Das Lächeln des Elefanten / Ullstein eBooks (ePub)
Roman
Ein einziger Brief reicht, und Pietro gibt alles auf. Er lässt seine Berufung als Priester hinter sich und zieht nach Mailand. Den Brief und damit die Erinnerung an seine große Liebe trägt er stets bei sich. Nach all den Jahren ist ihm damit die Frau wieder...
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Produktinformationen zu „Das Lächeln des Elefanten / Ullstein eBooks (ePub)“
Ein einziger Brief reicht, und Pietro gibt alles auf. Er lässt seine Berufung als Priester hinter sich und zieht nach Mailand. Den Brief und damit die Erinnerung an seine große Liebe trägt er stets bei sich. Nach all den Jahren ist ihm damit die Frau wieder nahe, die er für Gott aufgegeben hatte. Ihre Nachricht zeigt ihm seine neue Bestimmung: Er will seinem nie gekannten Sohn beistehen.
Lese-Probe zu „Das Lächeln des Elefanten / Ullstein eBooks (ePub)“
Das Lächeln des Elefanten von Marco Missiroli Wenn Trauer eine Arbeit ist, so ist derjenige, der daraus hervorgeht, kein fades, sondern ein moralisches Wesen, ein wertvolles Subjekt - und kein integriertes.
Roland Barthes
Erst jetzt hat der Junge endgültig alles abgestreift, was er einmal gewesen ist.
Cormac McCarthy
Es war einmal ein Mann, und diesem Mann ging es ganz gut. Als die Sintflut kam, stand er auf dem Dach seines Hauses, um nicht zu ertrinken. Er bittet Gott aus tiefstem Glauben, dass er ihn retten möge, und in seinem Herzen weiß er, dass Gott ihn retten wird.
Ein Schiff kommt, aber der Mann will nicht mitfahren, denn er ist überzeugt, dass der Herr kommen und ihn retten wird, also sagt er »nein danke«, und das Wasser steigt weiter, und es kommt wieder ein Schiff, doch er wartet auf Gott. Das Wasser reicht ihm mittlerweile bis zum Hals, ein drittes Schiff kommt, »nein danke«. Also ertrinkt er. Als er im Paradies endlich den Herrn trifft, sagt er zu ihm: »Du hattest mir doch versprochen, mich zu retten!« Gott sieht ihn an. »Na hör mal, ich habe dir drei Schiffe geschickt, was willst du mehr?«
Kapitel 1
... mehr
Die Pförtnerloge war ein sauberer Verschlag, ausgestattet mit einem Tisch aus Holzimitat und zwei Weidenstühlen. An der einen Wand hingen die Briefkästen, daneben kamen das Logenfenster, ein Regalbrett mit einem alten Radio und einem Telefon, an einer anderen Wand eine Tuschezeichnung des Mailänder Doms und ein leerer Nagel. Durch eine Falttür gelangte man in das winzige Appartement mit Schlafzimmer und Wohnküche. Die frühere Pförtnerin hatte vor ihrem Weggang alles gründlich gesäubert und eine fast neue Espressokanne sowie ein Paket Kaffee zurückgelassen, außerdem eine halb volle Flasche Olivenöl und ein Duschgel für empfindliche Haut. In der Schublade des Tisches lag ein Pappschild mit Saugnapf, auf dem »Bin gleich zurück« stand. Außerdem waren an der Schlafzimmerwand zehn Haken, an denen die Nachschlüssel zu sämtlichen Wohnungen hingen.
