Ullstein eBooks: Nacht über Europa (ePub)
Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs
Am 1. August 1914 begann ein Krieg, der nicht nur das Antlitz Europas, sondern der Welt veränderte. Das Zeitalter der Extreme, des Gemetzels brach an. Der europäische Kosmopolitismus starb auf den Schlachtfeldern. Dieser erste totale Krieg schonte nichts...
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Produktinformationen zu „Ullstein eBooks: Nacht über Europa (ePub)“
Am 1. August 1914 begann ein Krieg, der nicht nur das Antlitz Europas, sondern der Welt veränderte. Das Zeitalter der Extreme, des Gemetzels brach an. Der europäische Kosmopolitismus starb auf den Schlachtfeldern. Dieser erste totale Krieg schonte nichts und niemanden: Alle Bürger der beteiligten Staaten, auch Künstler, Wissenschaftler und Intellektuelle, wurden zu Kombattanten. Ernst Piper hat sich intensiv mit den kulturgeschichtlichen Aspekten des Ersten Weltkriegs befasst und entfaltet ein großes geistiges Panorama dieser Zeit.
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Nacht über Europa von Ernst PiperVorwort
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Der deutsch-französische Krieg von 1870/71, der zur Gründung des Deutschen Reiches führte, ist für mich ein historisches Ereignis, ich habe keinen persönlichen Bezug zu ihm. Ganz anders der Erste Weltkrieg. Meine beiden Großväter waren in diesen Krieg involviert. Der eine gehörte zu den wenigen Menschen, die damals schon einen Führerschein besaßen. Er hatte nicht als Soldat gedient, konnte aber Auto fahren und wurde deshalb an der Westfront als Lkw-Fahrer bei einer Versorgungseinheit eingesetzt. Der andere Großvater hatte zehn Jahre zuvor einen Verlag gegründet und war in vielerlei Hinsicht vom Kriegsgeschehen betroffen. Alle sechs männlichen Mitarbeiter wurden eingezogen, drei von ihnen kamen nicht zurück. Auch die beiden Teilhaber meines Großvaters standen im Feld. Der eine musste als Reserveoffizier sofort einrücken, der andere Mitgesellschafter wurde aus gesundheitlichen Gründen zurückgestellt, meldete sich aber freiwillig und kam ebenfalls an die Front. Beide wurden in regelmäßigen Briefen über das Geschehen im Verlag unterrichtet, in einem der Briefe hieß es: »Die Kriegsproduktion droht alles andere zu verschlingen.« Reinhard Piper war darangegangen, in Zusammenarbeit mit Heeresstellen repräsentative Alben herauszubringen, zum Beispiel Zwischen Arras und Péronne oder Die Schlacht in Flandern, von denen die entsprechenden Truppenteile hohe Stückzahlen abnahmen. Von dem Band Das schöne Ostpreußen, der dem Sieger von Tannenberg Paul von Hindenburg gewidmet war, wurden in kurzer Zeit 20 000 Exemplare verkauft. Mein Großvater rechnete auch selbst mit seiner Einberufung und wies für diesen Fall seine Schwester Gertrud umfassend in die Verlagsgeschäfte ein. Tatsächlich wurde er nicht einberufen, wohl aber sein Schwager, der jüdische Arzt Ludwig Stern, der bei den Kämpfen so schwer verwundet wurde, dass er seinen Verletzungen wenige Jahre nach Kriegsende erlag.
