Zäune, Garagen, Hecken. Die Holzhaussiedlung war kurz vor Kriegsende gebaut worden, 1944, genau in dem Jahr, in dem Brigitte Scholl auf die Welt kam. Sie war ein Kriegskind, das in einem Kriegshaus wohnte. Auf dem Dachboden hatten sie Zettel in kyrillischer Schrift gefunden. Sie stammten von den sowjetischen Kriegsgefangenen, die diese Häuser für die Arbeiter des Daimler-Werkes bauten. Das Daimler-Werk in Ludwigsfelde war im Zweiten Weltkrieg das größte und modernste Flugmotorenwerk Europas gewesen. Hier wurden dreitausend-PS-starke Motoren für deutsche Jagdbomber gebaut, die Montagehallen lagen gut versteckt im märkischen Kiefernwald und verfügten über einen direkten Anschluss an Hitlers Reichsautobahn. 1937 wurde der erste Motor gebaut, fünf Jahre später war aus dem Zweihundert-Seelen- Dorf eine Fünftausend-Einwohner-Stadt geworden, ein gesichtsloser Ort ohne Zentrum, ohne Rathaus, ohne Kirche. Ludwigsfelde war als Feldlager für Adolf Hitler und seine Welteroberungspläne geplant worden. Und so richtig hatte sich die Stadt nie davon erholt.
Nach dem Krieg wurden hier DDR-Lastkraftwagen hergestellt, heute befand sich in Ludwigsfelde das größte FKK- Thermalbad Deutschlands. Die Straßen, Bürgersteige und Radwege waren breit, die Autobahn inzwischen sechsspurig. Es gab Autohäuser, Tankstellen und Kreisverkehre, Schulen, Sportplätze, Einkaufszentren, Bahnhöfe, Parkplätze, Tennisplätze, ein Rathaus, ein Kulturhaus, ein Museum und eine Bibliothek. Wie ein Legomodell war die Stadt aus vielen kleinen Bausteinen zusammengesetzt worden. Hier noch ein Haus, hier ein Restaurant, hier eine Sparkasse, hier ein Altenheim, und immer wenn man dachte, es ginge nicht mehr weiter, begann ein neuer Gewerbepark. Große Schilder wiesen die Wege zum Friedhof, zum Bahnhof, Krankenhaus oder Preußenpark. An den Straßen warteten die Leute, bis die Ampel auf Grün sprang, auch wenn weit und breit kein Auto zu sehen war. Für Hundehalter standen Plastiktütenspender zur Entfernung der Hundehaufen zur Verfügung. Alles war ordentlich, sauber und zweckmäßig in Ludwigsfelde. Genau wie im Haushalt von Brigitte und Heinrich Scholl.
Sie waren in den siebziger Jahren in die Holzhaussiedlung gezogen. Ihre Doppelhaushälfte lag an einem kleinen Platz mit Klettergerüst und Blumenbeeten und sah nicht mehr wie ein Kriegshaus aus. Heinrich Scholl hatte Wände rausgerissen, Fliesen verlegt und zwei Kamine gebaut. Die Fenster waren neu, das Dach auch und der Garten ein Kunstwerk. Es kam vor, dass Besucher fragten, ob sie ihre Schuhe ausziehen sollten, bevor sie den Rasen betraten. Auch ihre Hecke wurde oft bewundert. So gerade gewachsen. Brigitte Scholl war vor allem wichtig, dass die Hecke hoch war. Es ging keinen was an, was sie so machte, ob sie alleine zu Hause war, ob es ihr gut oder schlecht ging. Sie war immer noch die Bürgermeisterfrau, eine Autorität im Ort. Nicht einmal ihren besten Freundinnen im Ort erzählte sie von ihren Problemen. Nur ihr Sohn Frank*, der seit zwanzig Jahren in Wiesbaden wohnte, und ihre Freundin Inge*, die 1961 aus Ludwigsfelde nach Anklam gezogen war, wussten Bescheid. Ihnen hatte sie auch erzählt, dass sie vor ein paar Jahren beim Beerdigungsinstitut Klotz ihr Grab bestellt hatte. Auch das gehörte zum Ordnungsverständnis der Bürgermeister- frau. Um bestimmte Dinge sollte man sich nicht erst kümmern, wenn es zu spät ist.