Pietro hatte sie noch kein Mal angerührt, seit er vor einem Monat die Hausmeisterstelle angetreten hatte. Erst an diesem Nachmittag ging er zu den Haken und nahm die Schlüssel der Familie Martini. Dottor Luca und seine Frau Viola holten gerade ihre Tochter vom Kindergarten ab. Er ließ die Schlüssel in die Tasche gleiten und kehrte in das fensterlose Bad zurück, wusch den alten Lumpen weiter aus, warf ihn in einen Plastikeimer mit Wasser und gab zwei Verschlusskappen Putzmittel dazu. Schwankend schleppte er seine Last in die Eingangshalle zur Treppe. Er wrang den Lappen aus und wischte die erste Stufe, kauerte sich nieder und erklomm rückwärts die Treppenstufen. Mit der Hand schrubbte er die Stufen, wobei er den Eimer hinter sich herzog. Im ersten Stock klappte er die Fußmatten der drei Wohnungen hoch, dann putzte er weiter bis in den zweiten Stock. Er hielt inne. Er begann bei der Wohnung von Avvocato Poppi. Auf der Fußmatte stand »Lasst alle Hoffnung fahren«. Er klappte sie hoch und wischte bis zur Martini-Wohnung. Er hob die Fußmatte hoch und schrubbte sorgfältig den Dreck vom Marmor, bis er sich darin spiegelte, die grauen Haare und das glatte Gesicht. Er stand auf, der Türgriff war voller Fingerabdrücke, die er mit einem Taschentuch abwischte. Als er es wieder einsteckte, berührte seine Handfläche den Schlüssel. Er zog ihn hervor, schob ihn ins Türschloss. Machte auf.
Mit geschlossenen Augen trat er ein. Nach ein paar Schritten öffnete er die Augen. Aus der Finsternis ragte ein baumförmiger Kleiderständer auf. An seinen Ästen hingen drei dunkle Mäntel und Saras Marienkäfer-Regenschirm. Das Parkett knarzte, auf dem einzigen Wandbord im Eingang standen ein Korb mit altem Nippes und zwei gerahmte Fotos. Das eine war ein Kinderbild von Dottor Martini. Der Junge posierte auf einer geparkten Vespa, als würde er fahren. Mit Schmollmund starrte er auf den Lenker. Der Hausmeister nahm das Bild, strich dem Jungen über den Kopf und über die Hand um den Gasgriff. Er hielt es sich näher an die Augen und strich noch einmal darüber, drückte fest zu, bis er zitterte. Er stellte es zurück und schaute in den Nippeskorb. Zuoberst lagen ein Tintenfass, ein froschförmiger Briefbeschwerer, eine Fahrradklingel. Er zog die Klingel hervor und fuhr mit dem Ärmel über das Gehäuse. Es war verrostet und der Hebel abgenutzt. Er drehte sie in der Hand, sie wog nicht viel. Mit der Klingel in der Hand ging er zurück und verließ die Martini-Wohnung.
»Pietro.«
Er fuhr herum. »Avvocato«, sagte er, hob den Putzlumpen auf und verbarg die Klingel darunter, das Wasser tropfte auf seine Füße. »Ich bin gerade mit Putzen fertig.«
»Bis in alle Ecken, wie ich sehe.« Mit einem trockenen Ploppen setzte Avvocato Poppi seinen Hut ab, der kahle Schädel glänzte. »Kibbuzer, wie die Juden sagen. Topfgucker. « Mit seinem Spazierstock bahnte er sich den Weg, eine Augenbraue hochgezogen.
»Ich bin gerade fertig.« Pietro warf den Lappen in den Eimer und errötete.
»Darf ich Ihnen etwas vorschlagen, mein Freund? Lassen Sie das Putzen sein, und begleiten Sie mich hinunter in die Bar an der Ecke. Ich lade Sie zu einem Cappuccino ein, den Sie nicht vergessen werden.«
»Ich habe noch zwei Stockwerke vor mir.«
»Glauben Sie mir«, sagte der Avvocato, öffnete seine Wohnungstür, nahm den Regenmantel von der Couch und schüttelte ihn aus, bevor er hineinschlüpfte. Er zeigte auf die Tür neben der Martini-Wohnung. »Unser guter Fernando will ein Liebesgeständnis ablegen. Es wäre unverzeihlich, sich das entgehen zu lassen.«
Der Portier wies stumm auf den Eimer.
»Ihr Pech, Kibbuzer«, meinte der Avvocato, zog sich zurück und ging die Treppe hinunter.