Mein Vater und sein Bruder bekamen von dem Kunstakademieprofessor Franz Reinhardt, der mit meinem Großvater befreundet war, 1915 das handgemalte Kriegsbilderbuch Freund und Feind geschenkt, damit sie sich im zarten Alter von vier bzw. zwei Jahren von den Kriegsparteien ein Bild machen konnten. Während der Revolution im November 1918, inzwischen war mein Vater sieben Jahre alt, musste er mit ansehen, wie vor dem Haus, in dem die elterliche Wohnung lag, auf der Straße ein Mann erschossen wurde, ein Geschehnis, das ihm zeitlebens vor Augen stand. All dies führt dazu, dass für mich der Erste Weltkrieg ein Ereignis der Zeitgeschichte ist, ein Ereignis der Epoche der Mitlebenden, auch wenn die erwähnten Vorfahren inzwischen alle längst verstorben sind. Vielleicht ist das gar nicht untypisch. Stéphane Audoin-Rouzeau und Annette Becker vertreten die These, dass seit den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine »Wiederkehr des Verdrängten« zu beobachten sei und dass dies mit der dritten Generation, also meiner, zusammenhänge: »Vielleicht sollten wir bei der dritten Generation nach den Narben suchen, die das ungeheure Blutbad der Zeit von 1914 bis 1918 hinterlassen hat.«
In Deutschland war die Erinnerung an dieses ehedem so umkämpfte Ereignis nach 1945 durch die jüngste Vergangenheit überlagert und lange Zeit nahezu marginalisiert. Während in England und Frankreich »The Great War« beziehungsweise »La Grande Guerre« immer unübersehbar präsent war, verdrängten ihn hierzulande die jedes menschliche Vorstellungsvermögen übersteigenden Schrecknisse des Holocaust. Die lange Zeit stark auf die NS-Geschichte fokussierte Zeitgeschichtsforschung tendierte dazu, die Zeit vor 1933 zur Vorgeschichte des Folgenden zu degradieren, die vor allem unter dem Aspekt des Aufstiegs der NSDAP rezipiert wurde. Erst in jüngster Zeit wird der Erste Weltkrieg verstärkt im Kontext der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts und des »europäischen Bürgerkriegs« diskutiert, ein Begriff, den Franz Marc schon 1914 geprägt hat.
So kehrt der Erste Weltkrieg nun auch in Deutschland machtvoll in das kulturelle Gedächtnis zurück, was zu einer erstaunlichen Reihe repräsentativer Darstellungen, aber auch zur Erforschung vieler in der Vergangenheit vernachlässigter Aspekte geführt hat, zum Beispiel der Geschichte der Propaganda oder der Mediengeschichte. Der neunzigste Jahrestag im Jahr 2004 markierte bisher den Höhepunkt der erneuten Konfrontation mit diesem Krieg. Ich bin sicher, dass die Auseinandersetzung zum hundertsten Jahrestag 2014 angesichts der inzwischen bestehenden medialen Möglichkeiten noch weitaus intensiver ausfallen wird. Der Erste Weltkrieg wird heftiger in unsere Wohnstuben Einzug halten als je zuvor. Der Krieg kehrt in die Gegenwart zurück, wobei sich zugleich die Frage stellt, wie viel unsere Vorstellung von diesem Krieg noch mit dem Geschehen der Jahre 1914 bis 1918 zu tun hat beziehungsweise wie stark das Bild des Jahres 2014 sich durch die memoriale und historiographische Überformung von diesem Geschehen entfernt hat.
Die Geschichte ist das Objekt einer Konstruktion, wie Walter Benjamin einmal bemerkt hat. Diese Konstruktion geschieht nicht in einem abstrakten, luft- oder gar zeitleeren Raum, sondern an einem konkreten Ort, der mit Jetztzeit gefüllt ist. Bei jeder erneuten Konstruktion ist die Jetztzeit eine andere, so dass auch das Ergebnis jedes Mal ein anderes ist. Heute steht nicht mehr die Abwehr der These von der deutschen Kriegsschuld oder die Leugnung der Niederlage mit Hilfe der Dolchstoßlegende im Vordergrund. Und für die Franzosen ist Verdun nicht mehr in erster Linie eine Projektionsfläche des Patriotismus, ein Ort, an dem die Grande Nation sich in äußerster Bedrängnis bewährte, sondern auch ein Ort der Versöhnung. Inzwischen haben die Deutschen ihren Frieden mit diesem Krieg gemacht. Nach 1918 fehlte es an einem die Nation einenden Narrativ der Niederlage, an seine Stelle trat ein Wettstreit der wechselseitigen Schuldzuweisungen. Ein Konsens war allenfalls im Wunsch nach Revision des Friedensvertrags von Versailles zu finden. Erst nach 1945, nach dem zweiten verlorenen Krieg, war in Deutschland eine »Kultur der Niederlage« (Wolfgang Schivelbusch) möglich.