Brigitte Scholl lief zum Haus zurück. Es war halb sieben, im Zimmer ihres Mannes unterm Dach brannte kein Licht, offenbar schlief er noch, was ihr die Möglichkeit gab, in Ruhe zu duschen, sich anzuziehen, aufzuräumen, Frühstück zu machen und ein paar Telefonate zu erledigen. Heinrich Scholl war im Gegensatz zu seiner Frau ein Langschläfer und blieb gerne lange auf. Bis weit nach Mitternacht konnte er im Wohnzimmer sitzen, Rotwein trinken und an irgendwelchen Papieren arbeiten, während sie schon lange schlief. Wenn sie gemeinsam zu Geburtstagen gingen, kam es vor, dass sie sich nach dem Abendbrot verabschiedete und er noch weiterfeierte. Sie waren sehr unterschiedlich. Sie liebte Hunde, er Katzen, er trank gerne Wein, sie verabscheute Alkohol, er kletterte auf sechstausend Meter hohe Berge, sie lag lieber am Ostseestrand, und am liebsten blieb sie zu Hause.
Man fragte sich, wie die beiden es so lange miteinander ausgehalten hatten, aber das fragte man sich ja bei vielen Paaren, die so lange wie die Scholls miteinander verheiratet waren und deren Ehe inzwischen weniger an eine Liebes- als an eine Geschäftsbeziehung zweier Menschen erinnerte, die sich miteinander arrangiert hatten. Zu den Arrangements des Ehepaares Scholl gehörte es, gemeinsam zu frühstücken, den Tag abzusprechen, Aufgaben zu verteilen, und danach ging jeder seiner eigenen Wege, bis man sich irgendwann wieder zu Hause traf.
So war es auch heute, an jenem Donnerstag im Dezember. Heinrich Scholl stand auf, trank Kaffee, las Zeitung. Sein Termin um neun Uhr war abgesagt worden, sein nächster erst um dreizehn Uhr in Berlin, ein Mittagessen mit einem alten Geschäftsfreund. So hatte er Zeit, für seine Frau ein paar Einkäufe zu erledigen, zur Sparkasse zu gehen und das Auto vollzutanken, bevor er bei der Therme nach dem Rechten sehen würde.
Die Therme war sein letztes großes Projekt als Bürgermeister gewesen, ein Zwanzig-Millionen-Bau, der ihn kurz vor Ende seiner Amtszeit fast noch den Kopf gekostet hätte. Zu groß, zu teuer, und dann noch FKK. Ein Luxusnacktbad in der Arbeiterstadt Ludwigsfelde. Sogar seine Genossen fürchteten, Heinrich Scholl habe den Verstand verloren. Aber sie hatten sich geirrt. Das Bad brummte, der Betreiber plante sogar einen Erweiterungsbau. Ein später Triumph für den ehemaligen Bürgermeister Heinrich Scholl, und deshalb wollte er sein Lieblingsprojekt nicht aus den Augen verlieren und beim Erweiterungsbau ein bisschen mithelfen. Er brauchte
- genau wie seine Frau - eine Aufgabe im Leben. In dieser Beziehung verstanden sie sich prächtig. Brigitte Scholl wollte heute das Haus und den Partykeller für die Silvesterfeier aufräumen, nachdem sie gestern, an ihrem Hochzeitstag, zur Kosmetik und zur Fußpflege gegangen war. Sie hatte vorgehabt, sich selbst einmal etwas Gutes zu gönnen, aber wer sie kannte, wusste, dass sie noch ein anderes Ziel hatte: Sie wollte die Konkurrenz auskundschaften. Ihr Kosmetikstudio lief immer noch gut, trotz Therme, trotz der anderen Salons im Ort und in der Umgebung, die sich Beauty- und Wellnessfarmen nannten und die sie im Stillen verachtete, weil Kosmetikerinnen heutzutage nicht mehr anständig ausgebildet wurden und billige Produkte viel zu teuer verkauften. Ihre alten Stammkunden wussten zum Glück, was sie an ihr hatten, dennoch begriff Brigitte Scholl, dass es langsam Zeit war, kürzerzutreten und sich eines Tages ganz zur Ruhe zu setzen. Das Stehen fiel ihr schwer, und ihre Hände schmerzten von den Hals- und Gesichtsmassagen, die zu ihrer Standardbehandlung gehörten. Sie hatte ihre Arbeitszeit bereits auf drei Vormittage in der Woche reduziert, und bevor sie ganz aufhörte, musste sie noch einen Salon finden, den sie ihren Kundinnen mit gutem Gewissen empfehlen konnte. Das war sie ihnen schuldig.
Erwartungsgemäß hatten die Behandlungen ihre hohen Ansprüche nicht erfüllt. Ihre Haut hatte geglänzt wie Speck, und die Preise waren viel höher als bei ihr. Das hatte sie geärgert und gleichzeitig gefreut. Zu wissen, gebraucht zu werden, unersetzbar zu sein, war ihr wichtig.