Pietro wartete, bis der Avvocato im Hof war, dann trat er zur letzten Tür auf dem Treppenabsatz. Hier wohnte Fernando, der sonderbare Junge im Haus. Er klappte den Fußabtreter hoch und kehrte dann - ohne sich weiter aufzuhalten - nach unten zurück. Er durchquerte die Loge und betrat das winzige Appartement. Vom Einzug stand noch alles kopf. Er hatte sich ein Bett besorgt und es unter dem kleinen Fenster postiert. Ein Mauervorsprung teilte die Küchenzeile ab, drei Hängeschränke und ein Tisch mit geblümter Plastikdecke, ein brummender Kühlschrank. Die Pflanzen standen aufgereiht in dem einzigen Winkel, in den Licht fiel, daneben türmten sich Taschen mit seinen Kleidern und das Fahrrad, ein dreißig Jahre altes Bianchi mit gerader Lenkstange, dem die Salzluft den Lack zerfressen hatte.
Er ging zum Waschbecken im Bad, fischte den Putzlappen aus dem Eimer und wrang ihn aus. Die Fahrradklingel war wie eine Eisenfaust, er trocknete sie sorgfältig ab, während er das Schlafzimmer betrat, ein kahles Zimmer mit Bullauge zum Innenhof. Er hängte den Schlüssel der Martinis an den Haken zurück. Darunter, im Halbschatten, standen eine Lampe und ein geöffneter Koffer voller Schachteln. Lange, schmale Schachteln, Schachteln mit abgewetzten Kanten. Aus einer zylinderförmigen nahm er einen Umschlag mit einer Emilio-Salgari-Briefmarke darauf, in dem sich ein Foto und ein Brief auf Reispapier befanden. Obwohl er ihn auswendig kannte, las er ihn, als sei es das erste Mal, und wie beim ersten Mal stockte ihm der Atem, bis er fertig war. Er legte ihn zusammen mit der Fahrradklingel an seinen Platz zurück und hielt, bevor er in die Bar ging, einen Moment inne, um sich zu erinnern.
Auch in jenem Jahr sah der junge Priester sie an einem Septembermorgen vorbeifahren, und auch in jenem Jahr starrte das Mädchen von ihrem Fahrrad mit dem Strohkorb am Lenker zu seinem Fenster hinauf. Sie klingelte, dring-dring. Sie trug ein Matrosenkleid und klingelte sorglos - so laut, dass sich vor der Kirche die Leute um drehten. Durch das Fenster erwiderte er ihren Blick und schloss die Augen, und als er sie wieder aufschlug, lag das Mädchen auf der Erde, über ihr das schwere Fahrrad, und schrie: »Ich habe sie getötet, ich habe sie nicht gesehen, ich habe die Katze getötet.«
Der junge Priester rannte auf die Straße, mischte sich unter das Volk um das Mädchen. Er drängte sich zu ihr vor. Sie hielt sich den Bauch, ohne von der getöteten Katze abzulassen.
»Das Tier gehört dem Priester, es ist tot«, sagte jemand.
»Haben Sie sich wehgetan, junge Frau?«, fragte ein anderer.
»Nur Hexen und die Strafe Gottes vermögen Katzen zu töten«, murmelte ein Dritter.
Die Hexe jammerte weiter. »Ich habe sie getötet, ich habe sie nicht gesehen, ich habe sie getötet.« Erst, als sie ihn sah, sein schwarzes Gewand, das zwischen den Leuten hindurchschimmerte, verstummte sie.
»Pater, ich habe sie getötet.«
Der junge Priester trat zu der Katze und berührte ihre kleine Schnauze. Dann hob er das Fahrrad auf und blieb wortlos stehen. Er betätigte die rostzerfressene Klingel, nur ein einziges Mal.
Kapitel 2
Die Bar lag auf der anderen Seite der gepflasterten Straße, durch die sich zwei Straßenbahngleise zogen. Es war eine kleine Bar, ein paar Dreißigerjahre-Tischchen mit verschiedenartigen Stühlen und dem Duft von Espresso in der Luft. An der Decke hingen samtbezogene Lampenschirme, die Wände waren mit kleinformatigen Filmplakaten aus alten Zeiten tapeziert. Der Avvocato saß zeitunglesend in einem blauen Sessel, hob den Blick und entdeckte den Hausmeister. Hinter dem Avvocato hing ein Schwarzweißposter mit Anita Ekberg im Trevi-Brunnen, und auf der anderen Seite saßen Fernando und seine Mutter, eine zierliche Frau, die nach Haarspray roch, ihre mageren Beine guckten unter einem Ballonrock hervor. Sie überkreuzte sie unruhig, als sie Pietro hereinkommen sah.