Michel Foucault hat die Auffassung vertreten, dass jede Aufzeichnung der Geschichte ihrerseits auch eine Repräsentation von Geschichte und insofern immer abhängig von Vermittlung und Perzeption ist. Das Studium der Geschichte sei immer nur ein Studium verschiedener Formen von Erinnerung. Auf die Erforschung verschiedener Formen des Erinnerns und Gedenkens habe ich bei meiner Arbeit als Historiker immer großen Wert gelegt, sie wird auch im letzten Kapitel dieses Buches eine Rolle spielen. Aber ich glaube nicht, dass Vergangenheitspolitik und Erinnerungskultur Teil des geschichtswissenschaftlichen Materials sind. Die Erinnerung tritt nicht an die Stelle des Geschehens, auch wenn beide sich oftmals in Konkurrenz zueinander befinden. Der Historiker ist Wissenschaftler und nicht Zeitzeuge. Objekt seiner Forschung ist das Ereignis ebenso wie dessen Tradierung, die Rekonstruktion des Geschehens wie die Beschäftigung mit den symbolischen Dimensionen der Vergangenheit, mit kollektiver Imagination oder mit der Analyse der Formen und Funktionen des Gebrauchs der Geschichte, wie sie sich in Gedenkstätten, historischen Museen oder Denkmälern sowie andererseits an den »politischen Orten« (Sandra Petermann) manifestiert. Den Geschichten kommt dabei ebenso Bedeutung zu wie der Geschichte. Das eine wird durch das andere begreifbar. Die »Dialektik des Konkreten« (Karel Kosik) geht davon aus, dass jede Erscheinung als Moment des Ganzen begriffen werden kann.9
In dem vorliegenden Buch wird die Zeit von 1914 bis 1918 aus einer kulturgeschichtlichen Perspektive betrachtet, es geht um »symbolische Formen der Vergangenheit« wie »Zeichen, Metaphern, politische Sprachen, kollektive Repräsentationen oder Rituale «, aber auch um die Akteure und ihre unmittelbare Perzeption des historischen Geschehens, die noch nicht durch das Wissen um das Ergebnis des Krieges und spätere Sinndeutungen überformt ist. Mein besonderes Interesse gilt den jeweiligen diskursiven Anstrengungen zur Legitimation des kriegerischen Handelns beziehungsweise des Handelns in Kriegszeiten, also der umfangreichen Literatur im Kontext der geistigen Mobilmachung, aber auch dem Propagandaschrifttum, den Kriegszieldiskussionen, den Werken der Kriegsteilnehmer und der Kriegsgegner und nicht zuletzt den Artefakten der Memorialkultur. Im Zentrum stehen dabei die Mittelmächte, die nach allem, was wir heute wissen, den Krieg nicht allein verschuldeten, aber durch ihr Verhalten in den entscheidenden Krisenwochen ihn doch jedenfalls maßgeblich mit auslösten. Korrespondierend soll aber auch das Geschehen in den gegen das Deutsche Reich und die Habsburger Monarchie verbündeten Staaten, namentlich in Großbritannien, Frankreich und Italien, sowie im neutralen Ausland in den Blick genommen werden. Ziel dieser Arbeit ist eine »dichte Beschreibung« im Sinne der Kulturtheorie von Clifford Geertz, der den Menschen in ein Bedeutungsgewebe verstrickt sieht, das er Kultur nennt: »Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht.« Ob dieses Ziel erreicht worden ist, muss der geneigte Leser entscheiden.
