LIEBE AMELIE! (ePub)

Die Altstadt, die Plätze, die Innenstadt - ein einziger, riesiger Weihnachtsmarkt.
Verkaufsstand neben Verkaufsstand, Buden, die sich aneinanderreihen, überdimensionale Pyramiden, die sich ohne Pause drehen, Karussells für die Kleinen, eine Eisbahn, auf jedem Platz, in jeder der Einkaufsarkaden im Mittelpunkt eine ausladende, stattliche Tanne, die im Glanz der bunten Kugeln und Lichterketten erstrahlt.
Von überall ertönen Weihnachtslieder, überall in den Straßen der typische Duft dieser Jahreszeit, eine Mischung aus Glühwein und Punsch, aus Lebkuchen und Printen, heißen Maronen,frisch gebackenen Waffeln und Crêpes, aus Bienenwachs und Honig und aus Wald.
Vorweihnachtszeit. Adventszeit. Wieder einmal.
Und wieder einmal packt auch mich der ganz besondere Zauber dieser Wochen.
Spannung, Erwartung, Vorfreude, der Wunsch nach Geborgenheit und Nähe, all dies begleitet die meisten Menschen in den Tagen bis zum 24. Dezember.
Man genießt die Gemütlichkeit, die Behaglichkeit daheim, den Schutz, den ein schönes Zuhause einem gibt.
Man freut sich nach einem Spaziergang draußen in der winterlichen Kälte auf Wärme, Kerzenschein, ein gutes Buch, auf ein Glas heißen Tee und auf Weihnachtsplätzchen! -----


Die Gedanken jedoch sind an diesem Abend beim geliebten Ehemann auf See. Wie wohl so viele Gedanken, Sehnsüchte und Wünsche von so vielen Seemannsfrauen in dieser Nacht auf die Reise gehen. Auf die Reise übers Wasser zum Schiff, auf dem der Mann auch heute wieder seinen Dienst versehen hat und für den heute auch Weihnachten ist, fern von daheim, weit weg von der Familie. Von der Partnerin, von den Kindern, denen der Papi gerade heute so sehr fehlt. Aber - eine Seemannsfrau muß stark sein. Warum nur fällt einem das oft so entsetzlich schwer?
Aber - welcher Seemann würde nicht lieber zum Fest zu Hause sein und verflucht die Tatsache, daß es auch diesmal nicht geklappt hat mit dem Urlaub?
Welcher Seemann bleibt freiwillig an Bord, gerade dann, gerade zu Weihnachten? -----


Und dann – vorsichtig hast du die Schublade weit herausgezogen – dann liegen sie vor dir:
All die Bilder dieses einen Jahres, all die Erinnerungen, all die Sehnsüchte, all die Träume – die, die sich erfüllten, die, die du vielleicht immer noch träumst, all die Momente tiefer Dankbarkeit, all die Momente tiefer Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit, der Angst und Verzweiflung, all die Momente der Einsamkeit, all die Tränen, die du geweint hast, da liegt vor dir all der Schmerz, all die Freude, all das Glück, all das Leid, all das Gesagte und all das, was du verschwiegen hast, da liegt all die Freundschaft, die Liebe, die dir entgegengebracht wurde, all dein Übermut, deine Lebensfreude, deine Unbekümmertheit, all dein Lachen, all dein Verstehen und dein Nichtverstehen, all dein Zorn und deine Wut, all dein Vertrauen, all deine Hoffnung und all deine Enttäuschungen.
Vor dir liegen 365 Tage aus einem Jahr deines Lebens. Und für einen kurzen Moment empfindest du wieder das, was du damals während dieses einen Jahres empfunden hast. Für einen kurzen Moment bist du wieder die, die du damals warst – bist das Neugeborene, das Kind, das kleine Mädchen, bist die Zwölfjährige, die Siebzehnjährige, bist die junge Frau, die Vierzigjährige, bist die, die du vielleicht vergessen hast – vergessen wolltest – bist die, die du verdrängt hast, die, die du nicht mehr sein willst. Oder du bist die, die du so gerne warst, die die du so gerne wieder sein möchtest...