»So eine Überraschung!« Sie ging ihm entgegen, die Dauerwelle umrahmte ihr faltiges Gesicht. »Setz dich doch.« Sie wies auf einen Stuhl an ihrer Seite.
»Dann habe ich Sie also doch überredet, Pietro«, sagte der Avvocato, faltete seine Zeitung zusammen und räusperte sich. »Herzlich willkommen. Als Verwalter unseres Mietshauses darf ich Ihnen offiziell unseren Fernando und seine Mutter vorstellen, die zauberhafte Paola. Zweiter Stock, Kirschholztür, neben den Martinis.«
Fernando saß mit dem Rücken zu ihnen, eine Baskenmütze auf den Kopf gepresst und die Ellbogen wie fest genagelt auf dem Tisch mit der leeren Tasse. Er starrte die Frau mit den schwarzen Haaren hinter dem Tresen an. Pietro grüßte ihn, worauf der sonderbare Junge mit einem unterdrückten Stöhnen antwortete. Pietro hatte ihn zum ersten Mal am Tag seiner Ankunft gesehen, an die Röcke der Mutter geklammert und jammernd, ich will nicht zur Arbeit, ich will bei dir bleiben. Fernando trug ein wackliges Brillengestell auf der Nase und war zwanzig und achtzig Jahre zugleich.
»Fernando, so begrüß doch Pietro.« Die Mutter rüttelte an seiner Schulter, aber er schob ihre Hand weg.
»Er ist verliebt und schafft es nicht, es seiner Angebeteten zu sagen«, erklärte Avvocato Poppi und rieb sich die Hände. »Lieber Pietro, kann ich Ihnen einen Cappuccino mit einem Hauch Zimtpulver spendieren?«
»Ein Espresso reicht völlig.«
»Die Spezialität des Hauses hier ist Cappuccino mit Zimt. Alice macht ihn einfach einzigartig. Ich bitte Sie, probieren Sie einen.«
»Avvocato, so lassen Sie ihn doch.« Fernandos Mutter rückte ihre Perlenkette zurecht. »Fühlst du dich wohl bei uns, Pietro? Hast du dich schon eingelebt?«
Der Portier nickte, die Kellnerin kam auf sie zu. Sie hatte einen Pony und die obersten zwei Knöpfe ihrer Bluse standen offen. Sie lächelte Pietro an. »Was darf ich Ihnen bringen?«
Der Avvocato stupste ihn mit dem Ellbogen an.
»Einen Cappuccino«, sagte Pietro.
Fernando reckte den Hals. Er hatte ein breites Gesicht, seine bartlosen Wangen glühten.
»Ein Cappuccino, der Herr. Sonst nichts?«
»Doch«, erwiderte der Avvocato an Pietros Stelle. »Würden Sie für meinen Freund Pietro auf den Cappuccino ...«, er hob die Stimme, »... ein Herz aus Zimt malen, wie nur Sie es können, Alice?«
Paola drehte sich zu ihrem Sohn um. Fernando hatte sich hochgestemmt und hing in der Schwebe über dem Stuhl. Er murmelte etwas Unverständliches und sackte dann auf den Sitz zurück.
Die Mutter strich ihm zärtlich über das Gesicht. »Ich bring dich nach Hause, Fernandello, ja?«, flüsterte sie und streichelte ihn noch einmal. »Ich bring dich nach Hause.«
Der Avvocato verbarg ein Lachen hinter dem Taschentuch. »Er glaubt, das Zimtherz im Cappuccino-Schaum mache sie nur für ihn.«
Paola setzte sich wieder. »Das werden Sie mir büßen, Poppi. Sie sind so grausam.«
Der Avvocato zwinkerte ihr zu und stand auf. Er legte zwei Scheine unter das Tellerchen, küsste Fernando in den Nacken und ging hinaus.