Ich danke meinem Agenten und Freund Peter Fritz, der sich mit großem Engagement der Vermittlung dieses Buchprojektes angenommen hat. Für die sachkundige und engagierte Betreuung danke ich dem Team des Propyläen Verlages, besonders Jan Martin Ogiermann, Christian Seeger und Tanja Ruzicska. Sönke Neitzel, Gerhard Hirschfeld und Andreas Austilat haben sich in dankenswerter Weise früherer Arbeitsergebnisse angenommen.
Kerstin Lorenz hat mich unermüdlich bei den bibliographischen Recherchen unterstützt. Den Teilnehmern meiner Seminare an der Universität Potsdam verdanke ich wertvolle Anregungen. Ganz besonders aber danke ich Heike Roehl, die mich mit großer Freude, stimulierendem Interesse, äußerst hilfreichen Sprachkenntnissen und nie erlahmender Energie bei meinen Reisen zu den ehemaligen Schlachtfeldern begleitet hat. Ihr verdankt das Buch am meisten, ihr ist es zugeeignet.
PROLOG
Alle Straßen münden in schwarze Verwesung
Der österreichische Dichter Georg Trakl, 1887 in Salzburg geboren, wuchs, äußerlich wohlbehütet, als viertes von sechs Kindern in einer gutbürgerlichen Familie auf. Und doch hat er die Abgründe menschlichen Seins durchmessen wie nur wenige. Der Vater betrieb eine florierende Eisenhandlung, die von der industriellen Entwicklung im Land profitierte. Er war ein Familienoberhaupt von ausgleichendem Temperament, mit deutschnationalen Sympathien, aber loyal gegenüber dem habsburgischen Herrscherhaus. Der Sohn Georg besuchte das humanistische Gymnasium, musste allerdings wegen ungenügender Leistungen vor dem Abitur von der Schule abgehen und begann eine Ausbildung als Apotheker. 1908 ging er nach Wien, um dort Pharmazie zu studieren. Trakls Jugendjahre waren von depressiven Verstimmungen überschattet. Seine immer häufigeren Rauschmittelexzesse beschränkten sich nicht auf Alkohol, schon seine Mutter war drogenabhängig gewesen. Georg Trakl nahm alles, dessen er habhaft werden konnte, Morphium, Opium und andere Betäubungsmittel. Durch seine Tätigkeit als Apotheker hatte er leichten Zugang zu vielerlei Rauschmitteln, und mehr als einmal fanden seine Freunde ihn vom Chloroform betäubt.
Schon als Gymnasiast hatte Trakl zu schreiben begonnen, kleine Prosastücke, dramatische Szenen, vor allem aber Lyrik, schwermütige, vom französischen Symbolismus beeinflusste Gedichte. Bald fand er zu einem ganz eigenen Ton, der von einer großen Begabung zeugte, aber auch von Unbehaustheit und tiefer Verzweiflung. In den letzten Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs entstanden die Gedichte, die Trakls Ruhm als einer der bedeutendsten expressionistischen Dichter begründen sollten. 1913 brachte der Berliner Verleger Kurt Wolff einen ersten Band mit Gedichten des Österreichers heraus. In dem dort abgedruckten Gedicht »Menschheit« intoniert Georg Trakl ein apokalyptisches Szenario:
Menschheit vor Feuerschlünden aufgestellt,
Ein Trommelwirbel, dunkler Krieger Stirnen,
Schritte durch Blutnebel; schwarzes Eisen schellt,
Verzweiflung, Nacht in traurigen Gehirnen:
Hier Evas Schatten, Jagd und rotes Geld.
Gewölk, das Licht durchbricht, das Abendmahl.
Es wohnt in Brot und Wein ein sanftes Schweigen
Und jene sind versammelt zwölf an Zahl.
Nachts schrein im Schlaf sie unter Ölbaumzweigen;
Sankt Thomas taucht die Hand ins Wundenmal.
