Fischvogel (ePub)
Roman
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Produktinformationen zu „Fischvogel (ePub)“
Lese-Probe zu „Fischvogel (ePub)“
Das Ende der Plastikplane flatterte im Wind. Ein überschnelles Zittern, als wolle es sich losreißen und davonfliegen ins Zwielicht des verregneten Frühsommerabends hinein. Mika glaubte, den Fetzen mit ihrem Blick gebannt zu haben, als das Flattern nachließ und in wenigen langsamen Bewegungen verzuckte. Das Fenster hatte sich wieder geschlossen. Sie hob die Dose an die Lippen, kippte sie und sog. Träge rann Kondensmilch in ihren Mund, wo Mika die lauwarme Flüssigkeit mit der Zunge bewegte, dann schluckte. Der süßliche Geschmack beginnender Gärung füllte ihre Mundhöhle. Bitterkeit am Zungengrund. Sie schüttelte die Dose, noch gluckste etwas Milch in ihr, Mika suckelte die letzten Tropfen heraus. Sie lag auf einem Schaffell in dem Baumhaus, das sie sich aus Schaltafeln, Brettern und Bauplanen selbst gezimmert hatte. Ein Holzgehäuse hoch oben in den Ästen, groß genug für sie und ihre Schätze; Vogelkasten und Containerkiste in einem, hob es sie in die Wolken und trug sie in die Welt. Der Wind frischte auf, ein Rufen drang an ihr Ohr. Wieder flatterte der Plastikfetzen, hob sich, senkte sich und öffnete den Blick vom Baumhaus auf die Straße, auf der fast nie jemand war. Jetzt stand da dieser Wagen. Bereits vor Wochen hatte Mika ihn zum ersten Mal gesehen, dann war er verschwunden gewesen. Ein himmelblauer Opel Kapitän mit Rostblasen an den Kotflügeln und einem auswärtigen Kennzeichen. Nie hatte sie jemanden einsteigen oder aussteigen, nie jemanden kommen oder weggehen sehen. Geräuschlos, als hätte ein Geist es hingestellt, war das Auto da, dann weg. Einmal hatte sie sich angeschlichen und durch die Scheiben gespäht. Das Innere des Wagens war sauber und aufgeräumt. Kein einziger Gegenstand, der Rückschlüsse auf seinen Besitzer zugelassen hätte. Nicht einmal eine Straßenkarte in den Seitenfächern oder ein zerknülltes Zigarettenpäckchen auf dem Boden. Nichts. Mika war sich sicher, dass der Wagen einem Mann gehörte, keiner Frau, wusste jedoch nicht, woher sie die Gewissheit
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nahm. Frauen besaßen kein Auto, und wenn doch, dann fuhren sie einen Käfer oder einen Mini. Kein rostiges Schiff wie den Opel. An einem hellen Frühsommernachmittag saß eine dickliche Frau an ihrem Kinderbett und sang, draußen flüsterten die Birkenblätter und begleiteten die schleppende Stimme der Frau, die die Kinder »Gurke« nannten. An anderen Tagen putzte sie in Mikas Zimmer, jetzt aber sang und zwang sie sie in den Mittagsschlaf, eia popeia, was raschelt im Stroh, und Mika begann sich zu fürchten, denn sie wusste, was folgte. Guten Abend, gute Nacht, morgen früh, wenn Gott will, jederzeit konnte er sich, während sie schlief, entschließen, sie nicht mehr zu wecken, so lag sie mit aufgesperrten Augen, sah in die Düsternis des verdunkelten Zimmers und wagte kaum mehr zu blinzeln aus Angst, einzuschlafen und der göttlichen Willkür überlassen zu sein, die sie möglicherweise für immer würde schlafen lassen. So wachte das Kind, während die Frau sang. Und sang. Und irgendwann über Mikas Kopf strich, sie weckte und ihr mit dem Reißverschluss des Nickipullis in die Halshaut zwickte. Mika mochte Frau Gurke gern. Sie sang, während die Mutter Fahrstunden nahm, auf denen sie bestand, nun, da sie vier Kinder geboren hatte und noch immer jeden Einkauf mit dem Kinderwagen nach Hause karrte. Ein leises Rufen drang an Mikas Ohr. Sie robbte von dem muffigen Fell an den Rand des Bretterbodens, öffnete die Luke ihres Baumhauses, warf die