»In seinem Innersten ist er eine gute Seele«, sagte Paola und drehte ihren Ehering. »Er war es auch ...«, ihre Stimme wurde zu einem Flüstern, »... der für uns die Entschädigung erstritten hat.«
Pietro runzelte die Stirn.
»Es ist jetzt schon fünf Jahre her, dass mein Gianfranco gestorben ist, eine Ewigkeit. Sein ganzes Leben hat er mit Asbest gearbeitet. Ohne Poppi hätten wir keinen Cent gesehen «, seufzte sie. »Wir sind beide verwitwet, ich und er.«
Er sah sie an.
»Sie haben doch bestimmt die zwei Namen auf dem Postfach des Avvocato gelesen. Daniele, er hieß Daniele. Sie waren zwanzig Jahre zusammen.« Sie nickte vor sich hin. »Mir bleibt mein Sohn, ihm das Haus. Deswegen kümmert er sich um alle, und besonders um meine Etage.« Sie machte eine Pause. »Vor allem jetzt.«
Aus dem Italienischen von Esther Hansen
© List
Die Pförtnerloge war ein sauberer Verschlag, ausgestattet mit einem Tisch aus Holzimitat und zwei Weidenstühlen. An der einen Wand hingen die Briefkästen, daneben kamen das Logenfenster, ein Regalbrett mit einem alten Radio und einem Telefon, an einer anderen Wand eine Tuschezeichnung des Mailänder Doms und ein leerer Nagel. Durch eine Falttür gelangte man in das winzige Appartement mit Schlafzimmer und Wohnküche. Die frühere Pförtnerin hatte vor ihrem Weggang alles gründlich gesäubert und eine fast neue Espressokanne sowie ein Paket Kaffee zurückgelassen, außerdem eine halb volle Flasche Olivenöl und ein Duschgel für empfindliche Haut. In der Schublade des Tisches lag ein Pappschild mit Saugnapf, auf dem »Bin gleich zurück« stand. Außerdem waren an der Schlafzimmerwand zehn Haken, an denen die Nachschlüssel zu sämtlichen Wohnungen hingen.
Pietro hatte sie noch kein Mal angerührt, seit er vor einem Monat die Hausmeisterstelle angetreten hatte. Erst an diesem Nachmittag ging er zu den Haken und nahm die Schlüssel der Familie Martini. Dottor Luca und seine Frau Viola holten gerade ihre Tochter vom Kindergarten ab. Er ließ die Schlüssel in die Tasche gleiten und kehrte in das fensterlose Bad zurück, wusch den alten Lumpen weiter aus, warf ihn in einen Plastikeimer mit Wasser und gab zwei Verschlusskappen Putzmittel dazu. Schwankend schleppte er seine Last in die Eingangshalle zur Treppe. Er wrang den Lappen aus und wischte die erste Stufe, kauerte sich nieder und erklomm rückwärts die Treppenstufen. Mit der Hand schrubbte er die Stufen, wobei er den Eimer hinter sich herzog. Im ersten Stock klappte er die Fußmatten der drei Wohnungen hoch, dann putzte er weiter bis in den zweiten Stock. Er hielt inne. Er begann bei der Wohnung von Avvocato Poppi. Auf der Fußmatte stand »Lasst alle Hoffnung fahren«. Er klappte sie hoch und wischte bis zur Martini-Wohnung. Er hob die Fußmatte hoch und schrubbte sorgfältig den Dreck vom Marmor, bis er sich darin spiegelte, die grauen Haare und das glatte Gesicht. Er stand auf, der Türgriff war voller Fingerabdrücke, die er mit einem Taschentuch abwischte. Als er es wieder einsteckte, berührte seine Handfläche den Schlüssel. Er zog ihn hervor, schob ihn ins Türschloss. Machte auf.