Während Jakob van Hoddis in seinem berühmten Gedicht »Weltende « das jugendlich-ungestüme Aufbegehren gegen das saturierte wilhelminische Bürgertum bildstark artikulierte, dominieren bei Trakl Ausweglosigkeit und Untergangsstimmung. Allenfalls der Verweis auf das letzte Abendmahl kann als Hoffnung auf eine religiöse Erlösung nach der Apokalypse gedeutet werden. Aber ungleich stärker als die Hoffnung ist bei Trakl die Vision des nahen Endes, der finalen Katastrophe. Er ist, anders als all die anderen, kein Dichter, der den Furor teutonicus besingt. Er richtet keine Hoffnungen auf den nahenden Krieg.
Copyright © Propyläen Verlag.
Der deutsch-französische Krieg von 1870/71, der zur Gründung des Deutschen Reiches führte, ist für mich ein historisches Ereignis, ich habe keinen persönlichen Bezug zu ihm. Ganz anders der Erste Weltkrieg. Meine beiden Großväter waren in diesen Krieg involviert. Der eine gehörte zu den wenigen Menschen, die damals schon einen Führerschein besaßen. Er hatte nicht als Soldat gedient, konnte aber Auto fahren und wurde deshalb an der Westfront als Lkw-Fahrer bei einer Versorgungseinheit eingesetzt. Der andere Großvater hatte zehn Jahre zuvor einen Verlag gegründet und war in vielerlei Hinsicht vom Kriegsgeschehen betroffen. Alle sechs männlichen Mitarbeiter wurden eingezogen, drei von ihnen kamen nicht zurück. Auch die beiden Teilhaber meines Großvaters standen im Feld. Der eine musste als Reserveoffizier sofort einrücken, der andere Mitgesellschafter wurde aus gesundheitlichen Gründen zurückgestellt, meldete sich aber freiwillig und kam ebenfalls an die Front. Beide wurden in regelmäßigen Briefen über das Geschehen im Verlag unterrichtet, in einem der Briefe hieß es: »Die Kriegsproduktion droht alles andere zu verschlingen.« Reinhard Piper war darangegangen, in Zusammenarbeit mit Heeresstellen repräsentative Alben herauszubringen, zum Beispiel Zwischen Arras und Péronne oder Die Schlacht in Flandern, von denen die entsprechenden Truppenteile hohe Stückzahlen abnahmen. Von dem Band Das schöne Ostpreußen, der dem Sieger von Tannenberg Paul von Hindenburg gewidmet war, wurden in kurzer Zeit 20 000 Exemplare verkauft. Mein Großvater rechnete auch selbst mit seiner Einberufung und wies für diesen Fall seine Schwester Gertrud umfassend in die Verlagsgeschäfte ein. Tatsächlich wurde er nicht einberufen, wohl aber sein Schwager, der jüdische Arzt Ludwig Stern, der bei den Kämpfen so schwer verwundet wurde, dass er seinen Verletzungen wenige Jahre nach Kriegsende erlag.
Mein Vater und sein Bruder bekamen von dem Kunstakademieprofessor Franz Reinhardt, der mit meinem Großvater befreundet war, 1915 das handgemalte Kriegsbilderbuch Freund und Feind geschenkt, damit sie sich im zarten Alter von vier bzw. zwei Jahren von den Kriegsparteien ein Bild machen konnten. Während der Revolution im November 1918, inzwischen war mein Vater sieben Jahre alt, musste er mit ansehen, wie vor dem Haus, in dem die elterliche Wohnung lag, auf der Straße ein Mann erschossen wurde, ein Geschehnis, das ihm zeitlebens vor Augen stand. All dies führt dazu, dass für mich der Erste Weltkrieg ein Ereignis der Zeitgeschichte ist, ein Ereignis der Epoche der Mitlebenden, auch wenn die erwähnten Vorfahren inzwischen alle längst verstorben sind. Vielleicht ist das gar nicht untypisch. Stéphane Audoin-Rouzeau und Annette Becker vertreten die These, dass seit den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine »Wiederkehr des Verdrängten« zu beobachten sei und dass dies mit der dritten Generation, also meiner, zusammenhänge: »Vielleicht sollten wir bei der dritten Generation nach den Narben suchen, die das ungeheure Blutbad der Zeit von 1914 bis 1918 hinterlassen hat.«
In Deutschland war die Erinnerung an dieses ehedem so umkämpfte Ereignis nach 1945 durch die jüngste Vergangenheit überlagert und lange Zeit nahezu marginalisiert. Während in England und Frankreich »The Great War« beziehungsweise »La Grande Guerre« immer unübersehbar präsent war, verdrängten ihn hierzulande die jedes menschliche Vorstellungsvermögen übersteigenden Schrecknisse des Holocaust. Die lange Zeit stark auf die NS-Geschichte fokussierte Zeitgeschichtsforschung tendierte dazu, die Zeit vor 1933 zur Vorgeschichte des Folgenden zu degradieren, die vor allem unter dem Aspekt des Aufstiegs der NSDAP rezipiert wurde. Erst in jüngster Zeit wird der Erste Weltkrieg verstärkt im Kontext der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts und des »europäischen Bürgerkriegs« diskutiert, ein Begriff, den Franz Marc schon 1914 geprägt hat.