Strickleiter hinab, kletterte bis auf halbe Höhe des Birnbaums, stieg von dort weiter über die tragenden Äste und sprang in die Wiese. Nasse Gräser streiften ihre Beine unter den abgeschnittenen Jeans, als sie geduckt zur Hecke schlich und zwischen den Zweigen zum Haus hinübersah. Die Abendluft ließ noch nichts vom kommenden Sommer ahnen, lediglich ein kräftiges Licht flimmerte zwischen den Sträuchern hindurch in die Dunkelheit des wilden Gartens, in dem das Mädchen kauerte, dem hintersten Winkel des letzten Grundstücks einer baumbestandenen Vorstadtstraße. Hinter dem Haus endete die Straße in einer Sackgasse und ging an der Stelle, wo jetzt das Auto stand, in einen Trampelpfad über, der sich im Wald verlor. Nichts war zu hören, keiner mehr, der sie rief, und auch der Wind hatte sich gelegt. Auf ihrer Zunge speichelte ein Belag Kondensmilch. Ihre Mutter trat aus der Hintertür, schlug die Seiten der Strickjacke vor der Brust übereinander, schlang die Arme um den Oberkörper und suchte mit den Augen die Hecke ab. Jetzt rief sie Mika noch einmal; das Mädchen zwängte sich ohne zu zögern durch das Gebüsch, sprang über den Zaun, lief geduckt auf die Mutter in der erleuchteten Türöffnung zu, und sie begrüßten sich wie Sportlerinnen mit einem Abklatschen der Hände. Die anderen saßen bereits am Tisch, als Mika eintrat. Sie rutschte auf ihren Stuhl, schob die zerkratzten Hände unter die Schenkel, drückte die Ellbogen durch und sah in die Runde. Keiner sprach, jeder schien mit sich selbst beschäftigt zu sein. Vor Mika stand ein Porzellanteller mit geschwungenem Rand, auf dem eine Sülze lag. Das Auge einer Scheibe Ei schimmerte durch das graue Gelee. Mika zappelte mit den Beinen und griff nach einer Scheibe Brot. »Was ist?« Sie sah sich fragend um. »Wo ist der Kleine?« »Mika, wir müssen dir etwas sagen«, begann die Mutter. »Lass mich das machen«, unterbrach sie der Vater, legte sein Messer weg und holte Luft. »So sagt es doch einfach, he, ihr macht wieder alles falsch«, sagte Hardy und stöhnte. »Und wie sollen sie es deiner Meinung nach machen?«, giftete Sten seinen älteren Bruder an. Nick schwieg. »Wo ist der Kleine?« Mika sah sich um. Der Hochstuhl stand in der Ecke, der kleinste ihrer vier Brüder, der einzige, der jünger war als sie, saß nicht am Tisch. Hardy, Sten und Nick schauten auf ihre Teller. Mika nahm die Gabel und stach durch den Glibber dem Ei in die gelbe Pupille. »Eben, darüber müssen wir reden«, sagte die Mutter. »Aber zuerst essen wir.« Der Vater griff mit seiner Schaufelhand nach der Weinflasche und schenkte ein. »Kommherrjesusseiunsergastundsegnealleswasduunsbescherethastamen«, sagte Sten, der mit dem Tischgebet dran war und endete, bevor einer der anderen Gelegenheit gehabt hatte, die Hände zu falten. Der Vater wischte sich über die staubigen Haare.
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Autoren-Porträt von Beate Rothmaier
Beate Rothmaier, 1962 in Ellwangen geboren, studierte deutsche und französische Literatur. Sie lebt als freie Autorin in Zürich. Für ihr Debüt "Caspar" (2005) wurde sie mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Friedrich-Hölderlin-Förderpreis der Stadt Bad Homburg. Für "Fischvogel" (2010) erhielt sie ein Werkjahr der Stadt Zürich. "Atmen, bis die Flut kommt" ist ihr dritter Roman.
Bibliographische Angaben
- Autor: Beate Rothmaier
- 2010, 224 Seiten, Deutsch
- Verlag: Penguin Random House
- ISBN-10: 364104166X
- ISBN-13: 9783641041663
- Erscheinungsdatum: 19.04.2010
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eBook Informationen
- Dateiformat: ePub
- Größe: 0.44 MB
- Ohne Kopierschutz
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