Mit geschlossenen Augen trat er ein. Nach ein paar Schritten öffnete er die Augen. Aus der Finsternis ragte ein baumförmiger Kleiderständer auf. An seinen Ästen hingen drei dunkle Mäntel und Saras Marienkäfer-Regenschirm. Das Parkett knarzte, auf dem einzigen Wandbord im Eingang standen ein Korb mit altem Nippes und zwei gerahmte Fotos. Das eine war ein Kinderbild von Dottor Martini. Der Junge posierte auf einer geparkten Vespa, als würde er fahren. Mit Schmollmund starrte er auf den Lenker. Der Hausmeister nahm das Bild, strich dem Jungen über den Kopf und über die Hand um den Gasgriff. Er hielt es sich näher an die Augen und strich noch einmal darüber, drückte fest zu, bis er zitterte. Er stellte es zurück und schaute in den Nippeskorb. Zuoberst lagen ein Tintenfass, ein froschförmiger Briefbeschwerer, eine Fahrradklingel. Er zog die Klingel hervor und fuhr mit dem Ärmel über das Gehäuse. Es war verrostet und der Hebel abgenutzt. Er drehte sie in der Hand, sie wog nicht viel. Mit der Klingel in der Hand ging er zurück und verließ die Martini-Wohnung.
»Pietro.«
Er fuhr herum. »Avvocato«, sagte er, hob den Putzlumpen auf und verbarg die Klingel darunter, das Wasser tropfte auf seine Füße. »Ich bin gerade mit Putzen fertig.«
»Bis in alle Ecken, wie ich sehe.« Mit einem trockenen Ploppen setzte Avvocato Poppi seinen Hut ab, der kahle Schädel glänzte. »Kibbuzer, wie die Juden sagen. Topfgucker. « Mit seinem Spazierstock bahnte er sich den Weg, eine Augenbraue hochgezogen.
»Ich bin gerade fertig.« Pietro warf den Lappen in den Eimer und errötete.
»Darf ich Ihnen etwas vorschlagen, mein Freund? Lassen Sie das Putzen sein, und begleiten Sie mich hinunter in die Bar an der Ecke. Ich lade Sie zu einem Cappuccino ein, den Sie nicht vergessen werden.«
»Ich habe noch zwei Stockwerke vor mir.«
»Glauben Sie mir«, sagte der Avvocato, öffnete seine Wohnungstür, nahm den Regenmantel von der Couch und schüttelte ihn aus, bevor er hineinschlüpfte. Er zeigte auf die Tür neben der Martini-Wohnung. »Unser guter Fernando will ein Liebesgeständnis ablegen. Es wäre unverzeihlich, sich das entgehen zu lassen.«
Der Portier wies stumm auf den Eimer.
»Ihr Pech, Kibbuzer«, meinte der Avvocato, zog sich zurück und ging die Treppe hinunter.
Pietro wartete, bis der Avvocato im Hof war, dann trat er zur letzten Tür auf dem Treppenabsatz. Hier wohnte Fernando, der sonderbare Junge im Haus. Er klappte den Fußabtreter hoch und kehrte dann - ohne sich weiter aufzuhalten - nach unten zurück. Er durchquerte die Loge und betrat das winzige Appartement. Vom Einzug stand noch alles kopf. Er hatte sich ein Bett besorgt und es unter dem kleinen Fenster postiert. Ein Mauervorsprung teilte die Küchenzeile ab, drei Hängeschränke und ein Tisch mit geblümter Plastikdecke, ein brummender Kühlschrank. Die Pflanzen standen aufgereiht in dem einzigen Winkel, in den Licht fiel, daneben türmten sich Taschen mit seinen Kleidern und das Fahrrad, ein dreißig Jahre altes Bianchi mit gerader Lenkstange, dem die Salzluft den Lack zerfressen hatte.
Er ging zum Waschbecken im Bad, fischte den Putzlappen aus dem Eimer und wrang ihn aus. Die Fahrradklingel war wie eine Eisenfaust, er trocknete sie sorgfältig ab, während er das Schlafzimmer betrat, ein kahles Zimmer mit Bullauge zum Innenhof. Er hängte den Schlüssel der Martinis an den Haken zurück. Darunter, im Halbschatten, standen eine Lampe und ein geöffneter Koffer voller Schachteln. Lange, schmale Schachteln, Schachteln mit abgewetzten Kanten. Aus einer zylinderförmigen nahm er einen Umschlag mit einer Emilio-Salgari-Briefmarke darauf, in dem sich ein Foto und ein Brief auf Reispapier befanden. Obwohl er ihn auswendig kannte, las er ihn, als sei es das erste Mal, und wie beim ersten Mal stockte ihm der Atem, bis er fertig war. Er legte ihn zusammen mit der Fahrradklingel an seinen Platz zurück und hielt, bevor er in die Bar ging, einen Moment inne, um sich zu erinnern.