So kehrt der Erste Weltkrieg nun auch in Deutschland machtvoll in das kulturelle Gedächtnis zurück, was zu einer erstaunlichen Reihe repräsentativer Darstellungen, aber auch zur Erforschung vieler in der Vergangenheit vernachlässigter Aspekte geführt hat, zum Beispiel der Geschichte der Propaganda oder der Mediengeschichte. Der neunzigste Jahrestag im Jahr 2004 markierte bisher den Höhepunkt der erneuten Konfrontation mit diesem Krieg. Ich bin sicher, dass die Auseinandersetzung zum hundertsten Jahrestag 2014 angesichts der inzwischen bestehenden medialen Möglichkeiten noch weitaus intensiver ausfallen wird. Der Erste Weltkrieg wird heftiger in unsere Wohnstuben Einzug halten als je zuvor. Der Krieg kehrt in die Gegenwart zurück, wobei sich zugleich die Frage stellt, wie viel unsere Vorstellung von diesem Krieg noch mit dem Geschehen der Jahre 1914 bis 1918 zu tun hat beziehungsweise wie stark das Bild des Jahres 2014 sich durch die memoriale und historiographische Überformung von diesem Geschehen entfernt hat.
Die Geschichte ist das Objekt einer Konstruktion, wie Walter Benjamin einmal bemerkt hat. Diese Konstruktion geschieht nicht in einem abstrakten, luft- oder gar zeitleeren Raum, sondern an einem konkreten Ort, der mit Jetztzeit gefüllt ist. Bei jeder erneuten Konstruktion ist die Jetztzeit eine andere, so dass auch das Ergebnis jedes Mal ein anderes ist. Heute steht nicht mehr die Abwehr der These von der deutschen Kriegsschuld oder die Leugnung der Niederlage mit Hilfe der Dolchstoßlegende im Vordergrund. Und für die Franzosen ist Verdun nicht mehr in erster Linie eine Projektionsfläche des Patriotismus, ein Ort, an dem die Grande Nation sich in äußerster Bedrängnis bewährte, sondern auch ein Ort der Versöhnung. Inzwischen haben die Deutschen ihren Frieden mit diesem Krieg gemacht. Nach 1918 fehlte es an einem die Nation einenden Narrativ der Niederlage, an seine Stelle trat ein Wettstreit der wechselseitigen Schuldzuweisungen. Ein Konsens war allenfalls im Wunsch nach Revision des Friedensvertrags von Versailles zu finden. Erst nach 1945, nach dem zweiten verlorenen Krieg, war in Deutschland eine »Kultur der Niederlage« (Wolfgang Schivelbusch) möglich.
