Dostojewski (ePub)
Alle Ideen Dostojewskis steigen aus moralischen Anlässen in die Höhen der Dichtung; nicht etwa umgekehrt aus der Dichtung in die Moral. Alle seine Hauptwerke sind Tendenzdichtung. Er hat belehren und bessern wollen. Nur ist die Lehre kein Kodex, sondern ein...
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Alle Ideen Dostojewskis steigen aus moralischen Anlässen in die Höhen der Dichtung; nicht etwa umgekehrt aus der Dichtung in die Moral. Alle seine Hauptwerke sind Tendenzdichtung. Er hat belehren und bessern wollen. Nur ist die Lehre kein Kodex, sondern ein lebender Organismus, ein in ständiger Bewegung begriffener Instinkt, der die Formulierung fürchtet, weil sie ihn schwächen würde. Ein durchaus russischer Instinkt. Im Anfang steht nicht das von unsichtbaren Mächten geprägte Wort, sondern die Gemeinschaft mit anderen, mit dem ganzen Volke; da dieses Volk groß und von Natur mit besonderen assoziativen Organen versehen ist, mit der ganzen Welt. Die Sorge um die Gemeinschaft läßt ihn reden, ohne ihn hinauszustellen. Er erhöht sich nicht zum Vorredner der Gemeinde, sondern bleibt so tief in ihr drin, daß er nur zu sich selbst zu sprechen braucht, um zu ihr zu reden. Wenn Dostojewski Wir sagt, ist das nicht die dichterische Lizenz des Westlers, der nur sich selbst meint, sondern Bezeichnung einer greifbaren Masse. Das lebt und webt und regt sich. Der Mensch, der sündigt, ist nicht nur Sonderfall, sondern gehört dazu. Wir sündigen alle. Selbst wenn einer ganz heillos sündigt, immer ist eine Bande um ihn herum, die irgendwie mittut, mitsündigt, ihm zuruft. Der größte Sünder ist Dostojewski selbst; wenigstens übernimmt er die Verantwortung dafür. Er begreift alles und steht zu dem Sünder wie ein Älterer, der das alles früher auch einmal gemacht hat und daher gar nicht daran denken kann, es dem Jüngeren vorzuwerfen. Wir müssen Zusammenhalten, sagt er, müssen zusammen überlegen, wie wir aus der Geschichte herauskommen. Ich kann dir nicht sagen, tu es nicht, denn darauf würdest du pfeifen. Ich verstehe sogar, daß du es tun mußt, denn ich habe es auch tun müssen. Wenn du es tust, sollst du wenigstens wissen, daß ich bei dir bleibe. Nachher werden wir weiter sehen. (Julius Meier-Graefe) Fjodor M. Dostojewski, geboren am 11. 10. 1821 in Moskau, gestorben am 9. 02. 1881 in Petersburg. Julius Meier-Graefe, geboren am 10. Juni 1867 in Resitza/Banat, gestorben am 5. 06. 1935 in Vevey.
Bibliographische Angaben
- Autor: Julius Meier-Graefe
- 2015, 459 Seiten, Deutsch
- Verlag: Reese Verlag
- ISBN-10: 3959800169
- ISBN-13: 9783959800167
- Erscheinungsdatum: 04.12.2015
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eBook Informationen
- Dateiformat: ePub
- Größe: 0.65 MB
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