Auch in jenem Jahr sah der junge Priester sie an einem Septembermorgen vorbeifahren, und auch in jenem Jahr starrte das Mädchen von ihrem Fahrrad mit dem Strohkorb am Lenker zu seinem Fenster hinauf. Sie klingelte, dring-dring. Sie trug ein Matrosenkleid und klingelte sorglos - so laut, dass sich vor der Kirche die Leute um drehten. Durch das Fenster erwiderte er ihren Blick und schloss die Augen, und als er sie wieder aufschlug, lag das Mädchen auf der Erde, über ihr das schwere Fahrrad, und schrie: »Ich habe sie getötet, ich habe sie nicht gesehen, ich habe die Katze getötet.«
Der junge Priester rannte auf die Straße, mischte sich unter das Volk um das Mädchen. Er drängte sich zu ihr vor. Sie hielt sich den Bauch, ohne von der getöteten Katze abzulassen.
»Das Tier gehört dem Priester, es ist tot«, sagte jemand.
»Haben Sie sich wehgetan, junge Frau?«, fragte ein anderer.
»Nur Hexen und die Strafe Gottes vermögen Katzen zu töten«, murmelte ein Dritter.
Die Hexe jammerte weiter. »Ich habe sie getötet, ich habe sie nicht gesehen, ich habe sie getötet.« Erst, als sie ihn sah, sein schwarzes Gewand, das zwischen den Leuten hindurchschimmerte, verstummte sie.
»Pater, ich habe sie getötet.«
Der junge Priester trat zu der Katze und berührte ihre kleine Schnauze. Dann hob er das Fahrrad auf und blieb wortlos stehen. Er betätigte die rostzerfressene Klingel, nur ein einziges Mal.
Kapitel 2
Die Bar lag auf der anderen Seite der gepflasterten Straße, durch die sich zwei Straßenbahngleise zogen. Es war eine kleine Bar, ein paar Dreißigerjahre-Tischchen mit verschiedenartigen Stühlen und dem Duft von Espresso in der Luft. An der Decke hingen samtbezogene Lampenschirme, die Wände waren mit kleinformatigen Filmplakaten aus alten Zeiten tapeziert. Der Avvocato saß zeitunglesend in einem blauen Sessel, hob den Blick und entdeckte den Hausmeister. Hinter dem Avvocato hing ein Schwarzweißposter mit Anita Ekberg im Trevi-Brunnen, und auf der anderen Seite saßen Fernando und seine Mutter, eine zierliche Frau, die nach Haarspray roch, ihre mageren Beine guckten unter einem Ballonrock hervor. Sie überkreuzte sie unruhig, als sie Pietro hereinkommen sah.
»So eine Überraschung!« Sie ging ihm entgegen, die Dauerwelle umrahmte ihr faltiges Gesicht. »Setz dich doch.« Sie wies auf einen Stuhl an ihrer Seite.
»Dann habe ich Sie also doch überredet, Pietro«, sagte der Avvocato, faltete seine Zeitung zusammen und räusperte sich. »Herzlich willkommen. Als Verwalter unseres Mietshauses darf ich Ihnen offiziell unseren Fernando und seine Mutter vorstellen, die zauberhafte Paola. Zweiter Stock, Kirschholztür, neben den Martinis.«
Fernando saß mit dem Rücken zu ihnen, eine Baskenmütze auf den Kopf gepresst und die Ellbogen wie fest genagelt auf dem Tisch mit der leeren Tasse. Er starrte die Frau mit den schwarzen Haaren hinter dem Tresen an. Pietro grüßte ihn, worauf der sonderbare Junge mit einem unterdrückten Stöhnen antwortete. Pietro hatte ihn zum ersten Mal am Tag seiner Ankunft gesehen, an die Röcke der Mutter geklammert und jammernd, ich will nicht zur Arbeit, ich will bei dir bleiben. Fernando trug ein wackliges Brillengestell auf der Nase und war zwanzig und achtzig Jahre zugleich.