Michel Foucault hat die Auffassung vertreten, dass jede Aufzeichnung der Geschichte ihrerseits auch eine Repräsentation von Geschichte und insofern immer abhängig von Vermittlung und Perzeption ist. Das Studium der Geschichte sei immer nur ein Studium verschiedener Formen von Erinnerung. Auf die Erforschung verschiedener Formen des Erinnerns und Gedenkens habe ich bei meiner Arbeit als Historiker immer großen Wert gelegt, sie wird auch im letzten Kapitel dieses Buches eine Rolle spielen. Aber ich glaube nicht, dass Vergangenheitspolitik und Erinnerungskultur Teil des geschichtswissenschaftlichen Materials sind. Die Erinnerung tritt nicht an die Stelle des Geschehens, auch wenn beide sich oftmals in Konkurrenz zueinander befinden. Der Historiker ist Wissenschaftler und nicht Zeitzeuge. Objekt seiner Forschung ist das Ereignis ebenso wie dessen Tradierung, die Rekonstruktion des Geschehens wie die Beschäftigung mit den symbolischen Dimensionen der Vergangenheit, mit kollektiver Imagination oder mit der Analyse der Formen und Funktionen des Gebrauchs der Geschichte, wie sie sich in Gedenkstätten, historischen Museen oder Denkmälern sowie andererseits an den »politischen Orten« (Sandra Petermann) manifestiert. Den Geschichten kommt dabei ebenso Bedeutung zu wie der Geschichte. Das eine wird durch das andere begreifbar. Die »Dialektik des Konkreten« (Karel Kosik) geht davon aus, dass jede Erscheinung als Moment des Ganzen begriffen werden kann.9
In dem vorliegenden Buch wird die Zeit von 1914 bis 1918 aus einer kulturgeschichtlichen Perspektive betrachtet, es geht um »symbolische Formen der Vergangenheit« wie »Zeichen, Metaphern, politische Sprachen, kollektive Repräsentationen oder Rituale «, aber auch um die Akteure und ihre unmittelbare Perzeption des historischen Geschehens, die noch nicht durch das Wissen um das Ergebnis des Krieges und spätere Sinndeutungen überformt ist. Mein besonderes Interesse gilt den jeweiligen diskursiven Anstrengungen zur Legitimation des kriegerischen Handelns beziehungsweise des Handelns in Kriegszeiten, also der umfangreichen Literatur im Kontext der geistigen Mobilmachung, aber auch dem Propagandaschrifttum, den Kriegszieldiskussionen, den Werken der Kriegsteilnehmer und der Kriegsgegner und nicht zuletzt den Artefakten der Memorialkultur. Im Zentrum stehen dabei die Mittelmächte, die nach allem, was wir heute wissen, den Krieg nicht allein verschuldeten, aber durch ihr Verhalten in den entscheidenden Krisenwochen ihn doch jedenfalls maßgeblich mit auslösten. Korrespondierend soll aber auch das Geschehen in den gegen das Deutsche Reich und die Habsburger Monarchie verbündeten Staaten, namentlich in Großbritannien, Frankreich und Italien, sowie im neutralen Ausland in den Blick genommen werden. Ziel dieser Arbeit ist eine »dichte Beschreibung« im Sinne der Kulturtheorie von Clifford Geertz, der den Menschen in ein Bedeutungsgewebe verstrickt sieht, das er Kultur nennt: »Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht.« Ob dieses Ziel erreicht worden ist, muss der geneigte Leser entscheiden.
Ich danke meinem Agenten und Freund Peter Fritz, der sich mit großem Engagement der Vermittlung dieses Buchprojektes angenommen hat. Für die sachkundige und engagierte Betreuung danke ich dem Team des Propyläen Verlages, besonders Jan Martin Ogiermann, Christian Seeger und Tanja Ruzicska. Sönke Neitzel, Gerhard Hirschfeld und Andreas Austilat haben sich in dankenswerter Weise früherer Arbeitsergebnisse angenommen.
Kerstin Lorenz hat mich unermüdlich bei den bibliographischen Recherchen unterstützt. Den Teilnehmern meiner Seminare an der Universität Potsdam verdanke ich wertvolle Anregungen. Ganz besonders aber danke ich Heike Roehl, die mich mit großer Freude, stimulierendem Interesse, äußerst hilfreichen Sprachkenntnissen und nie erlahmender Energie bei meinen Reisen zu den ehemaligen Schlachtfeldern begleitet hat. Ihr verdankt das Buch am meisten, ihr ist es zugeeignet.