Ursus, ihr Hund, stand als Nächstes auf ihrer Tagesordnung. Um zwölf Uhr würde sie ihn ins Auto laden und mit ihm im Wald spazieren gehen. Das tat sie immer, jeden Tag, bei jedem Wetter, man konnte die Uhr danach stellen. Ihr Mann hatte sie schon oft gewarnt, es sei nicht ungefährlich, als Frau so ganz alleine im Wald herumzulaufen, zumal sie nicht einmal ein Handy besaß, aber sie lachte nur darüber. Brigitte Scholl hatte keine Angst. Sie war fast siebzig, wer sollte ihr schon etwas tun?
Heute würde der Spaziergang etwas länger dauern als sonst, denn sie hatte vor, frisches Moos zu sammeln und später daraus Gestecke zu fertigen. Das war ihr Hobby. Ihre gesamte Terrasse war mit kleinen Kunstwerken aus Moosen, Zweigen, Tannenzapfen und getrockneten Beeren dekoriert. Und nicht nur ihre. Sie verschenkte ihre Moosgestecke an Familienmitglieder, Freunde, Nachbarn und Bekannte. Heute wollte sie Maria*, einer ehemaligen Mitschülerin, die Blumenkästen herrichten. Seit Marias Mann im Sterben lag, hatte sie keine Zeit mehr, sich um diese Dinge zu kümmern. Da musste Brigitte Scholl ran.
»Bei dir sind ja noch die Osterhasen in den Blumenkästen «, hatte sie ausgerufen, als sie Maria vor ein paar Tagen besucht und festgestellt hatte, dass überall noch die alten vertrockneten Frühjahrsgestecke herumstanden. Maria waren ihre Blumentöpfe egal, aber sie widersprach nicht. Sie kannte Gitti, wie sie alle nannten, seit sechzig Jahren und wusste, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, würde sie es auch durchsetzen.
Am Morgen telefonierten die beiden Frauen noch miteinander. Brigitte Scholl klang wie immer, frisch, entschieden, unternehmungslustig. Sie kündigte an, nachmittags mit dem Moos vorbeizukommen. Auch einer anderen Freundin fiel nichts Besonderes auf, als Gitti vormittags anrief, um von einem Medikament gegen Gelenkschmerzen zu berichten, das sie ihrem Mann empfehlen könne. Brigitte Scholl kannte immer die neuesten Medikamente und die besten Ärzte und empfahl sie gerne weiter. Vor dem Haus plauderte sie ein bisschen mit ihrem Nachbarn, der seinen Weihnachtsschmuck vom Haus abnahm, und machte sich kurz vor zwölf Uhr auf den Weg zum Waldspaziergang. Eine Nachbarin sah, wie sie losfuhr und dann noch einmal zurückkam und ins Haus lief, als habe sie etwas vergessen. Das nächste Mal tauchte ihr Auto in der Nähe der Therme auf. Jeder im Ort kannte Brigitte Scholls silberfarbenen Mercedes mit dem Kennzeichen TF -BS 700. TF stand für Teltow-Fläming. BS für Brigitte Scholl. Eine Frau, die gerade aus einem Fotogeschäft kam, fuhr kurz hinter ihr her.
Gegen zwölf Uhr kam Brigitte Scholl an der Siethener Straße am Ortsausgang von Ludwigsfelde an und stellte den Mercedes ab. Sie stieg aus, zog ihre Waldschuhe an, nahm den Hund an die Leine und lief tief in den Wald hinein, um Moos zu sammeln. Zwischen den hohen Kiefern verliert sich ihre Spur. Später an diesem Tag wurde nur noch ihr Auto gesehen. Es fuhr zurück in die Stadt.
Am Steuer saß ein Mann.
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Autoren-Porträt von Anja Reich
Anja Reich wurde in Ostberlin geboren. Sie arbeitete als Redakteurin für Die Welt und die Berliner Zeitung. 1999 ging sie gemeinsam mit ihrem Mann, Alexander Osang, und ihren Kindern für sieben Jahre nach New York, wo sie heute wieder lebt. 2012 wurde sie mit dem Deutschen Reporterpreis ausgezeichnet.
Bibliographische Angaben
- Autor: Anja Reich
- 2014, 1. Auflage, 208 Seiten, Deutsch
- Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
- ISBN-10: 3843707049
- ISBN-13: 9783843707046
- Erscheinungsdatum: 11.04.2014
Abhängig von Bildschirmgröße und eingestellter Schriftgröße kann die Seitenzahl auf Ihrem Lesegerät variieren.
eBook Informationen
- Dateiformat: ePub
- Größe: 3.09 MB
- Ohne Kopierschutz
Family Sharing
eBooks und Audiobooks (Hörbuch-Downloads) mit der Familie teilen und gemeinsam genießen. Mehr Infos hier.
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