»Fernando, so begrüß doch Pietro.« Die Mutter rüttelte an seiner Schulter, aber er schob ihre Hand weg.
»Er ist verliebt und schafft es nicht, es seiner Angebeteten zu sagen«, erklärte Avvocato Poppi und rieb sich die Hände. »Lieber Pietro, kann ich Ihnen einen Cappuccino mit einem Hauch Zimtpulver spendieren?«
»Ein Espresso reicht völlig.«
»Die Spezialität des Hauses hier ist Cappuccino mit Zimt. Alice macht ihn einfach einzigartig. Ich bitte Sie, probieren Sie einen.«
»Avvocato, so lassen Sie ihn doch.« Fernandos Mutter rückte ihre Perlenkette zurecht. »Fühlst du dich wohl bei uns, Pietro? Hast du dich schon eingelebt?«
Der Portier nickte, die Kellnerin kam auf sie zu. Sie hatte einen Pony und die obersten zwei Knöpfe ihrer Bluse standen offen. Sie lächelte Pietro an. »Was darf ich Ihnen bringen?«
Der Avvocato stupste ihn mit dem Ellbogen an.
»Einen Cappuccino«, sagte Pietro.
Fernando reckte den Hals. Er hatte ein breites Gesicht, seine bartlosen Wangen glühten.
»Ein Cappuccino, der Herr. Sonst nichts?«
»Doch«, erwiderte der Avvocato an Pietros Stelle. »Würden Sie für meinen Freund Pietro auf den Cappuccino ...«, er hob die Stimme, »... ein Herz aus Zimt malen, wie nur Sie es können, Alice?«
Paola drehte sich zu ihrem Sohn um. Fernando hatte sich hochgestemmt und hing in der Schwebe über dem Stuhl. Er murmelte etwas Unverständliches und sackte dann auf den Sitz zurück.
Die Mutter strich ihm zärtlich über das Gesicht. »Ich bring dich nach Hause, Fernandello, ja?«, flüsterte sie und streichelte ihn noch einmal. »Ich bring dich nach Hause.«
Der Avvocato verbarg ein Lachen hinter dem Taschentuch. »Er glaubt, das Zimtherz im Cappuccino-Schaum mache sie nur für ihn.«
Paola setzte sich wieder. »Das werden Sie mir büßen, Poppi. Sie sind so grausam.«
Der Avvocato zwinkerte ihr zu und stand auf. Er legte zwei Scheine unter das Tellerchen, küsste Fernando in den Nacken und ging hinaus.
»In seinem Innersten ist er eine gute Seele«, sagte Paola und drehte ihren Ehering. »Er war es auch ...«, ihre Stimme wurde zu einem Flüstern, »... der für uns die Entschädigung erstritten hat.«
Pietro runzelte die Stirn.
»Es ist jetzt schon fünf Jahre her, dass mein Gianfranco gestorben ist, eine Ewigkeit. Sein ganzes Leben hat er mit Asbest gearbeitet. Ohne Poppi hätten wir keinen Cent gesehen «, seufzte sie. »Wir sind beide verwitwet, ich und er.«
Er sah sie an.
»Sie haben doch bestimmt die zwei Namen auf dem Postfach des Avvocato gelesen. Daniele, er hieß Daniele. Sie waren zwanzig Jahre zusammen.« Sie nickte vor sich hin. »Mir bleibt mein Sohn, ihm das Haus. Deswegen kümmert er sich um alle, und besonders um meine Etage.« Sie machte eine Pause. »Vor allem jetzt.«
Aus dem Italienischen von Esther Hansen
© List
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Bibliographische Angaben
- Autor: Marco Missiroli
- 2013, 1. Auflage, 256 Seiten, Deutsch
- Übersetzer: Esther Hansen
- Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
- ISBN-10: 3843706050
- ISBN-13: 9783843706056
- Erscheinungsdatum: 11.11.2013
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- Dateiformat: ePub
- Größe: 2.45 MB
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