PROLOG
Alle Straßen münden in schwarze Verwesung
Der österreichische Dichter Georg Trakl, 1887 in Salzburg geboren, wuchs, äußerlich wohlbehütet, als viertes von sechs Kindern in einer gutbürgerlichen Familie auf. Und doch hat er die Abgründe menschlichen Seins durchmessen wie nur wenige. Der Vater betrieb eine florierende Eisenhandlung, die von der industriellen Entwicklung im Land profitierte. Er war ein Familienoberhaupt von ausgleichendem Temperament, mit deutschnationalen Sympathien, aber loyal gegenüber dem habsburgischen Herrscherhaus. Der Sohn Georg besuchte das humanistische Gymnasium, musste allerdings wegen ungenügender Leistungen vor dem Abitur von der Schule abgehen und begann eine Ausbildung als Apotheker. 1908 ging er nach Wien, um dort Pharmazie zu studieren. Trakls Jugendjahre waren von depressiven Verstimmungen überschattet. Seine immer häufigeren Rauschmittelexzesse beschränkten sich nicht auf Alkohol, schon seine Mutter war drogenabhängig gewesen. Georg Trakl nahm alles, dessen er habhaft werden konnte, Morphium, Opium und andere Betäubungsmittel. Durch seine Tätigkeit als Apotheker hatte er leichten Zugang zu vielerlei Rauschmitteln, und mehr als einmal fanden seine Freunde ihn vom Chloroform betäubt.
Schon als Gymnasiast hatte Trakl zu schreiben begonnen, kleine Prosastücke, dramatische Szenen, vor allem aber Lyrik, schwermütige, vom französischen Symbolismus beeinflusste Gedichte. Bald fand er zu einem ganz eigenen Ton, der von einer großen Begabung zeugte, aber auch von Unbehaustheit und tiefer Verzweiflung. In den letzten Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs entstanden die Gedichte, die Trakls Ruhm als einer der bedeutendsten expressionistischen Dichter begründen sollten. 1913 brachte der Berliner Verleger Kurt Wolff einen ersten Band mit Gedichten des Österreichers heraus. In dem dort abgedruckten Gedicht »Menschheit« intoniert Georg Trakl ein apokalyptisches Szenario:
Menschheit vor Feuerschlünden aufgestellt,
Ein Trommelwirbel, dunkler Krieger Stirnen,
Schritte durch Blutnebel; schwarzes Eisen schellt,
Verzweiflung, Nacht in traurigen Gehirnen:
Hier Evas Schatten, Jagd und rotes Geld.
Gewölk, das Licht durchbricht, das Abendmahl.
Es wohnt in Brot und Wein ein sanftes Schweigen
Und jene sind versammelt zwölf an Zahl.
Nachts schrein im Schlaf sie unter Ölbaumzweigen;
Sankt Thomas taucht die Hand ins Wundenmal.
Während Jakob van Hoddis in seinem berühmten Gedicht »Weltende « das jugendlich-ungestüme Aufbegehren gegen das saturierte wilhelminische Bürgertum bildstark artikulierte, dominieren bei Trakl Ausweglosigkeit und Untergangsstimmung. Allenfalls der Verweis auf das letzte Abendmahl kann als Hoffnung auf eine religiöse Erlösung nach der Apokalypse gedeutet werden. Aber ungleich stärker als die Hoffnung ist bei Trakl die Vision des nahen Endes, der finalen Katastrophe. Er ist, anders als all die anderen, kein Dichter, der den Furor teutonicus besingt. Er richtet keine Hoffnungen auf den nahenden Krieg.
Copyright © Propyläen Verlag.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Ernst Piper
- 2013, 592 Seiten, Deutsch
- Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
- ISBN-10: 3843706166
- ISBN-13: 9783843706162
- Erscheinungsdatum: 02.12.2013
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